Was können betroffene Angehörige tun ?
Friedrich Griess:
Lieber würde ich Ihnen sagen, was Angehörige - meist Eltern - tun sollten, bevor sie überhaupt betroffen werden, nämlich dafür sorgen, daß ihre heranwachsenden Teenager über die Gefahren aufgeklärt werden, die mit einen Beitritt zu einem Kult verbunden sind. Natürlich ist es besser, wenn dies jemand anderer macht, denn den Eltern glaubt man in diesem Alter ja meist nicht. Die vermutete Gefahr, die Jugendlichen würden durch eine solche Aufklärung nur neugierig gemacht werden und sich dann erst recht für Kulte interessieren, ist m. E. gering. Ich habe viele Jahre lang im Firmunterricht mit den Firmlingen über das Problem gesprochen und auch viele Vorträge an Schulen gehalten und dabei festgestellt, daß die Betroffenheit der jungen Menschen sehr groß war und sie fieberhaft Gegenmaßnahmen überlegten.
Kulte werben selten Jugendliche, die noch nicht großjährig sind, da sie wissen, daß sie es dann mit rechtlichen Schritten zu tun haben könnten. Allerdings wird oft versucht, scheinbar harmlose freundschaftliche Beziehungen aufzubauen, die dann nach Erreichen der Großjährigkeit dazu ausgenützt werden, den jungen Erwachsenen zu Veranstaltungen eines Kultes einzuladen. Auch manche Lernhilfeinstitute sind verkappte Werbeträger. Eine gewisse Gefahr ist auch durch die Aufhebung des Werbeverbotes an Schulen gegeben. Es ist ja nicht so, daß die Kulte mit ihrem eigentlichen Anliegen sofort mit der Tür in Haus fallen. Es wird irgend etwas geboten, was gefällt, und später, wenn die emotionelle Basis da ist, rückt man mit dem eigentlichen Anliegen heraus. Hier ist Wachsamkeit nötig.
Nun kann man die jungen Erwachsenen ja nicht unter einen Glassturz stellen. Man muß damit rechnen, daß trotz aller Vorsicht der oder die eine oder andere auf die Werbung eines Kultes anspricht.
Wenn ein erwachsenes Familienmitglied sich einem Kult zuwendet, so registrieren die übrigen Familienangehörigen und Freunde vielleicht zunächst mit Bedauern, daß in der Familie und Freundschaft, wie sie meinen, ein religiöser Zwiespalt eingetreten ist - falls Religion überhaupt etwas ist, was in dieser Familie oder diesem Freundeskreis wichtig erscheint. Im Zeitalter der Religionsfreiheit müsse man so etwas jedoch akzeptieren.
In der allerersten Zeit des Kontaktes mit dem Kult ist der junge Mensch noch am ehesten für rationale Argumente ansprechbar. Das beste wäre, ihn oder sie dann mit einem ehemaligen Kultanhänger bekannt zu machen, der aus glaubwürdiger eigener Erfahrung sagen kann, was dort wirklich gespielt wird. Später, wenn die emotionelle Bindung stärker geworden ist, nützen solche rationale Argumente nichts mehr. Es werden die verrücktesten Begründungen serviert, warum der Kult gegen alle Gesetze der Logik doch Recht hat.
