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Die mentale Manipulation -
Medienmythos oder psychiatrische Realität?

EINLEITUNG

DIE REKRUTIERUNG

Die Verführung
Die Überredung
Das Spiel des Überredenden
Die Faszination
Die zwanghafte Überredung
Die Strategien der Überredung
Die Identifikation und die Imitation
Die Verführung
Die Fesselung
Die Bekehrung
Die Indoktrination
Die Techniken der zwanghaften Überredung
DIE KONDITIONIERUNG Von der Erziehung zur Gehirnwäsche Die Entfremdung
Die Abhängigkeit von der Autorität
Die agentische Veränderung
Die Aufrechterhaltung des agentischen Zustandes
Die Techniken der Konditionierung


EINLEITUNG

Das Studium des Sektenphänomens ist wesentlich polemisch. Unter den Elementen, welche zu endlosen Diskussionen führen, findet man an erster Stelle die Frage nach der Realität der "mentalen Manipulation".

Bestritten von den Sektensympathisanten, ist die mentale Manipulation dennoch das Hauptwerkzeug, um Anhänger in Abhängigkeit zu bringen.

Ohne "mentale Manipulation" können Sekten nicht existieren - die mentale Manipulation beraubt ihr Opfer jeden freien Willens und jeder Fähigkeit der Analyse und versetzt es gegenüber den Reden der Manipulateure in einen Zustand völliger Aufnahmebereitschaft.

Dieser Umstand hat neulich die Strafrechtskommission der Schweiz bezüglich sektiererischer Abwege bewogen, eine neue Disposition für das Strafrecht vorzuschlagen, die darauf zielt, die Manipulation zu verbieten

"Wer wiederholt und systematisch physischen oder psychischen Einfluß auf andere ausübt mit der Absicht, deren Urteilsfähigkeit zu schwächen oder sie in einen Zustand der Abhängigkeit zu versetzen, wird mit Gefängnis oder mit einer Buße bestraft."

Im Bereich der gerichtsmedizinischen Psychiatrie schlagen wir unsere eigene Definition vor:

"Die mentale Manipulation ist die Gesamtheit der Maßnahmen, die darauf zielt, die Entscheidungsprozesse eines Individuums oder einer sozialen Gruppe durch die Anwendung von individuellen oder gruppenmäßigen physischen oder psychischen Techniken zu ändern, um es oder sie unter die teilweise oder vollständige Kontrolle des Verursachers der Manipulation zu bringen.

Angesichts dieser Definition stellt sich das Problem des Grades der Manipulation - sozial akzeptabel oder moralisch zu verurteilen (Veröffentlichungen, Unterricht,...).

Im Folgenden werden wir die reale und vollständige Abhängigmachung zum Zweck der Unterwerfung des Manipulierten betrachten, wie man sie in zwanghaften sektiererischen Gruppen beobachten kann.

Die Manipulation erfolgt in zwei Schritten:
I) Die Rekrutierung
II) Die Konditionierung

I) DIE REKRUTIERUNG

Die Rekrutierung eines Anhänger erfolgt in drei Phasen, in denen der Beitritt nach und nach vollzogen wird und gleichzeitig eine Form von intellektueller und affektiver Abhängigkeit erscheint. Schritt um Schritt wird der neue Anhänger verführt, überredet und fasziniert.

Die Verführung

Verführen bedeutet zu allererst gefallen, aber es bedeutet auch, von der Wahrheit abzuweichen. Die ganze Arbeit der Sekte zielt darauf hin, anstelle des grauen Alltags eine schillernde Utopie zu setzen. Der Rekrutierer-Verführer inszeniert eine sektiererische Illusion; er agiert wie ein Gaukler, um die potentiellen Anhänger anzuziehen; er bietet einfache Antworten auf komplexe Fragen an; er bestrickt den Gesprächspartner, um die Illusion eines affektiven Austausches zu erzeugen; er spielt beständig auf den Registern der Emotionen, indem er aus seinem Gespräch jede Logik entfernt; er setzt dem krankhaften Zustand der Realität die Perspektive einer idyllischen Liebe entgegen, die [angeblich] im Schoß seiner Gemeinschaft herrscht: Diese Phase der Verführung wird von einem ehemaligen Anhänger Moons "accrochage" (Fesseln) genannt..

