Kapitel 11

Lorna Goldberg, M.S.W., A.C.S.W.:

Ratschläge für Therapeuten

Neulich kam eine 25-jährige Frau in meine Praxis. Im Alter von 17, als sie die High School besuchte, schloß sie sich einem biblischen Kult an; sie verließ die Gruppe sieben Jahre später. Ihre Beratung bei mir ereignete sich ein Jahr nach ihrem Kultaustritt. Sie beschrieb die Familie ihres Freundes an der High School, die Mitglieder von etwas waren und weiterhin sind, was sich als fundamentalistische christliche Kirche herausstellte. Sie waren es, die sie dazu angespornt hatten, sich ebenfalls anzuschließen. Zu dieser Zeit waren die Eltern der jungen Frau über ihre Mitgliedschaft in der Gruppe nicht übermäßig unglücklich, da sie meinten, es sei einfach eine Kirche.

Im Laufe der Zeit übte der Kirchenleiter, ein verheirateter Mann mit vier Kindern, mehr und mehr Kontrolle über diese junge Frau aus. Schließlich verführte er sie zu einem heimlichen sexuellen Verhältnis, das er als "Gottes Wille" umdeutete. Die Frau war 18 Jahre alt; der Prediger war 60. Nach sechs Jahren im Kult erzählte ihr ihre engste Freundin, daß derselbe Geistliche auch mit ihr ein heimliches sexuelles Verhältnis habe. Der Bruch der Verschwiegenheit bezüglich der unordentlichen sexuellen Verhältnisse dieses Leiters (und schließlich die Entdeckung, daß er mit mindestens 12 anderen Mitgliedern Sex gehabt hatte) trieben diese junge Frau und ihre Freundin dazu, den Kult zu verlassen.

Beim Verlassen des Kultes war die junge Frau von Abscheu vor sich selbst und von Scham erfüllt. Sie suchte nach einer Therapie bei einer Frau, die behauptete, eine Expertin auf dem Gebiet des sexuellen Mißbrauches zu sein. Nachdem diese über die Situation ihrer Patientin erfahren hatte, erzählte die Therapeutin der jungen Frau, daß sie klarerweise eine sexuelle Mißbrauchsituation aus der Kindheit wieder erlebte. Die Therapeutin erzählte ihr, daß ihr Vater sie sehr wahrscheinlich mißbraucht hatte. Als das ehemalige Kultmitglied nicht in der Lage war, sich an einen solchen Vorfall zu erinnern, versicherte ihr die Therapeutin, daß die Erinnerung daran mit der Zeit auftauchen werde. Sie wurde einer Gruppe von Inzestopfern zugewiesen; während einer Gruppensitzung erinnerte sie sich daran, daß es ihr unangenehm gewesen war, wenn ihr Onkel sie umarmte. Sie war jedoch nicht in der Lage, sich an irgend einen sexuellen Kontakt mit ihrem Vater zu erinnern. Obwohl sie für die Gefühle der Frauen Verständnis hatte, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden waren, hatte sie weiterhin Schwierigkeiten, sich an Mißbrauch in ihrer eigenen Kindheit zu erinnern.

Nach einigen Monaten Therapie nahm sie gemeinsam mit mehreren anderen Mitgliedern ihres Kultes an einer Ausstiegsberatung teil. Während der Ausstiegsberatung lernte sie, wie Kultführer ihre Rekruten manipulieren, so daß sie viele Dinge tun, die ihren eigenen Glaubensüberzeugungen widersprechen. Der Ausstiegsberater sagte ihr, daß es möglich sei, durch den Kultführer sexuell mißbraucht zu werden, ohne in der Kindheit sexuell mißbraucht worden zu sein.

Wie wir aus diesem Beispiel sehen können, kann das Kultleben eine traumatische Wirkung auf die Kultmitglieder haben. Bei der Beschäftigung mit einem ehemaligen Kultmitglied macht der Therapeut das Mitglied noch mehr zu einem Opfer, wenn er die Kulterfahrungen herunterspielt und alle Handlungen im Kult ausschließlich als Anzeichen von Erfahrungen im früheren Leben und nicht in größerem Maß als Folge der Manipulationen des Kultführers sieht. Natürlich hatten einige Leute traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit, an die sie sich erinnern oder die vor ihrer Teilnahme am Kult unterdrückt wurden, während andere, die Kulten beitreten, nicht durch eine solche Erfahrungen traumatisiert wurden. Therapeuten müssen jedoch den Einfluß erkennen, den das Kultleben auf ehemalige Mitglieder haben kann, und dürfen keine A-Priori-Urteile über die Teilnahme am Kult fällen.

Typische Problemdarstellungen

Ehemalige Kultmitglieder, die sich einer Therapie unterziehen, weisen eine breite Vielfalt von Darstellungen der Probleme auf. Diese Probleme haben sich in mancher Hinsicht im Laufe der Jahre verändert. Die ehemaligen Kultmitglieder, die ich vor 16 Jahren als Klienten zu Gesicht bekam, waren typischerweise in den größeren Kulten gewesen, die in den frühen Siebzigerjahren vorherrschten. Diese ehemaligen Kultmitglieder hatten bis zu fünf Jahre in diesen Gruppen verbracht, hatten die Kultumgebung während der späten Jugendjahre betreten und waren infolge von Deprogramming ausgetreten, das meist von Familienmitgliedern arrangiert worden war.

In einer Studie, an der William Goldberg mitarbeitete (Goldberg & Goldberg, 1982), beschreiben wir ehemalige Kultmitglieder, die wir innerhalb von zwei oder drei Monaten nach dem Kultaustritt zur Beratung oder zur Therapie bekamen und die weiterhin die Charakterzüge und einige der Angewohnheiten ihrer Kultgruppe beibehielten. Die zum Beispiel in östlichen religiösen Kulten waren, welche das Hauptgewicht auf die Unterwerfung unter einen geistlichen Leiter legten, hielten ihre Köpfe niedergebeugt, sprachen in einem Sing-Sang-Tonfall und kämpften weiterhin mit ihrem Bestreben, gut und heilig zu sein, während die, welche in Kulten waren, die Sexualität als Mittel zur Rekrutierung betonten, sich weiterhin gegenüber anderen in einer verführerischen Weise verhielten. Die meisten früheren Kultanhänger, die wir in jener Zeit zu Gesicht bekamen, wiesen auch verringerte Fähigkeiten im Bereich der Wahrnehmung, der Entscheidung, der Unterscheidung, der Beurteilung und des Gedächtnisses auf. Sie brauchten Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln; die Ausdrucksweise war oft farblos und stockend. Ehemalige Kultanhänger, die innerhalb von zwei Monaten nach ihrem Austritt Beratung suchten, wurden als sich in der ersten Stufe eines Prozesses befindend beschrieben, der typischerweise etwa zwei Jahre dauerte. Nach einer Zeit von zwei Jahren hatte das Individuum gewöhnlich die Kulterfahrung integriert, bewegte sich in die weitere Welt hinaus und definierte sich nicht mehr in erster Linie als ehemaliges Kultmitglied.

