Charismatische Leitung
Chronik 07. Januar 2003
Von JES FABRICIUS MØLLER
Man benötigt keine Hierarchie, um Despot zu sein
Chronik
Fast zerbrechlich möchte ich ihn beim ersten Blick nennen. Er ist mager und groß mit einer leicht geneigten Haltung, fast gebeugt. Er sitzt mit dem Rücken zu uns, Angesicht zu Angesicht mit dem Richter, daher sehen wir Zuhörer ihn fast nur von hinten, die Hauptperson des Tages: Mogens Amdi Petersen. Man merkt, daß seine Ohren niedrig sitzen, etwas tiefer, wo der Kopf in den Hals übergeht. Gemeinsam mit dem dünnen lichten Haar macht er den Eindruck eines verbummelten Teenagers. Im Profil gibt es jedoch keinen Zweifel darüber, daß er ein geprüfter Mann ist, der dasitzt. Er war so viele Tage lang die Hauptperson.
An seiner rechten Seite steht der Ankläger, groß, mindestens ebenso mager und markant, aber etwas jünger. Amdi Petersen antwortet zögernd auf die Fragen. Offensichtlich sucht er nach den Antworten, aber nachdem man einen ganzen Tag zugehört hat, kann man feststellen, daß diese mit einer gewissen Systematik gegeben werden.
Er hat das Haus gefüllt. Außer den gewöhnlichen Zuhörer gibt es genügend Reporter, um die Stuhlreihen zu füllen. Sie kommen von den landesdeckenden und lokalen Zeitungen und Fernsehstationen. Sie kennen einander von früher, begrüßen einander und wechseln Informationen aus. Ritzau hat zwei geschickt, damit sie sich abwechselnd hinausstehlen und einen Lagebericht schicken können, ohne etwas Wesentliches zu versäumen. Die ersten kommen um 8 Uhr, um sicher einen Platz zu ergattern. Die Gerichtsverhandlung beginnt etwas nach 10 Uhr. Es gibt eine kleine Verzögerung, denn nicht bloß Amdi Petersen und sein Anwalt Anders Boelskifte, sondern auch die übrigen sieben Angeklagten im Verfahren und ihre Vertreter sollen Platz nehmen, bevor der Richter, ein unauffälliger Mann, die Verhandlungen einleitet.
Die Gerichtsverhandlung beginnt mit kurzen Sachverhaltsdarstellungen von Ankläger und Verteidiger. Die Untersuchungshaft der Hauptperson läuft am nächsten Tag aus, und die Verteidigung hofft, daß eine Beschleunigung des Verhörs durch den Ankläger den Richter davon überzeugen kann, daß man die Untersuchungshaft nicht aufrecht erhalten soll. Wenn der Angeklagte erst vor Gericht verhört wurde, kann selbst eine eventuelle Flucht das Fällen eines Urteils nicht verhindern.
Der Ankläger, Vizestaatsanwalt Poul Gade, hat einen Ordner mit unzähligen der Dokumente vervielfältigen lassen, welche die Polizei anläßlich der Razzia bei Tvind beschlagnahmt hat: Diese werden an alle anwesenden Anwälte verteilt. Nun folgen sie geschäftig den Hinweisen des Anklägers auf Seite 18, Seite 403, Seite 53 und wieder Seite 18. Die Dokumente sollen die wesentliche Behauptung des Anklägers untermauern, daß Amdi Petersen einen wesentlichen und entscheidenden Einfluß auf die Beschlüsse hatte, die bezüglich Tvinds gemeinnützigem Fonds getroffen wurden. Die Zuhörer kennen den Inhalt nur vom schnellen Vorlesen jener Passagen durch den Ankläger, die er für das Verfahren für relevant hält. Es sind Briefe von Amdi Petersen und Kirsten Larsen, die Anweisungen dafür geben, wie die Tätigkeiten der Lehrergruppe sich entwickeln sollen. Sie unterschreiben gemeinsam mit »Klap«, einer Kombination ihrer Initialen. Wenn auch ein k+k davorsteht, dann bedeutet es »kærligst og kammeratligt« [etwa: »herzlichst und kameradschaftlich«].
Amdi Petersens Strategie für seine Antworten ist, die Briefe zu bagatellisieren. Er berichtet, daß sie in Wirklichkeit etwas anderes bedeuten, als sie es für den gewöhnlichen Leser zu sein scheinen. Eine Brief, der eine Zurechtweisung ist, sei ebenso sehr ein Liebesbrief wie eine Ermahnungsschreiben, berichtet er. Er sagt, die Briefe seien das Ergebnis eines länger dauernden Entscheidungsprozesses, in den weit mehr Personen, ja große Treffen, involviert waren. Es seien bloß Berichte über die kollektiven Beschlüsse. Er selbst sei nicht etwas viel anderes als ein Konsulent und überhaupt kein oberster Leiter. Er vergleicht die Lehrergruppe mit einer Ehe, in der keiner über den anderen bestimmt. Der Ankläger ist nicht geistesgegenwärtig genug, zu fragen, ob es in dieser Ehe auch Kinder gebe und ein wie großes Selbstbestimmungsrecht diese hätten.
Es liegt dem Ankläger sehr daran, zu demonstrieren, daß Tvinds scheinbare flache Struktur eine beinharte Hierarchie verdeckt, einen Konzern mit einer Konzernleitung und einigen Vizepräsidenten. Amdi Petersen kokettiert in seiner Antwort damit, er würde sich wünschen, daß es so wäre, denn er hätte viele Vorschläge, um die Struktur effektiver zu machen: Leider, sagt er, hören die nicht auf mich.
