The Tablet, 30.10.1999:
Meine Träume für die Kirche
Ein Interview mit Kardinal Martini
Kardinal Martini, Jesuit und Erzbischof von Mailand, erläuterte den in Rom zur jüngsten Synode für Europa versammelten Bischöfen drei Träume. In einem Interview mit dem Herausgeber und dem römischen Korrespondenten von The Tablet entwickelte er seine Vision für die Neuevangelisierung, die Pfarre und die Bewegungen sowie für das Bischofskollegium.
Kardinal Martini ist 72, und er denkt weiterhin. Von allen Ansprachen der Bischöfe während der zweiten Synode für Europa, die gerade in Rom zu Ende ging, zog keine die Aufmerksamkeit der Medien so auf sich wie die seine. Er begann sie mit einer Huldigung an den verstorbenen Kardinal Hume, mit dem er eng befreundet war. Dann sagte er, wie es Kardinal Hume in einer früheren Synodenansprache getan hatte, er habe geträumt; seine Träume betrafen, wie die von Kardinal Hume, Wegmarken für die Zukunft. Es waren drei Träume, und in seinem Interview mit The Tablet sagte er mehr über jeden von ihnen. Er spricht fließend Englisch, mit deutlicher Aussprache und einem starken Akzent, aber wechselt zu Italienisch, wenn seine Gedanken komplex werden, um sich leichter ausdrücken zu können.
In seiner Kathedrale in Mailand hat der Kardinal Themen von biblischer Spiritualität vor dichtgedrängten Versammlungen oft junger Leute entwickelt. Sein erster Synodentraum betraf die Bibel, daß sie das "Buch der Zukunft für den europäischen Kontinent besonders für die Jungen" werden sollte. "Die Bibel ist das Buch, aus dem wir als Christen geboren sind", sagte er uns. "Sie ist vom literarischen Gesichtspunkt aus ein schönes Werk. Sie spricht das moderne Bewußtsein an, denn sie spricht durch Geschichten und Erzählungen. Sie hat daher alle Eigenschaften, um die heutigen Menschen anzusprechen."
Wie, meint er, verhält sich die Bibel zum Katechismus?
"Normalerweise ziehe ich es vor, mit der Schrift zu beginnen, aber ich weiß, daß der Katechismus notwendig ist, weil das Neue Testament selbst oft versucht, eine organische Synthese seiner Botschaft zu geben. Diese Bemühung um eine Synthese wurde nach und nach im Katechismus verdichtet. Aber ich würde mich nicht der Formel anvertrauen, der Katechismus sei das Instrument für die Neuevangelisierung. Dieses Instrument ist die Bibel."
Eine biblische Spiritualität ermöglicht es Christen auch, die ökumenischen Brücken zu überqueren. "Wir haben in der Bibel ein sehr weites Gebiet des Verstehens mit den Kirchen der Reformation gefunden", bestätigt er. Für den Dialog mit den Kirchen des östlichen Ritus empfiehlt der Kardinal jedoch einen anderen Zugang, nämlich den durch die Kirchenväter und die Liturgie. "In diesen Tagen der Synode sagte ein Bischof aus einer griechisch-katholischen Kirche in Osteuropa: 'Wir geben euch die Ikonen und ihr gebt uns die lectio divina [göttliche Lesung]'. Wir können den östlichen Kirchen mit einer Spiritualität helfen, die von einem betenden Lesen der Schriften ausgeht, und sie geben uns die Ikonen, durch die wir das Mysterium meditieren."
Er wende sich also an die Bibel, sagt er, weil er die Situation der Christen heute als ein Spiegelbild jener Gemeinden sehe, deren Geschichte im Neuen Testament erzählt wird. Praktizierende Christen seien heute eine Minderheit in der Gesellschaft wie in den frühen Jahrhunderten. Wie sie, erklärt er, "stehen wir einer indifferenten und teilweise feindlichen Welt gegenüber. Dies klärt unsere Sprache. Wir müssen unsere Vorschläge klar und überzeugend machen. Jede unserer Interventionen muß begründet sein. Die einzige Macht, die wir nun haben, ist er Heilige Geist."
