Gründe der Kirchenkrise
Manche meinen, die Schuld für die heutige Kirchenkrise liege darin, daß das 2. Vatikanische Konzil zu übereilt Reformen beschlossen habe. Andere wieder sind der Auffassung, diese Reformen seien zu wenig weit gegangen und hätten mit dem Zeitgeist nicht Schritt gehalten.
Es wird auch oft behauptet, die Kirchenkrise sei eine Krise des Glaubens und der Verkündigung. Ich glaube eher, es ist eine Krise des Miteinander-Umgehens. Über die ersten Christen sagte man: "Seht, wie sie einander lieben". Heute kann man nur mehr sagen: "Seht, wie sie untereinander streiten". Eine Kirche, die uneins ist, ist nicht attraktiv und nicht glaubwürdig; da kann sie verkünden soviel sie will. Das gilt für die Ökumene ebenso wie für die Uneinigkeit innerhalb der katholischen Kirche selbst.
Ist nicht vielleicht ein Grund für die Kirchenkrise der, daß die Kirche von der Vorstellung Jesu Christi, wie seine Jünger miteinander umgehen sollten, in vieler Hinsicht abgewichen ist oder sich zumindest arger Schwerpunktsverschiebungen schuldig gemacht hat? Jesus hat nicht viele organisatorische Anordnungen getroffen und die praktische Ausführung seiner Auftrages weitgehend seinen Jüngern überlassen. Durch sein Wort und sein Beispiel hat er jedoch einige Schwerpunkte gesetzt, und gerade diesen wird in der Kirche heute sträflich zuwidergehandelt.
Jesus warnte davor, daß in seiner Kirche Macht ausgeübt wird. "Ihr wißt, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein ..." (Mt 20, 25). "Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr aber alle seid Geschwister. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen, denn nur einer ist euer Lehrer, Christus....." (Mt 23, 8-10). Mutet es da nicht seltsam an, daß einer sich sogar "Heiliger Vater" nennen läßt, ein Titel, der in der ursprünglichen Liturgie Gott allein zustand? Ein anderer, den seine Anhänger "Il Padre" nennen, und die von ihm gegründete Bewegung werden heute von den "Hierarchen" überaus hoch geschätzt. Überhaupt werden Gruppen, die auf Machtausübung großen Wert legen und dadurch bei Kritikern in "Sektenverdacht" geraten, neuerdings besonders bevorzugt. Das Argument, dann wäre nach Meinung der Kritiker auch Franz von Assisi als "Sektierer" zu bezeichnen, trifft nicht. Der hl. Franz hat niemals die Meinung vertreten, Menschen, die sich nicht seiner Bewegung anschlössen, wären ewig verloren - wie man es z.B. im Neo-Katechumenat zu hören bekommt - oder die Meinung, in einigen Jahrzehnten würde die Kirche nur mehr aus den eigenen Anhängern bestehen - wie es Opus-Dei-Mitglieder schon mal gerne formulieren. Er war auch niemals "der Vater Franz", sondern immer "der Bruder Franz".
Jesus kümmerte sich bei der Wahl seiner Jünger nicht darum, ob sie verheiratet waren oder nicht. Im Gegenteil: gerade der "Fels" Petrus, auf den er seine Kirche baute (Mt 16,28), war bekanntlich verheiratet, denn er hatte eine Schwiegermutter (Mt 8,14). Der romantischen Vorstellung, die Jünger hätten sofort ihre Familien im Stich gelassen, ist entgegenzuhalten, daß sie. auch nach Jesu Auferstehung "nach Hause gingen" (Joh. 20, 10) und auch offenbar weiterhin ihren Beruf ausübten (Joh 21, 3). Der Apostel Paulus schreibt : "Haben wir nicht das Recht, eine gläubige Frau mitzunehmen wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn und wie Kephas?" (1 Kor 9, 5), und über den Bischof: "Er soll ein guter Familienvater sein und seine Kinder zu Gehorsam und allem Anstand erziehen. Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?" (1 Tim 3, 4-5; ähnlich in Tit 1, 6). Ja, er bezeichnet sogar jene, welche die Ehe verbieten, als "betrügerische Geister" und ihre Lehre als jene "von Dämonen ..... getäuscht von heuchlerischen Lügnern, deren Gewissen gebrandmarkt ist." (1 Tim 4, 1-3). Das Wort, daß es Ehelose um des Himmelreiches willen geben wird (Mt. 19, 12), ist nicht in besonderer Weise an die Amtsträger gerichtet.