Obwohl diese Individuen nicht mehr in der betrügerischen und kontrollierenden Kultumgebung verweilen wollten, erfuhren sie anfänglich ein Gefühl der Konfusion, das sich in ihrem automatischen Ausdruck der Gewohnheiten und der Glaubenssätze des Kultes äußerte. Sie hatten Probleme, die bizarre kultische Welt, die sie verlassen hatten, mit der äußeren Welt zu vereinbaren - der Welt, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatten. Sie waren Fremde für ihre eigenen Familien und für ihr eigenes früheres Ich; sie zeigten Symptome, die ihren Sinn für Desorientierung, Entfremdung und Identitätskonfusion enthüllten. Singer und Ofshe (1990) bemerken, daß diese Individuen sich wie Immigranten fühlen, die eine neue Kultur betreten. Sie kehren jedoch in Wirklichkeit in ihre eigene Kultur zurück, aber bringen Glaubenssätze ihres Kultlebens mit sich, die mit den Normen der größeren Gesellschaft in Konflikt stehen. Ihr vorkultische Persönlichkeit (oder ihr wahres Ich) kämpft mit der Persönlichkeit, die ihnen durch den Kult auferlegt wurde. West (1992) nannte dies die Pseudopersönlichkeit.

Fallbeispiel

Vor mehreren Jahren interviewte ich eine Frau, die eine östliche Meditationsgruppe einen Monate vor Beginn der Therapie verlassen hatte. Sie war nach einem erhitzten Disput mit einem der Leiter plötzlich nach Hause zurückgekehrt. Ihre Eltern arrangierten für sie einen Besuch bei mir, nachdem sie eine freiwillige Ausstiegsberatung mitgemacht hatte. (Siehe Kapitel 2 für eine Beschreibung und Diskussion der Ausstiegsberatung). Nachdem sie fünf Jahre lang "Dienst getan" hatte, wurde sie desillusioniert wegen einiger betrügerischer Praktiken der Führerschaft. In ihrer ersten Therapiesitzung drückte sie jedoch Zweifel darüber aus, ob ich auch "spirituell" genug sein würde, um mit ihr zu arbeiten, eine Frage, die zeigte, daß sie weiterhin an der Doktrin ihrer Gruppe festhielt. Ich antwortete, daß ich nicht sicher sei, ob ich spirituell genug sei, weil ich nicht sicher sei, was sie damit meinte. So begann der lange Prozeß der Versuche, den Kultjargon und die Ideologie des ehemaligen Kultmitgliedes zu definieren und damit zu entmystifizieren.

Die junge Frau benützte oft eine amorphe Sprache und sprach in einer solch abstrakten Weise, daß es schwierig war, ihr zu folgen. Gleichzeitig half mir die Schwierigkeit, die ich bei der Konzentration darauf, was sie sagte, erfuhr, die diffuse und tranceinduzierende Umgebung zu verstehen, in der sie sich befunden hatte. Indem ich ihr in den Sitzungen über meine Konfusion erzählte, half ich ihr, ihre Erfahrung zu objektivieren. Jemandem als einer zu dienen, der dem Klienten hilft, konkreter und klarer sprechen zu lernen, ist eine wichtige therapeutische Funktion. Das Ziel war hierbei, diese junge Frau, die in ihrer Sprache und in ihrem Verhalten, die in der Luft zu schweben und auch mich, ihre Therapeutin, mitzureißen schienen, auf festen Grund zu stellen.

Nach dem Verlassen der östlichen Meditationsgruppe kleidete sie sich weiterhin im "Hippie-Stil", praktizierte Yoga und hielt sich an vegetarische Diät. Diese Entscheidungen wurden nicht herausgefordert. In unseren Sitzungen erforschten wir jedoch, wie Yoga sie beeinflußte, ob es eine regressive Erfahrung war, die sie zum Kultdenken zurückbrachte, oder aber eine progressive Erfahrung, die ihr mehr Halt und einen Sinn für Wohlbefinden in ihrem gegenwärtigen Leben gewährte. Ihr Kult hatte sie zu langen Perioden der Meditation veranlaßt. Nach ihrem Austritt fand sie sich oft in Dissoziation, sie driftete automatisch in einen Trance-Zustand. Sobald sie den Zusammenhang von Dissoziation und Yoga erkannte, gab sie diese Praxis von selbst auf.

Obwohl sie das College besucht hatte, glaubte sie zuerst, sie sei zu sehr eine Außenseiterin und zu "langsam im Denken", um in einem normalen Job Erfolg zu haben. Sie war eine ausgezeichnete Typistin, bekam aber nur vorübergehende Anstellungen. Sie begriff, daß ihr Verhalten und ihre Kleidung zu ausgefallen waren, um mit anderen Beschäftigten in Kontakt zu kommen. Manchmal hatte sie Probleme, komplexen Anweisungen zu folgen und sich zu konzentrieren. Obwohl sie vor ihrer Kultzeit eine unersättliche Leserin gewesen war, fand sie nach dem Verlassen der Gruppe das Lesen schwierig. Sie fürchtete, daß sie einiges von ihrer Intelligenz verloren hatte. Mit der Zeit kehrten jedoch zu ihrer und meiner Erleichterung ihre cognitiven und sozialen Fähigkeiten zurück.

Änderungen in den letzten Jahren

Zum Unterschied von diesen ehemaligen Mitgliedern, die ich vor Jahren zu Gesicht bekam, zeigt die Mehrheit der Kultaussteiger in den letzten Jahren anfänglich keine dramatischen Unterschiede zur Außenwelt. Ihre Erscheinung ist nicht so von der normalen Welt verschieden wie die jener, die in den Siebzigerjahren ausstiegen. Dieser Unterschied resultiert aus mehreren Faktoren.

Erstens ist die Mehrzahl der heutigen Kulte nicht so stark von der Außenwelt isoliert wie die in den Siebzigerjahren. Obwohl das Individuum noch immer in ein neues Glaubenssystem eintritt, wenn es sich dem Kult anschließt, wird nun oft ein Zusammenhang mit der äußeren Welt aufrechterhalten. Typische Gläubige arbeiten weiterhin in ihrem Job, den sie vor ihrer Kultzugehörigkeit innehatten, und neigen dazu, eher mit Verwandten und Freunden in Kontakt zu bleiben, auch wenn dieser Kontakt angespannter wird, weil Verhalten, Gewohnheiten und Sprache des Kultmitgliedes sich zu verändern beginnen.

Zweitens waren die meisten Kulte in den Sechziger- und Siebzigerjahren solche mit östlichen religiösen Doktrinen, heute sind es jedoch eher auf der Bibel beruhende, New Age- oder therapeutische Kulte. Deshalb erscheinen Kultmitglieder zumindest oberflächlich nicht so weltfremd wie ihre früheren Entsprechungen.