Er betont, daß "der ganze Prozeß der Modernität das Festhalten am Christentum zu einer freien persönlichen Entscheidung macht." Wie beurteilt er also moderne pluralistische Gesellschaften, die nicht mehr auf einem einzigen ideologischen oder religiösen Fundament begründet sind? Sind sie durch Relativismus geschwächt oder durch absoluten Respekt vor dem Nachbarn gestärkt? Wie beurteilt sie Kardinal Martini?
Er unterbricht, höflich, aber seine Worte haben Gewicht. "Diese Gesellschaften sind sehr zweideutig, Sicher enthalten sie viele Werte: Achtung vor der Person, Toleranz, Sinn für Freiheit. Aber sie haben Schwierigkeiten, die Treue zu bewahren, die eheliche Verpflichtung durchzuhalten, und oft sind sie bezüglich der großen absoluten Werte verwirrt. So gibt es also zwei Seiten. Aber es ist nicht meine Sache, die Gesellschaft als ganze zu beurteilen; wir müssen uns den Leuten Angesicht zu Angesicht stellen, um eine gemeinsame Basis zu finden, über die wir nachdenken können."
Es gibt eine gemeinsame Basis mit Ungläubigen bezüglich der Menschenrechte, setzt er fort, und in der Schönheit der christlichen Kunst, Architektur und Musik, aber vor allem in der Suche nach dem Sinn. "Als Bischof organisiere ich Treffen mit Nichtglaubenden und lasse sie über ihre Suche sprechen. Leute, die nicht in die Kirche gehen oder ihre religiöse Praxis aufgegeben haben, teilen diese Suche nach Sinn. Sie wollen ihrem Leben einen Sinn geben und entdecken den Grund der moralischen Werte, an welche sie in gewisser Weise glauben. Als Christen sollten wir ihnen nicht in abstrakter Weise begegnen - als Gesellschaft, wie sie von Soziologen beschrieben wird -, sondern als Personen, die mit vielen Bedürfnissen, Hoffnungen und Erwartungen, aber auch mit Skepsis in dieser Gesellschaft leben. In diesem Sinn müssen wir eine gemeinsame Basis finden."
Sein zweiter Synodentraum betraf die Pfarre, daß sie ein Zeichen der Gemeinschaft und der Hoffnung für die Welt werden sollte, indem sie eine glaubwürdige Alternative zu einer zerteilten Gesellschaft und Ethik bietet. Aber um das zu erreichen, fügte er in der Synodenansprache hinzu, müßten die neuen katholischen Bewegungen und Gemeinschaften in die Hauptlinie der Kirche integriert werden. Es ist wohlbekannt, daß Kardinal Martini immer Bedenken bezüglich dieser Bewegungen hatte und daß in seiner eigenen Diözese die Beziehungen zu Comunione e Liberazione, die in Mailand entstand, oft gespannt waren. Meint er wirklich, daß sein Vorschlag der Integration praktisch ist? Die vielen Unterstützer der Bewegungen erwarten, daß diese als unabhängige Gruppen weiterbestehen, gerade so wie die religiösen Orden.
Er erklärt: "Paradoxerweise sind die Bewegungen eigentlich entstanden, um wieder zu verschwinden. Sie müssen die Werte, die sie darbieten, in das Zentrum der Kirche bringen; hernach ist ihre Arbeit zu einem gewissen Teil erledigt. Es ist so wie mit den liturgischen und biblischen Bewegungen vor 50 Jahren: sie sind heute nicht kräftig, weil die Kirche ihre Werte in sich aufgenommen hat und diese Besitz von jedermann geworden sind."