Macht ist eine typisch männliche Domäne. Es ist wohl kein Zufall, daß die Frauen in doppelter Weise von der Mitwirkung in der Kirche ausgeschlossen sind: sie dürfen kein Amt bekleiden, und Männer, die mit Frauen verheiratet sind, nur untergeordnete Ämter. Jesus hingegen hat die Frauen gegenüber der Gesellschaft seiner Zeit aufgewertet. "Sie (die Jünger) wunderten sich, daß er mit einer Frau sprach" (Joh 4, 27). Auch die Szene mit der Ehebrecherin (Joh 8) und der Sünderin (Lk 7, 36-50) zeigen den Unterschied zwischen dem damals gängigen Verhalten zu den Frauen und dem Verhalten Jesu.. Ja, der Herr ließ sich von der kananäischen bzw. der syrophönizischen Frau bezüglich seines Vorhaben, sich nur um die Kinder Israels zu kümmern, sogar umstimmen: "Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen" (Mt. 15. 21-28; Mk 7, 24-30). Konsequenterweise waren die Frauen in der frühen Kirche auch gleichberechtigt: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle 'einer' in Christus Jesus" (Gal 3, 28). Heute aber wertet die Kirche die Frauen gegenüber der Einstellung der Gesellschaft ab, und wenn die bisher von der Kirche benützten Argumente hierfür - etwa die angebliche biologische Unterlegenheit - von den Profanwissenschaften widerlegt werden, dann erfindet sie neue. Die "immerwährende Tradition der Kirche" hat gerade in diesem Punkt erhebliche Schönheitsfehler. Ich gebe aber gerne zu, daß wir gegenüber der Situation, wo Frauen nicht in Kirchenchören singen durften und man statt ihrer kastrierte Knaben einsetzte, schon Fortschritte gemacht haben.
Vielleicht muß sich aber die Amtsaufassung überhaupt ändern, um die Einbeziehung von verheirateten Frauen und Männern zu ermöglichen. Von der urspünglichen Bedeutung des Wortes "Priester", presbuteros, sind wir heute weit entfernt. Ich will nicht leugnen, daß es immer noch viele gute Priester gibt, aber sind die meisten wirklich solche, die als "Älteste" mit Lebenserfahrung anderen zur Seite stehen können? Andererseits würde ich gerne manche im Dienst der Kirche ergraute und wegen selbständigen Denkens in Ungnade gefallene Theologen zu diesen "Ältesten" zählen: Hans Küng, Georg Denzler und Eugen Biser, ebenso die leider schon verstorbenen Karl Rahner, Bernhard Häring, Heinrich Fries und Herbert Haag, um nur einige zu nennen. Auch manche emeritierte Bischöfe wie Kardinal Franz König und Bischof Reinhold Stecher haben sich zu den gegenwärtigen Kirchenstrukturen kritisch geäußert.