Dritten sind die, welche heute Hilfe suchen, eher solche, die einen Kult selbständig verlassen haben (im Gegensatz zu jenen, die in den Siebzigerjahren dies eher als Folge eines Deprogramming taten), und man sieht sie oft nicht während Monaten oder sogar Jahren nach ihrem Austritt. Deshalb sind die übriggebliebenen Identifikationen mit dem Kult und dem Kultführer lockerer geworden.

Manche Kultidentifikationen und Gewohnheiten bleiben jedoch. Zum Beispiel berichten manche ehemaligen Kultmitglieder, daß sie sich selbst und anderen nach dem Austritt kritischer gegenüberstehen. Es sieht so aus, als ob sie die strengen Gewohnheiten ihrer Kultführer sich zu eigen gemacht hätten. Einige glauben weiterhin, daß sie keinen persönlichen Wert haben, da sie nun von der Gruppe getrennt sind, die alle Verantwortung für ihre Erfolge für sich beanspruchte. Eine Frau, die zum Beispiel früher die Zeitschrift des Kultes herausgab, verrichtete mehrere Monate nach ihrem Austritt primitive Schreibarbeiten. Sie war sich sicher, daß alle ihre Herausgeberfähigkeiten vom Kult abhängig waren; sie fürchtete, daß sie in einem anspruchsvolleren Job versagen würde.

Ohne das Verständnis ihrer Kulterfahrung neigen jene, die den Kult von selbst verlassen, dazu, von Folgewirkungen länger geplagt zu werden als jene, die ein solches Verständnis zum Beispiel durch Ausstiegsberatung erwerben. Dies trifft in besonderem Maße für Individuen zu, die die meiste Zeit ihres jungen Erwachsenendaseins in einem Kult verbracht haben. Wir sehen nun eine zunehmende Zahl von ehemaligen Kultanhängern, die 10, 15 oder sogar 20 Jahre in einem Kult verbracht haben.

Fallbeispiel

Ein 36-jähriger Mann kam erst fünf Jahre nach seinem Ausstieg aus einem psychotherapeutischen Kult, in dem er zehn Jahre lang gewesen war, in meine Therapie. In den Jahren nach seinem Ausstieg aus der Gruppe hatte er keine Ahnung, daß er in einer Kultgruppe gewesen war und auch nicht, daß diese Erfahrung ihm Schaden zugefügt hatte, bis ihm das Buch Combating Cult Mind Control (deutsch: Ausbruch aus dem Bann der Sekten) von Steven Hassan (1988) in die Hände fiel. Als intelligenter Mann schien er auch etwas überspannt und moralistisch zu sein. Er hatte Probleme, in einer Berufslaufbahn Fuß zu fassen (er arbeitete einigermaßen unterhalb seiner Fähigkeiten) und hatte Probleme, intime Beziehungen herzustellen. Drei Jahre, nachdem er den Kult verlassen hatte, war er durch diese Probleme genug irritiert, um eine Therapie aufzusuchen, die sich hauptsächlich auf sein gegenwärtiges Leben und auf seine frühen Kindheitserlebnisse konzentrierte. Er fühlte sich bei diesem Therapeuten nicht wohl, meinte, dort "kontrolliert" zu werden, und beendete die Therapie nach kurzer Zeit. So streifte die erste Therapieerfahrung an seiner Kultvergangenheit, wertete sie aber nicht aus.

Er verstand bewußt, daß es in seinem besten Interesse war, den Kult verlassen zu haben; doch meinte er immer noch, daß er versagt habe, und verringerte dadurch seine Kulterfahrung. In unseren Therapiesitzungen ging es ihm auf, daß sein Gefühl der Scham und daß er eine schlechte fehlerhafte Person sei, ihn seine schmerzlichen Gefühle bezüglich der Gruppe unterdrücken ließen. Er hatte sich an den Glauben geklammert, die Doktrin der Gruppe sei perfekt gewesen, obwohl er die Typen im Mittelmanagement, die das "Programm" verwalteten, für manipulativ und daher fehlerhaft hielt. Dennoch achtete er den Kultführer - eine eher entfernte Person - hoch.

Wegen seines Gefühles, ein Versager zu sein, weil er die Gruppe verlassen hatte, untergrub er unbewußte seine Fähigkeit, in neuen Projekten Erfolg zu haben. Wegen seines unbewußten Gefühls, in die Falles des Kultes geraten zu sein, fürchtete er neue Verpflichtungen. Nach einiger Zeit der Therapie war er fähig, über die antisozialen und sogar kriminellen Aktivitäten zu sprechen, in die er im Kult verwickelt gewesen war. Er schämte sich dieses Verhaltens sehr, und es half ihm, daran erinnert zu werden, daß diese Aktivitäten von seinem Kultführer als Dienst am "größeren Guten" vorangetrieben wurden. Sein Widerwille gegen diese irregulären Aktivitäten und die Begeisterung der Gruppe dafür hatten schließlich seine Entscheidung beeinflußt, auszusteigen. Zeitweise führte sein hohes moralistisches Verhalten zu dem Gefühl, daß der Therapeut nicht "auf der Höhe" sei; dieses Verhalten war in Wirklichkeit eine Widerspiegelung seiner eigenen Gefühle der Wertlosigkeit und diente als "Verdeckung" oder charakterologische Verteidigung seiner Schamgefühle.

Erkennen kult-induzierter Emotionen

Im Kult werden Emotionen von anderen manipuliert. Wenn Kultanhänger die Gruppe verlassen, fühlen sie sich weiterhin außerstande, ihre Affekte zu steuern. Während manche ehemalige Kultanhänger Affekte vermissen zu lassen scheinen, werden andere offenbar von ihren Emotionen überwältigt. Zum Beispiel fühlte sich ein Mann, der eine Massentherapiegruppe verließ und bald darauf zur Therapie kam, die ganze Zeit hindurch verängstigt. Er schien aus der Haut zu fahren und erwartete, von denen, mit denen er in Kontakt kam, "genagelt" zu werden. In dieser Gruppe wurden von den Mitgliedern Videoaufnahmen gemacht, die dann von den Leitern und anderen Mitgliedern "zerlegt" wurden. Zusätzlich zur Ängstlichkeit litt er unter periodischen Depressionen. Die Intensität dieser Gefühle war vor seinem Kultbeitritt nicht aufgefallen. Diesem kreative Mann war abgeraten worden, seinen Artistenberuf weiter auszuüben, und er fand es für einige Zeit hart, zu seiner Berufslaufbahn zurückzukehren, weil das vom Kult induzierte Gefühl ihm sagte, daß eine Fortführung seiner Kunst "selbstsüchtig" sei und weil er Kritik von anderen fürchtete. Ironischerweise war es in erster Linie ein Versprechen erweiterter kreativer Fähigkeiten, die ihn dazu verlockten, an den Workshops des Kultes teilzunehmen. Erst nach einer Analyse, wie der Kult ihn manipuliert hatte, war dieser junge Mann wieder fähig, in der Welt der Kunst Erfolge zu haben.