In den Bewegungen sieht er "einen Sauerteig von Ideen und Versuchen, die keine bestimmte Form haben. An einem bestimmten Punkt teilt sich das in zwei Teile: ein Teil wird von der Kirche assimiliert und der andere Teil wird sich als Gesellschaft, als religiöser Orden konstituieren und als kanonische Wirklichkeit, die wohldefiniert sein soll, um keine Verwirrung auszulösen, in der Kirche weiterbestehen". Er vergleicht diesen Übergang mit dem der ursprünglichen franziskanischen Bewegung, "zuerst ein großes Aufblühen von Ideen bezüglich Armut und einfachem Leben,", das "auch zu einer Anzahl religiöser Orden mit einer genauen kanonischen Form" geführt hat. Er überlegt: "Wir brauchen sowohl das eine als auch das andere. Im Augenblick befinden wir uns in einer Übergangszeit, daher ist es ein sehr schwieriger Moment."
Aber gerade dann, wenn Bewegungen in einer Pfarre an die Arbeit gehen, wie der Kardinal es vorschlägt, kann die Reibung am größten werden. Das Neo-Katechumenat ist die einzige Bewegung, die sich üblicherweise in Pfarren niederläßt - und in England verursachte sie in einer Diözese eine solche Spaltung, daß der betroffene Bischof ihr verbot, irgendwelche neuen Initiativen zu ergreifen.
Der Kardinal zollt dem Neo-Katechumenat Anerkennung. "Ich bewundere es sehr". Er beschreibt den "Weg", auf welchem es seine Anhänger trainiert, als "Schatz" zu gehen, obwohl er glaubt, die Schritte dieses Weges seien "vielleicht etwas zu rigoros". Dieses Training geht jahrelang weiter - zu lang, meint er. "Ich sage dem Neo-Katechumenat: ihr sollt die afrikanischen Missionen nachahmen, deren Katechumenat zwei oder drei Jahre dauert und die dann die Katechumenen in die Pfarren senden."
Die Osternachtfeier sei ein besonderer Brennpunkt von Konflikten, meinen wir. Besonders wenn der Pfarrer selbst Mitglied des Neo-Katechumenats ist, dann gibt es regelmäßig zwei Messen: eine für die Allgemeinheit der Pfarrangehörigen, und dann eine für das Neo-Katechumenat, die bis zum Morgengrauen dauert und mit der Feier des Osterlammes endet. Was denkt er über diese doppelte Feier? "Ich wäre bereit, es hinzunehmen, daß die Gruppe des Neo-Katechumenats während zwei oder drei Jahren ihre eigene Osternachtfeier abhält", antwortet er. "Dann kann die Pfarre von ihnen lernen und die Feier lebendiger gestalten. Aber hernach sollte sich das Neo-Katechumenat mit der Pfarre vereinigen. Ich akzeptiere nicht, daß sie ihre spezielle Liturgie für viele Jahre weiterpflegen."
Der letzte Traum von Kardinal Martini in seiner Synodenansprache wurde weithin als ein Aufruf zu einem neuen Konzil der Kirche interpretiert, obwohl er dies nicht so ausdrücklich sagte. Er zählte für die Bischöfe in der Synodenaula eine Anzahl von "schwierigen Problemen" auf, betreffend die Lehre und die Disziplin, die sich in den 40 Jahren seit der Abhaltung des Zweiten Vatikanischen Konzils entwickelt hatten: die Vertiefung und Entwicklung der Lehre des Konzils über die Kirche als Gemeinschaft; der Mangel an geweihten Amtsträgern; die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft. die Teilnahme der Laien an der Verantwortung; Sexualität; Disziplin der Ehe; Bußpraxis; Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen und die Notwendigkeit, ökumenische Hoffnungen wieder zu beleben; die Beziehung zwischen Demokratie und Werten und zwischen staatlichen und moralischen Gesetzen (siehe The Tablet, 16. Oktober, S. 1409). Diesen Herausforderungen, sagte er der Synode, könnte nicht "durch soziologische Untersuchungen, Unterschriftensammlungen oder Pressuregroups entsprochen werden, und vielleicht nicht einmal durch eine Synode." Er nimmt die Benützung eines "universaleren und mächtigeren Instrumentes" in Aussicht, um diese Herausforderungen "in voller Ausübung bischöflicher Kollegialiät" anzugehen. Es gab Applaus in der Synodenaula, als er endete.