Jesus kümmerte sich ohne Vorbedingungen um die Ausgegrenzten und Gescheiterten. "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten" (Mt 9, 12; ähnlich Mk 2, 17). In Joh 4 wird berichtet, wie er am Jakobsbrunnen mit der Samariterin, die ja wahrlich kein Muster an Tugend war, ein langes Gespräch führte. In Lk 15 rechtfertigte er vor den Pharisäern seinen Umgang und seine Tischgemeinschaft mit Sündern. In Mt 9 und Mk 2 hören wir, wie er mit Zöllnern und Sündern zu Tische saß. Die Kirche schloß bisher die wiederverheirateten Geschiedenen, die ohne Zweifel zu diesen "Kranken" zu zählen sind, von der eucharistischen Tischgemeinschaft aus. Allerdings forderte Papst Johannes Paul II in seiner jährlichen Ansprache an die Mitglieder der "Rota romana" diese auf, mit "intelligenter Aufmerksamkeit den Fortschritt der Humanwissenschaften" zu studieren und sagte, daß "rein formelle Normen nicht verhindern dürfen, daß solche Situationen auf barmherzige und gerechte Weise gelöst werden". Auch Kardinal Schönborn sagte am 21. Oktober 1998 bei einer Diskussion in Klosterneuburg: "Ich kenne Fälle, wo es unverantwortlich wäre, die Betreffenden von den Sakramenten auszuschließen:" Ein Hoffnungsschimmer?
Jesus betete zum Vater um die Einheit seiner Kirche: "Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sei eins sind wie wir" (Joh 17, 11). Und Paulus beschwört oftmals die Einheit "... seid ganz eines Sinnes und einer Meinung... Ist denn Christus zerteilt? (1 Kor 1, 10-17) und: "Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller der über allem und durch alles und in allem ist" (Eph 4, 4-6) oder: "...daß ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, daß ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut" (Phil 2, 2-3). Welch ein trauriges Bild der Zersplitterung bietet hingegen noch immer die Christenheit, trotz aller Bemühungen der ökumenischen Bewegung. Die Instanz, die zur Wahrung der Einheit errichtet wurde, das Petrusamt, ist heute das größte Hindernis für sie. Großartige Erklärungen wie in "Ut unum sint" helfen nicht, wenn ihnen in der Praxis zuwidergehandelt wird.
Einheit wird oft mit Uniformität verwechselt. Man spricht zwar jetzt wieder mehr von "Inkulturation", will diese jedoch möglichst auf exotische Länder beschränken. Daß auch innerhalb Europas große Mentalitätsunterschiede herrschen, hat sogar einmal Kardinal Ratzinger ausgesprochen: "Mir sagt die romanische Mentalität sehr zu, die dem Einzelnen - Bischof wie Gläubigen - innerhalb der Gesetze und Vorschriften den erforderlichen Freiheitsraum beläßt" (Vittorio Messori, "Zur Lage des Glaubens", S. 68). Daher wäre auch eine größere Selbständigkeit der einzelnen Bistümer oder zumindest Bischofskonferenzen nötig. Ein Näherrücken der noch sehr skeptischen orthodoxen Christen ist wohl nur denkbar, wenn die Kirche des Westens Bereitschaft zu einer solchen Vielfalt erkennen läßt. Hingegen wird die Schwierigkeit, mit den reformatorischen Kirchen des Westens zu einer Einigung zu gelangen, damit begründet, sie hätten nicht die gleichen Sakramente wie wir. Wie lange wird man noch die Fiktion aufrechterhalten, die 7 Sakramente seien "von Jesus eingesetzt"? Sollte nicht das letzte Abendmahl Jesu wieder das Vorbild für unser Eucharistieverständnis werden: "esset und trinket" - aber über die Stücke, die übrigbleiben, hat Er nichts verfügt, etwa "Hebt das ehrfurchtsvoll auf, denn das bin immer noch ich"?