Viele ehemalige Kultmitglieder, vor allem von New Age, Massentherapie oder anderen Kulten, welche die natürlichen Grenzen der Mitglieder und ihre Verteidigungsmechanismen verletzen, beschreiben, daß sie sich ständig von Emotionen überflutet fühlen. Halperin (1992) bemerkt, daß manche ehemalige Mitglieder anfänglich in einem manischen Zustand zu sein scheinen. Andere, vor allem die aus religiösen Gruppen, scheinen unter Symptomen zu leiden, die mit Depression zusammenhängen. Sie beschreiben, daß sie sich von Reue und Scham zermartert fühlen; sie glauben, sie seien nicht mehr "gute" Leute und seien nun auf dem Weg zur Hölle. Ehemalige Mitglieder von Kulten, die lange Perioden des Chantens, der Meditation, der bildlichen Vergegenwärtigung oder andere hypnotische Techniken verlangten, scheinen oft von ihren Emotionen abgekoppelt zu sein. Sie leiden oft unter der Furcht, unwillkürlich in Trancezustände zu verfallen; als Ergebnis haben sie Probleme mit Konzentration und anderen kognitiven Fähigkeiten. Jene, welche wiederholt verbalen, physischen oder sexuellen Mißbrauch erlebten, entwickeln oft einen Cluster von Symptomen (klassifiziert als posttraumatisches Stress-Syndrom), einschließlich Flashbacks, Nachtmahre, Amnesie, Phobien, Ängstlichkeit, Depression, emotionelles Erstarren, Scham, Reue, Abscheu vor sich selbst und Zurückzug aus der Gesellschaft.

Die meisten ehemaligen Kultmitglieder leiden unter einem starken Gefühl der Einsamkeit. Sie waren im Kult ständig von anderen umgeben und veranlaßt, sich mit dem Leiter zu identifizieren. Kultfreundschaft ist normalerweise bedingt, begründet auf der Loyalität des Individuums gegenüber dem Kult. Einige entdecken nachher in der Therapie, daß ein Teil der Anziehungskraft des Kultes darin bestand, daß sie dem Gefühl der Einsamkeit entfliehen konnten, das sich in der frühen Kindheit und Jugend entwickelt hatte. Auf jeden Fall ist die Gemeinschaft einer Gruppe ehemaliger Kultanhänger eine hilfreiche Ergänzung individueller Therapie für jene, die sich einsam und von anderen, die ähnliche Erfahrungen hatten, isoliert fühlen.

Verbunden mit Einsamkeit sind Gefühle von Traurigkeit und Kummer - das Gefühl, ein Leben verloren zu haben, das volle Erfüllung versprach. Ehemalige Kultanhänger trauern über den Verlust einer Periode in ihrem Leben, die ihren Idealismus zu erfüllen versprach. Traurigkeit ist eine gesunde Reaktion auf Verlust. Ehemalige Kultanhänger müssen begreifen, wie ihr normaler Idealismus und ihre vielleicht jugendliche Großherzigkeit durch den Kult ausgebeutet und zerstört wurden. Für einige konzentriert sich die Traurigkeit auf die Jahre verlorener Möglichkeiten, als sie im Kult waren, da sie zum Beispiel nicht die Gelegenheit hatten, eine befriedigende Beziehung aufzubauen, Kinder zu haben oder sich berufliche Fähigkeiten anzueignen.

Nach einiger Zeit entsteht oft ein Ausdruck intensiven Zornes auf den Kultführer und / oder ein Wunsch, gegen den Kult zu agieren. Soziales oder legales Agieren wird oft als ein progressiver Schritt gesehen. Eher als den Zorn gegen sich selbst zu richten, wird das ehemalige Mitglied nun konstruktive Aktionen gegen die Manipulatoren setzen oder durch Information andere davor bewahren, sich umgarnen zu lassen.

Ehemalige Kultanhänger erfahren gewöhnlich Angstzustände. Eine Frau erzählte mir: "Das Härteste für mich ist es, mit dem Gefühl fertig zu werden, daß ich vor den Kräften der äußeren Welt nicht mehr geschützt bin." Es ist schwierig, der Welt ohne die magischen Kräfte des Kultführers und die schützenden Mechanismen der Verfügungen, des Chantens, der Meditation usw. gegenüberzustehen. Wenn es aber einmal den Kult verlassen hat, braucht das ehemalige Mitglied nicht mehr die bedingte Angst zu fühlen, die dem Individuum jederzeit auf Grund willkürlicher Entscheidungen des Kultführers genommen werden kann. Ehemalige Mitglieder fühlen manchmal ihre Zerbrechlichkeit nach dem Verlassen der Gruppe. Dies ist nicht nur durch die Symptome begründet, die sie erfahren, sondern auch dadurch, daß Familienmitglieder und Freunde sie so behandeln, als ob sie aus Porzellan wären und leicht zerbrechen könnten. Für ehemalige Mitglieder ist es wichtig zu sehen, daß sie den wichtigsten Teil überlebt haben, wenn sie die Kulterfahrung überlebt haben. Nun kann die Wiederherstellung beginnen.

Anfängliche Beurteilung: den Zusammenhang verstehen

Nicht alle, die durch kultische Gruppen rekrutiert wurden, leben notwendigerweise unter dem Einfluß der Bewußtseinsmanipulation. Umgekehrt sind manche Individuen in sehr kontrollierende Beziehungen involviert, die nicht als Kulte erscheinen mögen. Es wurde mir klar, daß es in therapeutischer Hinsicht nicht wichtig ist, ob eine Person eine Gruppe verlassen hat, die in das definierte Muster eines Kultes paßt, sondern ob das Individuum auf seine Involvierung in der Gruppe in einer speziellen Weise reagierte, wie es in diesem Kapitel beschrieben ist. Das heißt, wichtig ist nicht die Gruppe selbst, sondern die spezielle Reaktion des Individuums auf den Gruppendruck, während es sich in der Gruppe befand, und auf die Erfahrung des Verlassens der Gruppe. Sirkin und Wynne (1990) beschreiben die kultische Beziehung als ähnlich einer folie à deux.

Um sicher zu gehen, daß ein bestimmter Klient wirklich in einer anspruchsvollen Situation war und tatsächlich in dieser Situation kontrolliert wurde, ist es wichtig, daß der Therapeut die Post-Kult-Symptome und Emotionen "normalisiert". Kultaussteiger müssen wissen, daß ihre Reaktionen gewöhnlich von kultischen Suggestionen, Praktiken und Manipulationen sowie von ihrer derzeitigen Trennung vom Kult abhängig sind.