Nach einiger Zeit erweist sich immer stärker, daß Zwiespalt nicht nur in religiösen Fragen, sondern auf fast allen Ebenen des menschlichen Zusammenseins eingetreten ist. Kulte regeln nämlich meist nicht nur den religiösen Glauben, sondern auch die Einstellung ihrer Mitglieder zu gesellschaftlichen und sozialen Fragen, ja überhaupt die Einstellung jeder Realität gegenüber, bis ins Detail. Dabei wird natürlich bei jungen Erwachsenen - denn um solche handelt es sich ja meist - die Tatsache des natürlichen Generationenkonfliktes weidlich ausgenützt. Das neu geworbene Mitglied wird oft vor die Entscheidung gestellt, entweder alle Familienangehörigen und Freunde ebenfalls zum Kult zu bekehren oder, wenn dies nicht gelingt, mit ihnen zu brechen. Denn wer sich nicht dem Kult anschließt, ist "satanisch", "systematisch", "aberriert" und daher ist der Kontakt mit ihm bzw. ihr zu meiden. Gegenseitige Toleranz und Respektierung der jeweils anderen Anschauung sind kaum möglich. Diskussionen erscheinen zwecklos, denn das Kultmitglied ist "programmiert", daß nur die Anschauungen des Kultes richtig sein können und alle anderen im Irrtum befangen sind. Auch wenn die Angehörigen und Freunde Zurückhaltung üben - das Kultmitglied wird immer wieder versuchen, die anderen vom "einzig richtigen" Standpunkt des Kultes zu überzeugen. Dabei wird man meist in der Mentalität des Kultmitgliedes ein Zurückgehen auf kindliche Vorstellungsmuster registrieren, in der Fachsprache "Regression" genannt.
Dieser Vorgang ist natürlich für die Angehörigen und Freunde sehr schmerzlich. Es erscheint ihnen oft, als ob das Kultmitglied gar nicht mehr derselbe Mensch wäre wie früher. Die Interessen an kulturellen oder gesellschaftlichen Fragen haben sich völlig verändert. Man weiß nicht mehr, was man miteinander reden soll, falls man das Kultmitglied überhaupt noch zu Gesicht bekommt.
In dieser Situation ist es wichtig, daß die Angehörigen und Freunde wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Die wichtigsten Regeln lauten:
1. Ein emotionell gutes Verhältnis schaffen. Der Kontakt und die emotionelle Zuneigung ihrerseits zum Kultmitglied darf nie abgebrochen werden. Es darf auch nie versucht werden, mit Gewalt das Kultmitglied aus seiner Abhängigkeit zu lösen. Auch Schuldzuweisungen (etwa: "Warum tust du uns das an ?") sind zu unterlassen.
2. Nie aufgeben, nie resignieren. Es sind Menschen schon nach Jahrzehnten aus Kulten ausgestiegen und wieder freie Menschen geworden.
3. Kein Geld oder Geldeswert schenken, denn das fließt direkt in die Kassa des Kultes. Je weniger Geld für den Kult herausschaut, desto uninteressanter wird das Mitglied für den Kult. Allerdings zählt für den Kult nicht nur das Geld, sondern auch oder sogar in erster Linie die Macht über die Menschen.
4. Sich gut informieren, auch über andere Kulte. Mit anderen Betroffenen in Kontakt sein. Einer Selbsthilfegruppe beitreten.
5. Niemals dem Opfer die Schuld geben: "Never blame the victim". Aber auch nicht sich selbst.
6. Den Kult nicht dem Mitglied gegenüber direkt kritisieren, sondern durch "dumme" Fragen das Mitglied zum eigenen Nachdenken anregen. Es soll letztlich das Gefühl bekommen, selbst die Entscheidung zum Austritt getroffen zu haben.
7. Darauf vorbereitet sein, daß mit einem eventuellen Austritt die psychischen Probleme erst richtig anfangen. Für diesen Fall nach Möglichkeit fachliche Hilfe bereithalten. Die psychische Rehabilitation, durchaus vergleichbar der physischen Rehabilitation nach einem Verkehrsunfall oder zumindest der Prozedur eines Alkohol- oder Drogenentzuges, kann oft Jahre dauern. Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal auf diesem Gebiet ist bedauerlich.
8. Seine eigene Überzeugung glaubhaft leben. Angehörige und Freunde sollen zu ihrer eigenen Anschauung stehen und keine faulen Kompromisse schließen.
Das Dilemma liegt aber freilich meist darin, daß die betroffenen Eltern unter Druck gesetzt werden: "Wenn du Negatives über uns sagst, dann darfst du dein Kind - deine Enkelkinder - nicht sehen". Damit soll Aufklärung über den Kult verhindert werden. Eine mögliche Lösung wäre, daß ein Elternteil den Kontakt aufrechterhält und der andere aufklärt.
Siehe auch: Arnold Markowitz: Ratschläge für Familien