Einheit in diesem Sinn bedeutet, daß man einander kulturell bedingte Unterschiede zugesteht. Es würde uns absurd vorkommen, wollte jemand plötzlich verlangen, alle katholischen Kirchengebäude auf der ganzen Welt müßten im gleichen Stil erbaut werden. In vielen Dingen, die von der jeweiligen Kultur des betreffenden Volkes abhängen, etwa inwieweit Frauen an der Leitung der Kirche beteiligt sein dürfen und inwieweit die Ehe ein Hindernis für eine leitende Funktion sein sollte, steht man jedoch auf dem Standpunkt, dies müsse auf der ganzen Welt gleich gehandhabt werden und wenn etwas irgendwo auf der Welt nicht denkbar wäre, dann sei es nirgends denkbar. Andererseits meint man oft, eine spezielle Art von Frömmigkeit, die sich in einem bestimmten Land (besonders in einem spanisch sprechenden) als segensreich (?) erwiesen habe, müsse nun auf der ganzen Welt gefördert werden.
Ja, wird man entgegenhalten, vieles davon mag stimmen, aber die Kirche ist ja so groß und ein so schwerfälliger Apparat, und man müßte erst alle Katholiken auf der ganzen Welt überzeugen, das solche Änderungen nötig wären, denn ein Vorpreschen einer einzelnen Diözese oder eines Landes oder sogar Kontinentes würde die Kirche spalten. Außerdem wird behauptet, die bei uns als virulent empfundenen Probleme sein lokaler Natur und daher für die Weltkirche nicht relevant. Gerade haben aber die Synoden für Asien und für Ozeanien gezeigt, daß dort genau die gleichen Probleme wie in Europa vorhanden sind und diskutiert werden. Aber auch den Gläubigen dort sagt man, sie könnten nicht erwarten, daß ihre "Sonderwünsche" erfüllt würden. Sind das, was auf der ganzen Welt dringend erbeten wird, "Sonderwünsche"? Und muß nicht der Wunsch, zur Praxis Jesu zurückzukehren, respektiert werden, unabhängig davon, wie groß die Anzahl derer ist, die es wünschen?
Eine letzte Kritik betrifft schließlich die intellektuelle Redlichkeit mancher Aussagen und die Klüfte zwischen Beteuerungen von höchster Stelle und die diesen Beteuerungen völlig entgegengesetzte Praxis. Ist es redlich, wenn die Versetzung von Bischof Haas von Chur nach Liechtenstein offiziell damit begründet wird, die große Treue des liechtensteinischen Volkes zur Kirche habe diese bewogen, ihnen einen Erzbischof zu gewähren? Und wie verträgt sich die Aufforderung des Papstes im Rundschreiben "Ut unum sint" an die anderen Kirchenführer, ihm zu sagen, was er an seiner Amtsführung ändern müsse, damit die Einheit der Christen gefördert werde, mit den die Beschlüsse des 1. Vaticanums haushoch übersteigernden Aussagen zur päpstlichen Unfehlbarkeit allein im Jahr 1998? Der Umstand, daß den gleichlautenden Forderungen von Bischofskonferenzen und Kontinentalsynoden entgegengehalten wird, diese sei nur von "lokaler" Bedeutung, wurde bereits erwähnt. Schließlich wird in beschämender Weise versucht, sexuellen Mißbrauch von Kindern und Nonnen durch katholische Priester zu verschleiern.
Es wird nichts nützen, wenn nur vordergründige Kosmetik betrieben wird. Wir müssen uns bekehren, umdenken. Und zwar nicht, wie manche meinen: umkehren zu den Strukturen der jüngeren Vergangenheit. Von Dietmar Mieth stammt der Satz: "Die Kirche versucht, den Zeitgeist von heute mit dem Zeitgeist von gestern zu bekämpfen." Wenn man einwendet, die Kirche dürfe sich nicht beirren lassen, sondern müsse treu zu ihrem Auftrag stehen, so frage ich: zu welchem Auftrag? Dem von Jesus oder dem der Tradition der letzten 200 Jahre? Wir dürfen nicht ins 19. Jahrhundert, sondern wir müssen zum Evangelium umkehren. Auch, was die Strukturen unserer Kirche betrifft.
13. Jänner 1999 [ergänzt 30. März 2000 und 20. Dezember 2001]
Friedrich Griess