Nachdem er ehemaligen Kultanhängern geholfen hat zu verstehen, daß die Trennung von ihrem Kult normalerweise eine Vielzahl von Symptomen und Emotionen induzieren kann, sollte der Kliniker beginnen, darauf zu verweisen, wie diese Symptomen auf mehrere Faktoren bezogen sein können. Die Faktoren, die in Betracht kommen, sind die Erfahrung des Individuums im Kult, die Natur des Kultes, die Dauer und Intensität der Teilnahme, die Art des Ausstiegs und der Grad der erhaltenen emotionellen Unterstützung und des Verständnisses nach dem Ausstieg. Zum Beispiel können somatische Beschwerden davon abhängig sein, daß der Kult behauptete, der Körper einer Person würde verfaulen oder die Person würde sich nach dem Verlassen der Gruppe eine schwere Krankheit zuziehen. Furcht vor Unfällen, Tod oder negativen Lebensumständen mögen etwas mit den kultischen Behauptungen und mit einer allgemeinen Angst vor Unheil zu tun haben, da der vom Kult erwartete Schutz im Leben des ehemaligen Mitgliedes nicht mehr besteht. Und, wie früher erwähnt, ist es für manche schmerzlich, ohne Schutz das Leben durchstehen zu müssen. Ein homosexueller Mann wurde zum Beispiel in einen Kult durch das Versprechen der Leiterin gelockt, daß er bei Befolgung ihrer Praktiken vor AIDS sicher sein werde.

Viele ehemalige Mitglieder leiden unter sexuellen Schwierigkeiten, nachdem sie gezwungen wurden, viele Jahre hindurch zölibatär zu leben, oder nachdem sie im Kult sexuell manipuliert oder mißbraucht worden waren. Dies macht es schwierig, neuen Beziehungen zu trauen. Ehemalige Mitglieder fühlen sich in gesellschaftlichen Situationen unbeholfen; für sie alarmierend finden sie sich oft in einer Verhaltenssituation, die der Kult "passend" nennen würde. Dieses Verhalten steht jedoch gewöhnlich in scharfem Gegensatz zu ihrem vorkultischen Verhalten und ihren nachkultischen Wertvorstellungen.

Der Prozeß der Psychoinformation

Von Anfang an begleitet der Therapeut das ehemalige Kultmitglied in einem Prozeß der Psychoinformation.. Zufolge Singer (1991) "kann Therapie nicht beginnen, bevor die Information endet". Der Therapeut und das ehemalige Mitglied müssen zuerst über die Rekrutierung im Kult und die Kontrollprozesse, besonders die speziellen Methoden in der Gruppe des ehemaligen Mitgliedes, Bescheid wissen. Um diesen Prozeß weiter zu analysieren, muß der Therapeut dem ehemaligen Mitglied helfen, seine Empfänglichkeit für die Rekrutierung zu erforschen - eine Empfänglichkeit, die wir alle unter gewissen Bedingungen haben, wenn wir nicht über die Techniken der Bewußtseinsmanipulation informiert sind und diese Techniken identifizieren können, sobald sie von den Werbern benützt werden.

Erforschung der Empfänglichkeit für den Rekrutierungsprozeß

Die Empfänglichkeit für Kultrekrutierung ist besonders während Durchgangsperioden hoch. Jenen, die sich in der späteren Jugend kultischen Gruppen angeschlossen haben, sollte man helfen, das Maß zu sehen, in dem ihr Prozeß der Involvierung mit dem Entwicklungsprozeß parallel geht. In der Jugend gibt es einen Ablösungsprozeß. Gesunde ältere Jugendliche schätzen Sinn für eigene Autonomie und versuchen, eine Vision der Welt zu entwickeln, die sich von jener ihrer Eltern unterscheidet. Offer und Offer stellen fest, daß "die Bildung eines Selbst abgetrennt von den Eltern eine der wichtigsten Aufgaben im jungen Erwachsenenalter ist. Der junge Erwachsene muß sich aus der Beherrschung durch die Eltern lösen" (1975, S. 167). Erikson (1950) definiert die Konsolidierung der Identität als die Lebenskrise der heranwachsenden Jugend. Auch wenn Jugendliche zahlreiche Identifikationen mit ihren Eltern durch ihr früheres Leben durchgemacht haben, werden sie von kultischen Gruppen unter Druck gesetzt, diese Identifikationen aufzugeben und sie durch die Werte der Gruppe zu ersetzen. Der Kliniker sollte dem ehemaligen Kultmitglied helfen zu sehen, wie es unter Druck gesetzt wurde, um diese neue Identifikation anzunehmen, die eher den Bedürfnissen der Gruppe als jenen des Individuums entspricht.

Zum Beispiel erzählte mir ein ehemaliges Mitglied, daß, als sie ihre Gruppe darüber informierte, daß sie plane, eine Weiterbildung in klinischer Psychologie zu besuchen, ihr gesagt wurde, sie "ihre Verantwortung gegenüber Gott wegwerfe", indem sie nur an ihre eigenen Bedürfnisse denke. Die Leiter drängten sie, Beraterin der Jugendgruppe zu werden; als Ergebnis hängte sie ihre berufliche Laufbahn während ihrer vier Jahre der Kultzugehörigkeit an den Nagel. Therapie bedeutet die Aufarbeitung von vorkultischen, kultischen und nachkultischen Werten, um dem Individuum zu helfen, ein besser integriertes und autonomeres Gefühl für sich selbst zu gewinnen. Nun hat diese Frau den Kult verlassen und plant, ihr berufliches Ziel zu erreichen.

Arbeit mit Jugendlichen

In der späten Jugend kann die Empfänglichkeit für Kultrekrutierung wegen der physischen Entfernung des Individuums von der Familie verstärkt werden, etwa in einem College Campus oder während einer Ferienreise. Viele Kulte rekrutieren in nahegelegenen College Campusses oder in Jugendherbergen oder Verkehrszentren. Trennung von daheim kann die Gefühle eines Jugendlichen für Angst und Verlorenheit verstärken. Das Leben in einem Studentenheim kann die Bedenken eines Individuums bezüglich seiner Sexualität und Angst vor dem Umgang mit größerer persönlicher und sexueller Freiheit verstärken. Dazu kommt noch eine besondere Dynamik der Persönlichkeit von Jugendlichen, die sie für Kulte empfänglich macht. Anna Freud (1966) beschreibt, wie die Verteidigungsmechanismen der Intellektualisierung und des Asketentums oft in der Jugend benützt werden. Blos (1962) bemerkt eine Tendenz zu innerer Erfahrung und Selbstentdeckung - die religiöse Erfahrung.

Jugendliche haben die Tendenz, idealistisch zu sein, und Kulte bieten das Versprechen von der Erfüllung der idealistischen Träume. William Goldberg und ich (1988) bemerkten, daß Jugendliche, die besonders empfänglich für Kulte sind, jene sind, die hohe Erwartungen in sich selbst setzen und bereit sind, in anderen das Beste zu sehen. Diese Charakteristik mag dazu beitragen, ihren Glauben an die idealistischen Worte des Kultes zu stärken und die Diskrepanz zwischen den Worten und den Taten der Gruppe zu übersehen. Der Bedarf an Perfektion mag durch das Aufwachsen in Familien gegeben sein, wo hohe Erfüllungs-Standards durch einen oder beide Elternteile vorgegeben waren. Empfängliche Individuen mögen fühlen, daß sie diesen Erwartungen nicht aus eigener Kraft entsprechen können. Der Kult versprach eine Möglichkeit, hohe Standards zu erreichen, oder ein Mittel, manchen kleineren oder größeren Enttäuschungen über sich selbst oder über andere zu entfliehen.