Er bestätigt uns in seinem Tablet - Interview, daß er erwarte, die Kirche werde im dritten Jahrtausend die Praxis der ersten Jahrhunderte wieder beleben, periodisch größere Versammlungen abzuhalten. "Diese könnten ein Konzil sein" sagte er zu uns, "oder sie könnten eine erweiterte Bischofsynode sein. Ich denke nicht an neue Strukturen:"
Er nahm einen Satz auf, den er in der Synode benützt hatte, um über die Kirche von heute zu sprechen. Sie "wurde auch in ihren Sprachen noch verschiedener", hatte er den Bischöfen gesagt. Er entwickelte nun seine Gedanken, um zu erklären, warum dies Versammlungen der ganzen Kirche erfordere.
Er war gerade in Taiwan gewesen und war durch die verschiedene Art beeindruckt, wie Leute sich hier ausdrückten und über den Glauben sprachen. "Denkt an die Kirchen, die in China wachsen. Sie haben eine Art zu denken, die von der europäischen Denkweise weit entfernt ist, und wir müssen ihnen zuhören, damit wir Gelegenheit haben, uns auszutauschen."
"Theologie begann im zwölften Jahrhundert als ein Ausdruck intelligenten Nachdenkens über religiöse Erfahrungen, beeinflußt durch aristotelische Mentalität. Es ist klar, daß diese nicht mit der chinesischen, japanischen oder indonesischen Mentalität identisch ist, die auf einem anderen Hintergrund arbeitet. Wie der Papst vielmals auf seinen Reisen sagte, müssen wir die Leute in Asien und anderswo ermutigen, ihren Reichtum religiöser Erfahrung in ihren eigenen Begriffen auszudrücken. Aber wir müssen auch die Sprachen vergleichen, denn wir müssen zu einem gemeinsamen Verständnis gelangen. Manchmal mögen die Worte gleich sein, manchmal verschieden, aber das Wichtigste ist, zu wissen, daß wir dasselbe sagen, sonst würde die Kirche zerteilt."
Der Vergleich der Sprachen geschehe bereits auf den Synoden, könne aber nur teilweise stattfinden, streicht er heraus, denn ihre Repräsentation ist nicht weit genug. "Von 260 italienischen Bischöfen haben acht an der zweiten europäischen Synode teilgenommen. Daher können in diesen Versammlungen nur einige wenige Bischöfe diesen Vergleich vornehmen. Im dritten Jahrtausend müssen wir daher unsere Tradition der Kollegialität aller Bischöfe entwickeln. In meiner Ansprache blickte ich nach vorne, ich stellte keine Forderungen für den gegenwärtigen Augenblick auf." Was vielleicht auch gut ist. Viele Leute fühlen, daß die Bedingungen für irgend eine Art von Konzil jetzt einfach noch nicht gegeben sind. Aber Martini ist ein Mann von christlicher Hoffnung, und dies ist die Bemerkung, mit der er endet, sich auf die Geschichte der Jünger auf der Straße nach Emmaus beziehend, die die "biblische Ikone" der Synode war.
"Hoffnung ist eine Gabe des Geistes", sagt er, "die unsere Herzen mit der Freude und dem Optimismus füllt, die von oben kommen. Die beiden Jünger auf der Straße nach Emmaus hatten die Hoffnung verloren. Sie gewannen sie nicht dadurch wieder, daß ihnen gesagt wurde, "Ihr müßt Hoffnung haben", sondern daß ihnen die Schrift erklärt wurde. Sie begannen zu verstehen, daß es in dem, was geschehen war, einen Sinn gab, eine Öffnung, einen Ruf: daß das, was sie für ein Versagen gehalten hatten, in Wirklichkeit ein Sieg war. Und das ist die Gabe der Hoffnung: fähig zu sein, in den Dingen die Pläne Gottes geoffenbart zu sehen".
Übersetzung: Friedrich Griess