Es ist schwierig zu beurteilen, ob Amdi selbst an das glaubt, was er sagt. Er ist dafür bekannt, daß er fließend Unwahrheiten sagt. Gade glaubt ihm auf jeden Fall nicht. Die Frage ist, ob Gades Vorstellung von Amdi Petersens Rolle richtig ist. Er hat ein Bild von Amdi Petersen als einem klassischen Unternehmensleiter, der mit seiner Handvoll von Unterdirektoren ein multinationales Unternehmen führt. Das ist vermutlich ein Mißverständnis. Amdi Petersen ist fast ein Schulbeispiel für das, was der deutsche Psychologe Max Weber einen charismatischen Leiter nannte, d.h. einen Leiter, dessen Autorität eher auf dem Vertrauen der Untergebenen zu seinen persönlichen Eigenschaften beruht als auf seiner formalen Stellung im System.
Man benötigt nämlich keine Hierarchie, um autoritär zu sein. Tatsächlich ist eine Hierarchie oft so bürokratisch, daß die Regeln vor der Willkür schützen, die dem autoritären Herzen so nahe liegt. Wenn es zu viele Regeln gibt, wird das System zu vorhersehbar und dann gibt es keinen Platz für den großen Individualisten an der Spitze.
Willkür und Unvorhersehbarkeit sind zwei von Amdi Petersens wesentlichsten Steuerungsmitteln. Niemand weiß, wo und wann sie ihn haben. Er kann irgendwann in irgendeiner Stimmung auftauchen. An einem Tag teilt er Lob aus und am nächsten Tag Hiebe - ohne daß der Geschlagene oder der Gelobte nähere Ursachen für seine Stimmungsschwankungen ergründen kann. Die Unsicherheit gebiert Furcht, und Furcht ist der beste Nährboden für Despoten. In ihm fühlen sie sich wohl.
Aber selbst Diktatoren benötigen Popularität, und das gilt selbst für den charismatischen Führer. Für den ist der Personenkult eine Art Narkotikum. Er kann ohne diesen nicht leben. Darum geht es ihm am besten, wenn er auf dieselbe Weise geliebt wird, wie Kinder ihre Eltern lieben - loyal und bedingungslos, völlig unabhängig von der Behandlung, die sie den Kindern angedeihen lassen.
Der Wille eienms Diktators äußerst sich nicht so sehr in Diktaten als im Bestreben der Anhänger, die ersten zu sein, die seinen letzten Wunsch erraten. Das ist und bleibt ein Ratespiel, denn der Geschmack von Diktatoren läßt sich nicht in eine Formel bringen. Einige gewinnen in diesem Lotteriespiel, aber eines schönen Tages verlieren auch sie, weil sie nachlässig glaubten, das Leibgericht des Meisters sei heute dasselbe wie gestern. Der Drang, ihn zufriedenzustellen, bleibt jedoch bei den meisten unvermindert, und deshalb kann er im Prinzip in der Lüge leben, er sei nur einer unter Gleichen, die ihm ebenso wohlwollend seien wie er ihnen. Wie gesagt: Es ist schwer zu sagen, ob Amdi Petersen selbst glaubt, was er sagt.
Tvind ist die Geschichte von ständigen Umstrukturierungen, Degradierungen und Beförderungen. Nur ein ganz kleiner Kern von Leuten verbleibt im Zentrum. Der Rest wandert von Gunst zu Mißgunst und wieder zurück, ohne immer zu verstehen, warum. Dieser Mangel an Fähigkeit, die Dinge zu durchschauen, verleitete sie zu der Schlußfolgerung, es sei wahrscheinlich ihre eigene Schuld gewesen und nun müßten sie sich desto mehr anstrengen, um die Ursachen ihres Fehltritts zu verstehen, so daß sie diese in Zukunft vermeiden können. Einige haben das Gaukelspiel durchschaut und sind gegangen, aber neue Mitglieder haben ihre Plätze aufgefüllt.
Die Zeit muß zeigen, ob der Ankläger Asse genug im Ärmel hat, um seinen Gegner zu übertölpeln. Vorläufig hat er eine Menge Papier, welches beweist, daß Amdi Petersen und Kirsten Larsen eine Einstellung zur Tvinds Entwicklung hatten. Es gelingt dem Ankläger jedoch nicht, zu zeigen, daß sie reale Beschlußkompetenz hatten, d.h. zu zeigen, daß ihre Beschlüsse in Wirklichkeit auch ausgeführt wurden. Das wird schwierig, denn die Lehrergruppe, in der alle wesentlichen Beschlüsse gefaßt werden, ist überhaupt keine juristische Person. Es ist bloß eine kameradschaftliche und liebe Gemeinschaft - auf dem Papier, wohlgemerkt. D.h. es gibt eben keine Papiere. Deshalb kann man bei ihr auch keine juristische Verantwortung festmachen. Es ist die Aufgabe des Anklägers, zu beweisen, daß er es kann, denn sonst kann er Amdi Petersen nicht fassen. Er ist kein normaler Unternehmensleiter, ebenso wenig wie Tvind ein normales Unternehmen ist. Es hilft nichts, Tvind zu etwas anderem machen zu wollen als das, was es ist.
Das Verhör von Amdi Petersen konnte nicht vor Weihnachten abgeschlossen werden. Es wird heute fortgesetzt.
Jes Fabricius Møller ist Historiker
Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Verfassers