Durch Hinweis auf die Verletzlichkeit aller Jugendlichen hilft man dem ehemaligen Mitglied, sich weniger verwirrt und charakterschwach zu fühlen. Was ihm zustieß, könnte jedem beliebigen zugestoßen sein, der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Ehemalige Mitglieder neigen zu glauben, daß dieses schlimme Ereignis (d.h. der Beitritt zum Kult) geschah, weil ihnen etwas mangelte. Sie schämen sich oft über und verantwortlich für die Ereignisse in ihrem Leben - ein Überbleibsel des magischen Kindheitsdenkens, das auch einen Teil des Glaubenssystems vieler Kulte darstellt. Ehemalige Kultmitglieder müssen verstehen, daß sie, auch wenn sie zunächst von dem strukturierten und gemeinschaftlichen Umfeld angezogen wurden, niemals beigetreten wären, hätten sie gewußt, daß sie durch eine Vielzahl von gefinkelten Techniken, die von einem soziopathischen Leiter orchestriert wurden, getäuscht und manipuliert worden sind.

Arbeit mit Erwachsenen

Hier gibt es andere Faktoren der Empfänglichkeit, die sich nicht auf die späte Jugend beziehen. Jene, die sich Kulten anschlossen, mögen Sehnsucht nach Gemeinschaft, Annahme oder erweiterte Fähigkeiten gehabt haben, in einer Zeit ihres Lebens, in der sie Einsamkeit oder Angst vor der Zukunft erfuhren. Sie mögen wegen eines Verlustes oder wegen der Furcht vor einem Verlust empfänglich gewesen sein. Dies mag von internen Faktoren abhängen, wie Enttäuschung von sich selbst, die einen Verlust des Selbstbewußtseins verursacht, oder von externen Faktoren wie Scheidung, physische Erkrankung, Tod, Ortsveränderung oder Wechsel des Berufes, die eine Unterbrechung in ihrem Leben verursachten. Sie mögen empfänglich gewesen sein wegen des Druckes, in Verbindung mit ihrem Job an einem von einem Kult veranstalteten Kurs teilzunehmen. Manche traten Kulten bei aus dem Bestreben, mit chronischen Depressionen oder Störungen verschiedener Art fertig zu werden. Andere traten bei, um sich vor psychotischem Verhalten zu schützen; dies funktioniert selten, denn unproduktive Mitglieder werden normalerweise hinausgeworfen, denn Kulte fordern einen hohen Grad des Funktionierens und der Effektivität beim Geldsammeln, Rekrutieren und bei anderen vom Kult angeordneten Arbeiten. Menschen mit antisozialen Tendenzen benützen oft das, was sie in einem Kult gelernt haben, um eine neuen Gruppe zu gründen, in der sie andere kontrollieren können. (Obwohl mir ehemalige Kultmitglieder im Laufe der Jahre zahlreiche Anekdoten über soziopathische Kultführer erzählt haben, habe ich in meiner Praxis niemals antisoziale ehemalige Mitglieder erlebt).

Untersuchung der Kulterfahrung

Kulte täuschen oft neuen Rekruten bezüglich der Anforderungen, der Doktrin und der Sponsorenschaft der Gruppe selbst. Selten versteht der Neuling, daß er dabei ist, in eine regressive totalitäre Umgebung eingeführt zu werden. Die Doktrin wird schluckweise eingeflößt, so daß die Mitglieder anfänglich nur die meist universal annehmbaren Ideen und Praktiken sehen. So trifft der Neuling keine informierte Entscheidung, wenn er dem Kult beitritt.

Sicher ist das Verständnis der mächtigen Wirkung des Gruppenprozesses nicht neu. Schon 1895 betonte LeBon (1972) die Macht der Suggestion und der Ansteckung in Gruppen. Freud beschäftigte sich mit diesem Thema, indem er bemerkte, daß bei einem Individuum "die Abhängigkeit von Affekten außerordentlich intensiviert wird, während seine intellektuellen Fähigkeiten merklich reduziert sind" (1921, S. 20), wenn er an einer Gruppe teilnimmt. Freud bezog sich auch auf die Tendenz von Gruppen, zeitweise oder dauernd die Gefühle von Feindschaft gegenüber Mitgliedern zu unterdrücken und den Mechanismus der Identifikation und Reaktionsbildung zu benützen, um weiterhin feindliche Gefühle abzuwehren. Er bemerkte auch, daß Gruppenleiter von ihren Mitgliedern als neues Ego-Ideal gesehen werden und dies den Identifikationsprozeß mit dem Leiter weiterhin fördert.

Moderne Kultgruppen haben gefinkelte Manipulationstechniken entwickelt, die aus den vorher beschriebenen normalen Gruppentendenzen Nutzen ziehen. Ofshe und Singer (1986) haben bemerkt, daß destruktive Kulte Programme mit zwanghaftem Einfluß, die von den Kommunisten in der ehemaligen Sowjetunion und in China eingesetzt wurden, weiter verfeinert haben. Kulttechniken sind nun über die politische "Gedankenreform" hinausgegangen und konzentrieren sich eher auf zentrale (innerpsychische) als auf periphere (politische) Aspekte des individuellen Ichs. Die heutigen Kulte benützen Techniken, um in die Bewältigungsstrategien und Verteidigungsmechanismen des Individuums einzubrechen und sie zu ändern.

Zufolge ehemaligen Mitgliedern benützen Kulte zur Gewinnung neuer Anhänger Bombardierung der Sinne durch solche Taktiken wie lange Vorlesungen, Schlafentzug, Umgebungskontrolle und "Love Bombing". Sie fördern den Abbruch der Beziehungen mit den normalen Informations- und Unterstützungsquellen des Rekruten, wie Familie und Freunde. Die Rekrutierung ist am wirkungsvollsten, wenn es der Gruppe gelingt, über die Zeit des Mitgliedes vollständig zu verfügen. Die Kulte fördern Passivität, indem sie ihre Mitglieder lehren, den Leitern ohne Fragen zu folgen. Jene, die versuchen, unabhängig zu agieren, werden vom Leiter gedemütigt und als abschreckendes Beispiel für die anderen benützt.

Beurteilung des Einflusses von Bewußtseinsmanipulationstechniken

Im Anfangsstadium der Therapie ist es besonders wichtig, den Einfluß abzuschätzen, den Bewußtseinsmanipulationstechniken weiterhin auf das Verhalten und die Gedanken des Individuums haben. Die überredenden Techniken des Kultes haben in dem Maße weiterhin Einfluß, als ein Glaube vorhanden ist, daß jeder Gedanke und jede Tat kosmische Bedeutung hat, daß Individuen ihre eigene Realität erzeugen, daß es ein überwältigendes Schuldgefühl oder eine Angst gibt, wenn amüsante Gedanken von der Gruppe als negativ betrachtet werden, und daß es notwendig ist, das anzuwenden, was Lifton (1961, S. 29) "gedankenstoppendes Cliché" nennt, wenn man mit einer Information konfrontiert wird, die nicht in eine vereinfachte Schwarz-Weiß-Ansicht der Realität paßt. All dies zeigt, daß das Individuum den Ort der Kontrolle eher als vom Kult als von sich selbst stammend sieht.

