Hjemmet Nr. 14-15/95, Seite 150:

Die Leser erzählen selbst

Ich brach mit der Sekte und verlor Freunde und Familie

Vor 10 Jahren traf die 33-jährige Mari die wichtigste Entscheidung ihres Lebens.

Sie brach aus der Sekte aus, in die sie hineingeboren wurde. An dem Tag, an dem sie ihre heiligen Zöpfe abschnitt und den vorgeschriebenen Kittel mit den Jeanshosen vertauschte, verlor sie gleichzeitig alle, die ihr nahegestanden waren - ihren Mann, ihre Eltern, die besten Freunde und 12 Geschwister. Dennoch hat Mari ihren Entschluß keine Sekunde lang bereut.

Unter vier Augen mit Jeanette Dyhre Kvisvik

- Als ich zum ersten Mal als 12-Jährige heimlich Donald Duck las, ging ich mehrere Monate lang mit Todesangst herum, denn ich glaubte, ich müßte für ewige Zeiten in der Hölle brennen. Ich wußte, daß es Sünde war, Zeitschriften zu lesen, und wenn man sündigte, war man verloren. So war die Lehre meiner Kindheit.

Maris Stimme wird zornig in der Erinnerung. - Es ist grausam für ein Kind, mit solcher Angst in sich umherzugehen. Deshalb habe ich beschlossen, daß meine eigenen Kinder niemals etwas von einem strafenden Gott lernen sollen, sagt sie entschlossen.

Mari hatte einer religiösen Sekte angehört, die völlig anders lebt als die meisten anderen Leute. Nachdem Mari "frei" wurde, fragte sie sich unzählige Male: Was bringt eigentlich die Leute dazu, ihr Leben damit zu verbringen, ausgewählte Kapitel in der Bibel zu verehren ? Was bringt einzelne dazu, so zu leben, wie unsere Vorfahren vor mehr als 100 Jahren lebten, und wie können sie so sicher sein, daß gerade ihr Gott der rechte ist ?

Mari kann mir keine konkrete Antwort geben. Sie wurde selbst in der Sekte geboren und traf nie eine selbständige Entscheidung. Nicht, bevor sie als 23-Jährige auf den Boden stampfte und zu sich selbst sagte: Nun ist es genug.

- Wir lebten unser Leben innerhalb der undurchbrechbaren Schranken der Sekte, völlig abgeschlossen vom Elend der Welt - und der Freude. In dieser geschlossenen Gesellschaft verloren wir den Kontakt mit der Wirklichkeit. Unsere ungeschriebenen Regeln lehrten uns, daß Fernsehen eine Todsünde sei. Ebenso Radio und Musik. Wir hatten den einzigen richtigen Glauben, alles andere war verdammt. Schon als kleines Kind begann ich an diesen Wahrheiten zu zweifeln, die ich mit der Muttermilch in mich aufgenommen hatte. Könnte es denn für alle anderen in der Welt so grausam sein ? Könnten denn alle anderen so böse sein ? Aber ein Kind glaubt immer, seine Eltern wüßten, was richtig sei, betont Mari. - Es war ein langer Prozeß, bevor ich wirklich einsah, mit welch dunklen Scheuklappen wir lebten.

Ich treffe Mari in ihrer eigenen gemütlichen Wohnung. Sie hat kurzgeschnittenes Haar und Jeanshosen an. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Klang eines Fernsehers und zweier spielender Kinder.

Mari erzählt, daß ihre Kindheit von Routinen und Regeln beherrscht war. Erst ging sie zur Schule, dann mußte sie auf geradem Weg nachhause, um die Mutter mit allen Kindern abzulösen. Fünfmal in der Woche waren Sektenversammlungen, und der Vater war der Gemeindeleiter.

- Ich bin die Älteste in einer Schar von 12 Geschwistern, erzählt Mari. - Das führte dazu, daß ich schon als Sieben- bis Achtjährige als Mutter und Hausmutter für meine jüngeren Geschwister fungierte. Die Sekte meinte, alle Arten von Empfängnisverhütung seien Mord, und in unserer Gesellschaft war es ganz normal, eine große Familie zu haben. Aber die Menschen, die ich heute treffe, glauben, ich scherze, wenn ich erzähle, daß ich sechs Brüder und fünf Schwestern habe, sagt sie.

- Wie war das, als Kind in der Sekte zu sein ?

