Gunnel Vallquist:
Bernhard Häring - ein loyaler SystemkritikerKeine Einzelperson hat mehr für die Erneuerung der katholischen Moraltheologie bedeutet als der Redemptoristenpater Bernhard Häring, und wenn man jemanden "loyalen Systemkritiker" nennen kann, so ist er es, schreibt Gunnel Vallquist in diesem Artikel. Sie nimmt sich Härings neuestes Buch vor, Meine Hoffnung für die Kirche, ein Buch im Kleinformat, doch es befaßt sich "so gut wie mit der ganzen Problematik", die heute das katholische Kirchenleben beunruhigt.
Nach dem zweiten Weltkrieg blühte die katholische Erneuerung auf, die während des 2. Vatikanischen Konzils Früchte tragen sollte. Hier finden wir viele große Namen: Rahner, de Lubac, Congar, Schillebeeckx. Zu ihnen gehört auch der Redemptoristenpater Bernhard Häring: Keine Einzelperson hat für die Erneuerung der katholischen Moraltheologie mehr bedeutet als er. Sein großes Werk Das Gesetz Gottes markierte einen entscheidenden Durchbruch. Im Gegensatz zu den üblichen Handbüchern mit Katalogen, welche die Sünden auf allen Gebieten genau bewerteten, mit einer statistischen Moral, bei der Verbot und Strafe im Vordergrund standen, verwies Häring auf das Evangelium zurück, auf das Gesetz Christi, wo die Liebe Richtlinie und Maßstab für alle menschlichen Handlungen ist.
Häring hat zahlreiche Bücher geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Er wurde in Rom zum Professor ernannt und war ein selbstverständlicher Experte beim Konzil. Er fiel jedoch in Ungnade, nachdem er seiner Reserviertheit gegenüber der Enzyklika Humanae vitae Ausdruck gab und betonte, daß Eheleute immer das Recht und die Pflicht haben, in letzter Instanz ihrem Gewissen zu folgen, wenn es um die Familienplanung ging. Er wurde von der Glaubenskongregation besonders rücksichtslos behandelt - er hatte gerade die Diagnose 'lebensgefährlicher Krebs' erhalten -, aber verblieb der loyale Sohn der Kirche, der er immer gewesen war.
Dies bedeutete auch, daß er weiterhin seine Meinung über die Probleme sagte, die in der Kirche unter dem derzeitigen Pontifikat aktuell waren. Trotz einer ungewöhnlichen "gerade-heraus" kritischen Haltung ist seine Grundeinstellung dennoch vertrauensvoll und unverbrüchlich treu gegenüber der großen theologischen Tradition - er legt an die Probleme, die er behandelt, immer eine historische Perspektive Sein Denken geht auch unablässig weiter, er bleibt nicht bei seinen einst so bahnbrechenden Standpunkten stehen. Vor allem gab das Konzil die Möglichkeit und Gelegenheit zu neuem Denken, aber auch zur späteren Entwicklung in der Welt und in der Kirche. Sein neuestes Buch, Meine Hoffnung für die Kirche, ist klein im Format, doch es befaßt sich so gut wie mit der ganzen Problematik, die heute das katholische Kirchenleben beunruhigt.
Häring zeigt, wie das Kirchenbild selbst die Moraltheologie und damit das Glaubensleben des einzelnen beeinflußt und bestimmt. Gegen ein Kirchenbild, wo Macht und Unterwerfung eine Hauptrolle spielen, setzt er das Verständnis des 2. Vatikanischen Konzils von der Kirche als Sakrament der Einheit und des Friedens als ein Modell - sichtbar für alle - für menschliche Gemeinschaft und Leben. So ist es immer gewesen: Jedesmal, wenn ein Schisma entstand, wurde der Machtaspekt verstärkt. In der Westkirche wurde der Beichtvater völlig einseitig als Richter betrachtet, dem man die Zahl und die Art der ernsten Sünden bekennen mußte. So wurde die Beichte das maßgebende Symbol für eine "richtende und kontrollierende Kirche". Dennoch gab es immer Moraltheologen, die den Mut hatten, sich an die ostkirchliche Sicht der Beichte als Sakrament der Wiederaufrichtung und Versöhnung anzuschließen.
Früher handelte die Morallehre fast ausschließlich vom Kampf des Einzelmenschen gegen das Heer der Sünden, das in Reih und Glied dastand. Nun und vor allem nach dem Konzil hat man die soziale Dimension der Sünde eingesehen, und die Ideale, die Vorrang haben müssen, sind Friede, Rechtfertigkeit, Verantwortung für die Gesellschaft, für die Menschheit und für die ganze Natur, Gottes Schöpfung, die durch menschlichen Raubbau geschändet und zerstört wird. Dies bedeutet nicht, daß die persönliche Moral weniger wichtig geworden ist, sondern daß die Perspektive weniger engstirnig ist.
Ein anderer Aspekt, der in Härings Theologie vermehrte Bedeutung erlangt hat, ist die Inkulturation: Schon früh fand er, daß sein großes Werk allzu "eurozentrisch" war, daß es keine genügenden Ausblicke auf andere Kulturbereiche gestattete. Wäre die frühe oder mittelalterliche Kirche ebenso zentralistisch und ebenso "legalistisch" gewesen wie die heutige, hätte das Christentum niemals in der keltischen oder germanischen Kultur Fuß fassen können, schreibt Häring. Die Kirche muß klar unterscheiden zwischen dem, was im Christentum zentral und was von sekundärer Bedeutung ist, und in ihrer Mission muß sie sich auf das Zentrale konzentrieren. Die Missionare müssen das Recht haben, Fehler zu begehen, aus diesem Fehlern zu lernen, und im Dialog miteinander und mit der übrigen Kirche nach und nach die richtigen Lösungen finden. Also: mehr Glaube an den Heiligen Geist und weniger autoritäres Niederknüppeln oder sogar tödliche Schläge.