Übernahme eines aktiven und verantwortlichen Standpunktes

Ehemaligen Kultanhängern muß man es sagen, wenn ihr emotioneller Zustand eine natürliche Reaktion auf die Trennung vom Kult ist. Da sie gezwungen wurden, ihre Persönlichkeit zu restrukturieren, um den kultischen Gewohnheiten und dem dortigen Verhalten zu entsprechen, fühlen sie sich nach dem Verlassen dieser Umgebung völlig erschöpft. Ihre Aufgabe ist es nun, mit einer Situation fertig zu werden, in der sie nicht ständig von anderen instrumentiert werden. Diese Instrumentierung und der Druck, den Ansichten des Kultes zu entsprechen und ihre Emotionen zu ignorieren, verleitet Kultmitglieder zu einer passiven und roboterartigen Existenz. Wenn sie nicht wissen, was sie fühlen, dann finden sie sich selbst in einem Zustand wieder, wo sie Gefühle auf Anweisung anderer durchleben.

In einem Kult wurde zum Beispiel einer Frau gesagt, daß, was immer sie fühle, das Gegenteil der Wahrheit sei. Dies war die Weise des Kultführers, Individuen zu kontrollieren und sie in einen psychisch gestörten Zustand zu versetzen. Die Frau kam ins Krankenhaus, nachdem sie von einem gefährlichen Stier übel zugerichtet worden war, was sie aber mißachtete in der Meinung, es handle sich um eine freundliche Kuh. Die Unterstützung, die sie im Krankenhaus genoß, verhalf ihr zum Verlassen des Kultes.

Warum nicht Schweigen ?

Obwohl Schweigen bei anderen Arten von Klienten die Entwicklung der Phantasie des Klienten bezüglich des Therapeuten fördern und die Entwicklung der Übertragung ermöglichen kann, kann Schweigen für ein ehemaliges Kultmitglied auch besonders angsterzeugend sein. Er oder sie mögen sich nach Jahren von automatischen Antworten auf ein strukturiertes Leben in der Schwierigkeit fühlen, ein solches Vakuum wieder zu füllen. Ein schweigender Therapeut kann manche ehemaligen Kultanhänger unzulässig belasten oder kann für die Projektion von paranoiden Ideen, welche durch den Kult induziert wurden, ein leerer Schirm werden. Eine solche Projektion kann zu einer vorzeitigen Beendigung der Therapie führen. Solomon (1988) zeigt auf, daß Schweigen auch für jene kontraindiziert ist, die zu psychischen Störungen neigen. Fehlende Strukturen können Trance induzieren.

Häufige Reaktionen gegenüber dem Therapeuten

Viele ehemalige Kultanhänger fürchten, durch den Therapeuten ebenso manipuliert und kontrolliert zu werden wie früher durch den Kultführer. Therapeuten sollten nicht in die Schlußfolgerung verfallen, daß sie einen paranoiden Charakterzug vor sich haben oder daß diese Paranoia ein Resultat der Erfahrung des Individuums aus frühen Kindheitsbeziehungen ist. In ehemaligen Kultanhängern ist ein solches Verhalten eher eine Verdrängung der Gefühle, die durch die Kulterfahrung induziert wurden. Bedenken darüber, nach einem Einlassen mit dem Kult manipuliert worden zu sein, kann in der Tat ein heilsames Zeichen von vermehrtem Skeptizismus sein. (Die meisten Kultanhänger neigten vor ihrer Kulterfahrung zu Vertrauensseligkeit). Außerdem kämpfen ehemalige Kultanhänger mit ihrer durch den Kult induzierten Passivität und sie sind vielleicht zu Beginn nicht in Kontakt mit dem, was sie wirklich denken. Deshalb fühlen sie ganz richtig, daß sie leicht durch andere beeinflußt werden können.

Manche ehemaligen Kultanhänger neigen dazu, ihre Therapeuten zu idealisieren, besonders in einem frühen Stadium der Therapie. Dies kann wieder eine Möglichkeit darstellen, das durch den Austritt entstandene Vakuum zu füllen. Es ist wichtig, daß der Therapeut mit dieser Idealisierung nicht mitspielt, indem er die Rolle des Retters annimmt und therapeutische Grenzen verletzt. Therapeuten sollten als Mitarbeiter im Selbstentdeckungsprozeß gesehen werden, nicht als Gurus. Der ehemalige Kultanhänger sollte in einem Team von Gleichen ein teilnehmendes Mitglied sein. Die therapeutischen Regeln und der Prozeß sollten klar erläutert werden, um zu zeigen, daß nichts Magisches passiert, daß der Therapeut keine besonderer Macht, sondern menschliche Grenzen hat. Es ist hilfreich, ehemalige Kultanhänger zu erinnern, ihre Gedanken in Worte zu fassen, denn der Therapeut kann nicht Gedanken lesen. Ebenso wichtig ist es, ehemalige Kultanhänger sehen zu lassen, daß der Therapeut menschliche Schwächen hat und Fehler macht. In der Tat lache ich oft über meine Fehler, wenn es passend erscheint. Dies dürfte ehemaligen Kultmitgliedern zu helfen, effektiver mit ihren normalerweise harten Haltungen sich selbst gegenüber fertig zu werden, Haltungen, die durch den Kult verstärkt oder sogar angelegt worden sind.

Im Gegensatz zu ehemaligen Kultanhängern, die den Therapeuten idealisieren oder ihm gefallen wollen, reagieren manche in wütender und herabsetzender Weise. Sie werden sich auf jede Charakterschwäche und jeden Fehler des Therapeuten einschießen. Es ist wichtig, diese Wut mit Gleichmut zu ertragen. Der Therapeut sollte jedoch nicht zulassen, daß er selbst mißbraucht wird und so die Kulterfahrung des Klienten wiederholt. Mehrere Autoren, einschließlich Deutsch und Miller (1983) und Halperin (1990) haben darauf hingewiesen, wie manche Kultanhänger eine vorher existierende Schwierigkeit hatten, Wut oder Verteidigung zu ertragen. Ehemalige Kultanhänger müssen wissen, daß sie nicht dafür bestraft werden, wenn sie ihre Wut zeigen. Wut mag auch dafür dienen, ehemalige Kultanhänger vor ihrer Angst zu schützen, daß sie durch den Therapeuten unzulässig beeinflußt würden. Außerdem mag es für manche vielleicht einen Bedarf dafür geben, die Wut auf den Kultführer auf den Therapeuten umzulenken, der als eine weniger mächtige und weniger rachsüchtige Figur angesehen wird.