- Ich fühle, daß ich niemals ein Kind sein durfte. Die Antwort kommt schnell. - Dazu hatte ich allzuviel Verantwortung auf meinen jungen Schultern. In der Schule wurde ich zum Auswurf und hatte keinen Kontakt mit meinen Klassenkameraden. In unserer Sekte durfte eine Frau ihr Haar nicht schneiden, es mußte in strammen Zöpfen geflochten sein. Ein Mädchen durfte nichts anderes anziehen als fußlange Kittel. Im Gegensatz zu den Buben gingen wir umher wie lebende Reklametafeln, erzählt Mari.

Im Kittel auf Schitour

Ich vergesse niemals, wie wir in der sechsten Klasse auf Schitour gehen sollten. Es war keine Rede davon, daß ich eine Schihose hätte anziehen dürfen, die mir eine Schulfreundin lieh. Statt dessen war Mutter die halbe Nacht wach und nähte einen Kittel. Einen langen, grauen Kittel. Kannst du dir das vorstellen ? Ich wurde ja das perfekte Opfer für Quälerei. Auch die Lehrer lächelten, als sie meine lächerliche Skiausrüstung sahen, sagt sie und lacht. - Heute erscheint mir das tragikomisch. Damals fühlte ich mich nur völlig gedemütigt. Aber Eitelkeit war Sünde, und ich gab niemals zu, daß ich mich blöd fühlte.

Ein andermal wählte die neue Lehrerin Mari dazu aus, laut auf Englisch zu lesen.

- Ich wurde knallrot. Im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte ich niemals einen englischen Film gesehen oder die Sprache außerhalb des Klassenzimmers gehört. Ich verstand es, aber ich konnte kein Wort aussprechen. Einer der Buben versuchte mich zu retten. "Die Arme, sie hat ja niemals ferngesehen. Sicherlich hat sie überhaupt nie englisch sprechen gehört", sagte er. Nie habe ich mich so draußen gefühlt, so komisch. Warum war ich nicht normal ? fragte ich mich selbst, wenn ich mich in den Nächten in den Schlaf weinte.

Mari erzählt, daß sie die "weltlichen" Kinder beneidete, welche Freunde und gemeinsame Interessen hatten.

- Ich hatte keine "weltlichen" Freundinnen, aber das war auch nicht erlaubt. Eine von denen, die in meine Klasse gingen, fragte mich eines Tages, ob ich nicht mit ihr kommen und ihr Zimmer sehen wolle. Ich freute mich und fühlte mich geschmeichelt, nicht zuletzt war ich neugierig, wie eine "solche" wohnte. Als ich das Haus von Annette betrat, merkte ich (Zigaretten)rauchgeruch und hörte laute rhythmische Musik. Ich bekam Todesangst und dachte, dies müsse das Haus des Teufels sein. Nach 10 Minuten lief ich aus diesem Hause fort. Und ich hoffte aus ganzem Herzen, daß Gott mich nicht zu hart strafen möge.

Auch keine Freizeitbeschäftigung außer der von der Gemeinde veranstalteten war erlaubt.

- Als 12-Jährige hatte ich große Lust, im Chor der Schule mitzusingen. Ich bestürmte Vater, mich teilnehmen zu lassen. Die Proben waren einmal pro Woche, und ich sang gern.

"Singen, Musik und andere falsche Vergnügungen gehören zur Welt der Sünde", erhielt ich strengen Bescheid. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich überhaupt gefragt hatte, glaube ich doch, daß ich an diesem Tag etwas skeptisch wurde. Vielleicht erweckte er einen Aufrührer in mir. Ich konnte nicht verstehen, warum es falsch sein sollte, zu singen.

Gebet, intensive Erweckungsversammlungen und Gottesdienste in der Sekte waren ein großer Teil von Maris Leben. Hier sollte man die Sünde bekämpfen. Der Glaube der Staatskirchenchristen, daß man durch den Glauben allein von seinen Sünden erlöst sei, hielt nicht stand.

"Ich machte einen Skandal"

Als Mari 15 wurde, sollte sie allein an ihrem ersten Jugendlandtreffen teilnehmen. Hier sammelte die Sekte alle Teenager, sodaß sie ihre religiösen Pflichten als Erwachsenen lernen konnten. Statt dessen machte Mari etwas ganz Ungesetzliches.