Der zweite Teil des Buches, der fünfzig Seiten umfaßt, zielt auf die brennendsten Probleme der heutigen Kirche: den zentralistischen Machtapparat, die Stellung der Frau, den Priesterzölibat und die Situation der wiederverheirateten Geschiedenen. Häring konstatiert, daß die Zentralisierung der Macht, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, in der langen Geschichte der Kirche einzigartig ist. Dem starke Wunsch des Papstes nach Einheit, besonders mit der orthodoxen Kirche, wird durch diese Zentralisierung mehr als durch etwas anderes zuwidergearbeitet. Soweit es die theologischen Einheitsbestrebungen betrifft, betont Häring, daß die grundlegenden christlichen Glaubenswahrheiten nie die Ursache für eine Spaltung waren: Wenn Spaltungen entstanden sind, drehte es sich immer um Fragen, die man ohne weiteres hätte können offen stehen lassen, ohne deswegen die Verpflichtung gegenüber dem Evangelium zu vernachlässigen.
Betreffend die Frage der weiblichen Priester sagt Häring ohne Umschweife, daß die Kirche ihre Frauenfrage nicht bearbeitet hat und daß es höchste Zeit ist, daß sie es tut. Man hat bereits, hebt er hervor, durch Erfahrung in mehreren Weltteilen einen überwältigenden Beweis für die Fähigkeit der Frauen zur Seelsorge erhalten, in priesterlosen Gemeinden, in Krankenhäusern und in Gefängnissen. Es gibt keine theologischen Hindernisse dafür, daß Bischöfe solchen Frauen die Vollmacht geben können, das Sakrament der Versöhnung zu spenden. Das letzte entscheidende Hindernis scheint einzig und allein die Frage zu sein, "ob die Frau die Vollmacht erhalten kann, die Wandlungsworte zu sprechen und den Heiligen Geist über die Opfergaben herabzurufen. Aber es ist ja nicht der Priester, welcher 'verwandelt'. Er ruft den Heiligen Geist herab, der alleine die eucharistischen Gaben verwandeln kann. In welcher Beziehung steht die Frau dem Manne nach, wenn es darum geht, den Heiligen Geist herabzurufen?"
Ein eigenes, sehr ergreifendes Kapitel ist dem Priestermangel und der Krise des Priesterzölibates gewidmet. Häring, der selbst für sein Zölibatsgelübde dankbar ist, hat unzählige Bekenntnisse von Priestern entgegengenommen, die ihre Situation nicht beherrschen. Er hat mit ihnen zusammen gelitten und geweint und versucht, ihnen auf jede Weise zu helfen. Von Priestern, die mit einer Frau zusammenleben und um Dispensation von ihren Gelübden ansuchen, verlangt man nun, daß sie ein Jahr in Enthaltsamkeit leben. Häring hat persönlich viele solche Fälle verfolgt; von einer großen Anzahl gelang es nur einem einzigen, die Forderung zu erfüllen. Wie es jetzt ist, verbleiben viele Priester in ihrer Berufung, aber "leben heimlich in einem festen Verhältnis; der Unerbittlichkeit der Kirche gegenüber sind sie in ihrem Gewissen zur Überzeugung gekommen, daß es 'besser ist, zu heiraten, als zu brennen'." Diese Doppelmoral ist zerstörerisch sowohl für die Kirche als auch für den einzelnen. Es muß eine Veränderung geschehen, und da braucht man nur zur Praxis der früheren Kirche zurückgehen, die in den Ostkirchen ständig weiterlebt.
Zuletzt kommt Häring auch auf das Problem der wiederverheirateten Katholiken zu sprechen, für das er sich bei früheren Gelegenheiten zum Sprecher gemacht hat. Die Behandlung dieser Menschen durch die Kirche ist ein klares Zeichen dafür, wie man das Verhältnis zwischen Gesetz und Evangelium deutet. Auf der einen Seite muß man an den Grundsätzen festhalten, auf der anderen Seite muß man sich an das Wort Jesu erinnern, daß das Gesetz für die Menschen da ist und nicht umgekehrt: Es gilt, eine barmherzige Lösung zu finden. Mit anderen Worten: sich das Prinzip aneignen, das die orthodoxe Kirche "Ökonomie", die Katholiken "Epikie" nennen, eine Tugend, die der heilige Thomas von Aquin liebte, die aber selten außerhalb der Kreise von Fachtheologen erwähnt wird.
Diese Buch wird vielleicht einen Teil der Leser schockieren. Aber niemand kann bestreiten, daß Bernhard Häring ein Mann ist, der ein langes Leben als Lehrer in der Kirche der Aufgabe gewidmet hat, das "Gesetz Christi" zu verkünden und es lieben zu lehren, ein Mann, dessen tiefe Liebe zur Kirche und dessen Respekt vor der Kirche niemand bezweifeln kann. Ein Mann, der nach dem Beispiel. seines Meisters und zahlreicher Heiliger seinem Gewissen gefolgt ist und gerade heraus über Mißverhältnisse gesprochen hat, denen man abhelfen muß. Er ist, wenn irgendeiner, ein loyaler Systemkritiker.
Bernhard Häring:
Meine Hoffnung für die Kirche
Herder 1996.
Frau Prof. Gunnel Vallquist, Mitglied der Schwedischen Akademie, ist ständige Mitarbeiterin der Zeitschrift "St. Olav", einer norwegischen katholischen Zeitschrift für Religion und Kultur. Der vorliegende Beitrag erschien in norwegischer Sprache in der Nr. 6-7/1997 dieser Zeitschrift.
Übersetzung: Friedrich Griess