Viele ehemalige Kultanhänger entscheiden sich vielleicht dafür, den Therapeuten nur für kurzzeitige zielorientierte Therapie aufzusuchen. Aus naheliegenden Gründen sind diese Individuen empfindlich gegen Druck, in der Behandlung zu bleiben. Therapeuten sollten eine Arbeit mit diesen Klienten auf einer zielorientierten periodischen Basis in Betracht ziehen, wenn dies wünschenswert und möglicherweise produktiver erscheint. Ehemalige Kultanhänger sollten wissen, daß sie eine Therapie mit beiderseits positiven Gefühlen verlassen können und später einmal wieder willkommen sind.

Andererseits beschreiben Dubrow-Eichel und Dubrow-Eichel (1988) die Tendenz mancher ehemaliger Kultanhänger, in der Therapie den "Quick Fix" zu erwarten, der ihnen vom Kult versprochen worden war. Obwohl es nützlich ist, sich auf bestimmte Ziele zu konzentrieren, muß der Therapeut klar darauf hinweisen, daß es keine schnelle dramatische Umwandlung geben wird. Der Therapeut kann keine Heilung versprechen; das tun nur Kultführer. Therapie erfordert harte Arbeit auf beiden Seiten; wenn alles gut geht, wird der ehemalige Kultanhänger mit der Zeit ein klareres Verständnis seiner Erfahrung haben.

Konzentration auf das Positive

Ehemalige Kultanhänger haben eine größere Krise in ihrem Leben überstanden und haben eine Menge aus dieser Erfahrung gelernt. Nicht jedes kultinduzierte Verhalten ist negativ. Manche ehemaligen Kultmitglieder sind stolz darauf, daß sie sich selbst für ihre Ziele an die Grenzen gewagt haben. Andere meinen, daß sie als Resultat der von der Gruppe verlangten Werbetätigkeit offener und selbstbewußter wurden. Viele erlernten wertvolle Fähigkeiten, die im nachkultischen Leben verwendet werden können; dies ist allgemein bei solchen der Fall, die in kulteigenen Betrieben arbeiteten. Allgemein werden Kultanhänger dazu verleitet, dem Kult den Verdienst für alles, was sie erreichten, zuzuschreiben. Es ist daher hilfreich, die ehemaligen Mitglieder daran zu erinnern, daß sie und nicht die "Magie" des Kultes für ihren Erfolg verantwortlich sind.

Therapeutische Ziele

Das vordringlichste therapeutische Ziel ist es, den ehemaligen Kultanhängern zu helfen, ein Verständnis ihrer Kulterfahrung und ihrer selbst zu gewinnen. Durch Induzierung von Regression, Unterdrückung, Identifikation mit dem Aggressor und zahlreichen anderen defensiven Strategien in ihren Mitgliedern intensivieren Kulte oft das Abhängigkeitsgefühl und die Unsicherheit der Kindheit. Weil ein Kultmitglied dazu trainiert wurde, seinen inneren Emotionen nicht mehr zu trauen, die vom Kult als Indikatoren der "Selbstsucht" des Individuums interpretiert wurden, findet der Kultanhänger es notwendig, gemeinsam mit dem Leiter immer wieder zu überprüfen, welches Verhalten und welcher Standpunkt richtig ist. Im Kult wird richtiges Verhalten belohnt und falsches Verhalten bestraft.

Zu Beginn bietet der Therapeut Information an, um dem ehemaligen Kultanhänger zu helfen, ein besseres Verständnis dafür zu erlangen, wie Bewußtseinsmanipulations-Prozesse bei der Arbeit im Kult bestrebt sind, den Sinn des Mitgliedes für sich selbst zu zerstören. Gleichzeitig damit bietet der Therapeut eine sichere Umgebung für den ehemaligen

Kultanhänger, um ihm zugänglich zu machen, was er wirklich fühlt, besonders bei der Erinnerung an die Kulterfahrungen. Die Duldung eines weiteren Bereiches gemeinsamer Erinnerungen, Emotionen und spontaner Reaktionen auf die gegenwärtige Situation ist das therapeutische Ziel. Zum Beispiel müssen Individuen nicht immer in Hochform sein, wie es im Kult erforderlich war. Es ist jedoch wichtig, gegen die von Kult induzierte Passivität der ehemaligen Mitglieder durch Fördern des Ausdrucks von spontanen Reaktionen und autonomem Verhalten anzukämpfen, so daß ehemalige Kultanhänger beginnen können, unabhängige Entscheidungen für das Leben zu fällen und die Aufgaben der Arbeit, der Schule und der Beziehungen erfolgreicher zu managen

Schlußfolgerung

Ein Therapeut, der nur Erfahrungen aus dem Familienleben als Quelle der Schwierigkeiten sieht, welche ehemalige Kultmitglieder erfahren, beschäftigt sich nicht mit dem niederschlagenden neueren traumatischen Ereignis im Leben des Individuums, das zu den gegenwärtigen Problemen geführt hat. Obwohl Kulte der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre sich von denen in den Sechziger- und Siebzigerjahren unterscheiden, sind die Unterschiede bloß oberflächlich. Meist kämpfen ehemalige Kultanhänger heute mit den gleichen nachkultischen Reaktionen wie die in früheren Tagen. Kulte benützen eine Vielfalt manipulativer Techniken, die den Individuen neue Identifikationen und Wertvorstellungen auferlegen. Diese kultinduzierten Identifikationen und Wertvorstellungen sind mit dem vor- und nachkultischen Glauben unvereinbar.

Obwohl sie ihre Kulte verlassen haben, beginnen Klienten, die ehemalige Kultmitglieder sind, die Therapie zunächst mit vielen kultinduzierten Verhaltensformen, Emotionen und Glaubensvorstellungen, die der Therapeut und der Klient zu identifizieren beginnen müssen. Deshalb muß der Therapeut einen psychoinformativen Zugang benützen, indem er zunächst Information über die manipulativen Techniken des Kultes bietet, um zu erklären, wie dies das nachkultische Verhalten, die emotionalen Reaktionen und Glaubensvorstellungen beeinflußt hat, während er gleichzeitig eine sichere Umgebung für den Ausdruck von Erinnerungen und spontanen Reaktionen herstellt. Obwohl der Therapeut im therapeutischen Prozeß eine aktive Rolle spielen muß, ist es notwendig, daß der ehemalige Kultanhänger ein teilnehmendes Mitglied in einem Team von Gleichen darstellt. Dies unterscheidet sich scharf von der kultischen Beziehung, in welcher der Leiter als gottgleich gesehen und der Anhänger herabgesetzt und als jemand betrachtet wird, der wenig dazu beitragen kann.

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Lorna Goldberg, M.S.W., A.C.S.W., ist Fakultätsmitglied am New Jersey Institute for Psychoanalysis. Mit ihrem Ehemann William hat Frau Goldberg 16 Jahre lang eine Unterstützungsgruppe für ehemalige Kultmitglieder geleitet und hat auch mit Duzenden ehemaligen Kultmitgliedern psychotherapeutisch gearbeitet. Sie hat mehrere Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht.

Aus: Recovery from Cults, herausgegeben von Michael D. Langone, Ph.D.,

W.W. Norton & Co, New York, London, 1993. Übersetzung: Friedrich Griess

Referenzen siehe Original