- Ich wurde von einem Burschen beeindruckt, und eines Abends trafen wir uns ganz heimlich. Das war ja so unschuldig. Das einzige, was wir machten, war, daß wir einander an den Händen hielten. Aber die Sekte verlangt, daß Burschen und Mädchen nicht miteinander sprechen, bevor sie verheiratet sind. Einer der heiligen Brüder sah uns und betrachtetet es als seinen Pflicht, mich von der Sünde zu reinigen. Er rief Vater an, und noch am selben Abend wurde ich heimgeschickt. Ich erzeugte tiefe Schockwellen in der ganzen Gemeinde, sagt Mari mit einem ironischen Unterton in der Stimme.

- Wie reagierten deine Eltern ?

- Gewaltig. Sie waren darüber tief enttäuscht, daß ich einen solchen Skandal machen konnte.

Selbst fühlte ich mich wie ein erbärmliches Wrack. Warum war ich so schlecht ? fragte ich mich selbst. Dennoch gelang es mir nicht, die Gedanken an diesen Burschen, der Johan hieß, zu vertreiben. In aller Heimlichkeit hielten wir den Kontakt drei Jahre lang durch Briefe und Telefongespräche aufrecht. Ich glaube nicht, daß ich das als Verliebtsein bezeichnen kann. Aber Johan gewährte mir Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das hatte ich daheim nie erlebt, sagt Mari mit einem Hauch von Bitterkeit.

"Mußte heiraten"

- Als ich eines Abends von einem Jugendtreffen in der Gemeinde heimkam, riefen Vater und Mutter mich zu sich. Sie hatten beide einen strengen und bösen Ausdruck in den Augen, und ich wußte intuitiv, daß sie meinen verbotenen Kontakt mit Johan herausgefunden hatten. Sie sagten zu mir, daß ich sie und Gott beleidigt hätte, und daß ich, obwohl ich erst 17 sei, ihn heiraten müsse. Sie hatten dies bereits mit Johans Eltern im Østland abgesprochen.

Die Entscheidung der Eltern überfiel Mari wie ein Schock. Sie wußte selbst nicht einmal, ob sie in diesen Burschen verliebt war. Gleichzeitig fühlte sie sich erleichtert. Endlich sollte sie die schwere Bürde daheim loswerden.

- Ich glaube, ich sah die Ehe in erster Linie als Fluchtmöglichkeit. Endlich war ich frei! sagt sie, während sie einen traurigen Ausdruck in die Augen bekommt.

- Ich muß dir etwas Grausames zeige, sagt Mari plötzlich. Sie holt ein Bild. Ein junges Mädchen steht ernst neben einem gleich ernsten Mann. Das Mädchen hat lange Zöpfe, und das Gesicht ist ganz ohne Schminke. - Hast du je ein so tragisches Hochzeitsbild gesehen ! sagt sie. - Ich durfte nicht einmal lächeln.

Von der Asche ins Feuer (= "Vom Regen in die Traufe")

- Wurde das eine glückliche Ehe ?

- Nein, antwortet Mari umgehend. - Es war, als ob man von der Asche ins Feuer ginge. Aber auf eine Weise war das meine Schuld. Ich konnte niemals akzeptieren, daß der Mann das Oberhaupt der Frau sei. Für mich war es unnatürlich, daß Johans Wort ein Gesetz war, dem ich zu folgen verpflichtet sein sollte. Deshalb war ich stets in Opposition. Johan tat alles, um mich im ersten Jahr zu unterdrücken. Daß ich es nicht akzeptierte, gleichsam an einer Hundeleine von der Küche in Schlafzimmer zu gehen, machte ihn wütend, sagt sie ruhig.

- Eines Abends beschloß ich, ihn dadurch zu bestrafen, daß ich ungehorsam war, und ging allein ins Kino. Aber mit dem Kinobesuch strafte ich am meisten mich selbst.

Während ich im Saal saß, wurde ich mehr und mehr sicher, daß Jesus kam, während ich da saß. Nun würde er seine Leute holen - das war es ja, warum es bei uns ging und worauf wir warteten. Keinen Augenblick lang konnte ich mich darauf konzentrieren, was auf der Leinwand geschah.

In der Hälfte des Filmes lief ich auf die Straße hinaus. Es regnete und blies, und kein Mensch war zu sehen. Gott hat mich gestraft, dachte ich in Todesangst. Er hat alle geholt, während ich im Kino war.