Dies ist die meiste Zeit über ein Geschehen von Individuum zu Individuum, auch wenn - und das geschieht immer häufiger - der Boden durch vorhergehende Veröffentlichungen vorbereitet wird: Prospekte, Konferenzen, Zusendungen ... Um hingegen ein Produkt zu verkaufen, ist es unerläßlich, einen Kontakt mit dem potentiellen Käufer herzustellen.

Die Überredung

Die Überredung erfolgt zwischen zwei Akteuren: Dem Sender und dem Empfänger. Diese sind eine spezielle Beziehung eingegangen, deren Träger die Nachricht ist. Der Sender oder überzeugte Anhänger ist der Überredner; der Empfänger ist die Zielschiebe, der potentielle Anhänger; die Nachricht ist im Vortrag der Sekte enthalten, der durch den Sender transportiert wird.

Damit die Überredung wirksam wird, müssen die folgenden drei Elemente besonderen Bedingungen entsprechen. Das Ziel der Überredung ist es für den Sender, den Empfänger dazu zu bringen, einer bestimmten Meinung zuzustimmen, die in der Nachricht zusammengefaßt ist. Der Prozeß besteht aus mehreren Etappen: Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit, Formulierung, Integration der Nachricht, Annahme der Nachricht, Veränderung des Denkens und des Verhaltens.

Das Ganze ist bekannt unter der englischen Bezeichnung ELM (Elaboration, Likelihood, Model).

Das Spiel des Überredenden

Die Überredende spielt eine doppelte Rolle. Er ist ein spitzfindiger Redner, der durch einen zweideutigen Diskurs mittels Antworten und Demonstrationen überzeugt. Er ist auch der Betrüger, der vom Traum und von der Utopie wie vom Schmuck und von den Kostümen in einem Theater einer kollektiven Illusion spricht.

Er baut seine Kunst nicht auf der Vernunft und der Logik, sondern auf dem Affekt und den Gefühlen auf. Er zeigt nicht, sondern er drängt auf; er antwortet nicht, sondern er bringt in Unordnung. Er verletzt ständig den stillschweigenden sozialen Pakt der wahrhaftigen Kommunikation, die Voraussetzung der Aufrichtigkeit und der Wahrheit.

Seine ganze Dialektik zielt darauf, sein Projekt der Indoktrination zu verheimlichen. Er muß daher als real darstellen, was Lüge und Schwindel ist. Er inszeniert ständig eine Fabel, die Jagd auf die Wirklichkeit macht, indem er schrittweise den Kommunikationsbereich überwuchert. Das Ziel ist, die Einwilligung des anderen zu erreichen. Dies ist die erste wirklichen Etappe der Manipulation.

Eine der Feinheiten des Manövers besteht darin, glauben zu machen, daß die Mitgliedschaft vom Interessierten abhängt und durch seinen Wunsch offenbar wird. Diese perverse Methode ist der Ursprung der Schwierigkeiten, denen die Verwandten oder die Therapeuten gegenüberstehen, wenn sie versuchen, den oder die Betreffende davon zu überzeugen, daß es in eine Sekte "hineingezogen" wurde. Diese vorgetäuschte persönliche Freiheit stört die Bemühungen um die "Entindoktrinierung".

Die Faszination

Die Faszination ist ein treibendes Element der Mitgliedschaft, sie "beherrscht den Markt" Nach einer Phase der Zweifel ist der Kandidat endgültig von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt, wenn er der Hauptsache der sektiererischen Dynamik gegenübergestellt wird. Die Begegnung mit dem Guru (oder seinen Zeugen) überwindet seine letzten Hemmungen.

Es beginnt also eine neue Etappe des Prozesses der Indoktrinierung. Sie führt in die Beziehung zwischen dem zukünftigen Anhänger und der sektiererischen Gruppe einen neuen magischen Charakter ein. Die Beziehung entfernt sich nach und nach von der Realität, um sich im symbolischen Universum des Heiligen und Göttlichen zu etablieren. Diese Faszination entfernt aus dem Betreffenden den letzten schwachen Wunsch, sich dem Einfluß der Sekte und ihrer Mitglieder zu entziehen. Sie ist vom Wunsch nach einem vollständigen Engagement begleitet.