Mari sieht mich fragend an. - Ich weiß, es hört sich verrückt an, sagt sie fast entschuldigend, - aber wenn du ein ganzes Leben hindurch eine solche Erziehung genossen hast, dann glaubst du, daß es so ist.

Als Mari entdeckte, daß sich nichts verändert hatte, verlor sie noch eine Illusion. Ihr ganzes Leben hindurch hatte sie gehört, daß man sofort bestraft würde, wenn man sündigte. Aber es geschah nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil.

- Ich wurde endlich schwanger und hoffte, daß ein Kind Johans Benehmen ändern würde. Er wurde aber nur noch bösartiger. Als unsere Tochter Tina drei Jahre alt war, träumte ich nur davon, von dem Tyrannen frei zu werden, mit dem ich verheiratet war. Ich wollte die Scheidung. Das war gleichbedeutend damit, aus der Sekte auszubrechen, denn Scheidung kam dort nicht vor. Mehrere Jahre hindurch hatte ich mir die Frage gestellt, ob der Glaube, nach dem wir lebten, der einzige richtige sei. Aber war ich stark genug, auszubrechen ?

Wie wollte ich mich draußen in der großen, gefährlichen Welt behaupten, ganz allein? Ich kannte ja außerhalb des Milieus der Sekte niemand. Ich wußte, daß ich in derselben Sekunde, in der ich ging, für alle tot sein würde.

"Schnitt mir das Haar ab"

An Maris 23. Geburtstag kam Johan nach der Arbeit erst am nächsten Morgen heim. Als Mari fragte, wo er gewesen sei, gab er unverblümt zu, daß er bei einer anderen Frau war.

- Ich bekam einen Schock und es wurde mir übel. Am meisten wegen der Doppelmoral. Wie konnte er für seinen Glauben einstehen ? Verzweifelt rief ich meine Mutter an und bekam Bescheid, daß ich damit leben mußte, Scheidung sei trotzdem nicht zulässig.

Da sprang etwas in mir entzwei. Ich hatte nicht gewußt, daß ich solche Wut in mir haben konnte. Ich nahm Tina mit und fuhr in die Stadt. In einer Art Trance nahm ich in einem Friseursessel Platz und bat den Friseur, mir das Haar zu schneiden. In dem Augenblick, als mein Haar fiel, fielt auch ein Gefühl fort, in etwas gefangen zu sein, wofür ich nicht mehr länger einstehen konnte.

Als Mari auf die Straße hinaustrat, fühlte sie, daß alle sie anstarrten.

- Vielleicht so, wie du dich gefühlt hättest, wenn du "oben ohne" durch die Stadt gegangen wärest, sagt Mari und lächelt, während sie sich an den Tag erinnert, an dem sie zu leben begann.

- Ich fühlte mich gleichzeitig in Todesangst und überglücklich. Nackt, aber frei. Nun hatte ich den entscheidenden Schritt getan. Ich hatte Arbeit, und ich hatte Tina. Das sollte ich schaffen !

Zehn Jahre später sitzt Mari in ihrer eigenen Wohnung, in einer anderen Stadt. Sie ist wieder verheiratet, und vor vier Jahren bekam sie einen Sohn.

- Das war knallhart. Das Schlimmste war es, den Kontakt mit meiner Familie abzubrechen. Die meisten ächteten mich. Aber meine Entscheidung löste eine Serie von Ausbrechern aus, und heute haben fünf meiner Geschwister ebenfalls mit der Sekte gebrochen. Statt dessen sind unsere Bande umso stärker, und ich bin innigst dankbar dafür, daß wir einander haben, sagt Mari.

- Dennoch werde ich immer meine Kindheit mit mir tragen. Nach all diesen Jahren ist es immer noch schwierig, sich an alles zu gewöhnen, was "erlaubt" ist. Oft fühle ich mich gespalten, und oft fühle ich, daß ich sündige. Vielleicht ist das so hineingewachsen, daß ich meine Zwangsgedanken niemals los werde.

Aber ich bin glücklich und freue mich jeden Tag darüber, daß meine Kinder eine normale Kindheit haben dürfen. Die Kindheit, die mir selbst versagt blieb........

(Bildtext:) - Ich vergesse niemals, wie die Schule in der sechsten Klasse einen Schitag arrangieren sollte. Da ich nicht in Hosen gehen durfte, nähte mir Mutter einen Kittel.