Die Faszination des Anhängers ist durch die symbolische Projektion auf den Guru begründet. Dieser ist mit einer übernatürlichen Macht ausgestattet, die an das Göttliche grenzt. In diesem Stadium beginnt sich der freie Wille des Rekruten angesichts des doktrinären Drucks, der auf ihn ausgeübt wird, zu ändern. Seine endgültige Bekehrung hängt vom Gleichgewicht ab, das sich zwischen der durch die Sekte ausgeübten zwingenden Kraft und den früheren Bindungen des Anhängers mit der Gesellschaft einstellt.

Die zwanghafte Überredung

Die Strategien der Überredung

Die Überredung ist auf der Fähigkeit des Überredners begründet, die Gelegenheit zum Ansprechen zu ergreifen. Normalerweise entspricht sie einer geistigen Disposition des Anzuwerbenden, der dazu neigt sich "anwerben zu lassen". Im Fall der Sekten jedoch ist die Überredung zwanghaft: Es handelt sich darum, dem zu Überredenden seiner ganzen freien Willen zu berauben, ihn in eine auferlegte Entscheidung hineinzudrängen.

Das Gespräch der zwanghaften Überredung stützt sich auf eine fundamentale Gegebenheit: Die Mystifizierung. Es handelt sich um einen vorgetäuschten Dialog, dessen Ziel nicht die Kommunikation, sondern die Bekehrung des Zuhörers ist. Die Strategie der Mystifikation besteht darin, schrittweise von der Realität in die Illusion überzugehen, ohne das Phänomen der Ablehnung auszulösen. Die Mystifikation des Dialogs stützt sich auf mehrere Elemente:

Eine der treibenden Kräfte des zwanghaften Überredung ist die Fähigkeit des Redners, das Irrationale akzeptabel zu machen. Wenn auch das Reale der Ursprung der Ängste und des Gefühls der Unvollständigkeit ist, der den Anhänger zur Sekte geführt haben, so gibt ihm das Irrationale Sicherheit, weil es alle Lösungen bietet.

Die Identifikation und die Imitation

Um zur Gruppe zu gehören, muß der Anhänger sein Verhalten dem der anderen anpassen. Diese Imitation löscht seine Individualität aus. Indem sie die aus dem freien Willen entstehende Unsicherheit durch aus dem Beispiel gewonnenes automatisches Verhalten ersetzt, eliminiert sie das Gefühl der Unsicherheit und ersetzt es durch die Dringlichkeit, eine Mission zu erfüllen.

Die Imitation erregt den Wunsch nach Wettstreit zwischen den Anhängern, die auf schnellstem Weg und auf die perfekteste Weise nach Erfüllung ihrer Aufgaben streben.

Die Verführung

Diese Phase ist nur die Verlängerung der Verführung, die während der Rekrutierung vorgenommen wurde.

Die Verführung stützt sich auf zwei komplementäre emotionelle Prozesse. Einerseits gibt es die Aktivierung eines positiven emotionellen Phänomens durch die Sympathie, welche der Sender auslöst - ein affektives privilegiertes System, das den Prozeß der Identifikation erlaubt. Andererseits unterstreicht die Verstärkung eines emotionellen negativen Phänomens die Konflikte, die den Rekruten in Gegensatz zu seiner üblichen Umgebung bringen. Das Love Bombing (Überschütten mit Freundlichkeit) des Senders auf den Empfänger wird von einem "Bombardement des Hasses" des Paares Sender-Empfänger bezüglich Dritte, Gesellschaft, Familie usw. begleitet.

Die Fesselung

Die Phase der Fessselung besteht ausschließlich daraus, den Betreffenden mit affektiven Bindungen zu fesseln, die ihm Sicherheit und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe geben. Der Rekrutierte muß überzeugt sein, daß er von jetzt an auf die Unterstützung jener Personen rechnen kann, die erklären, Sympathie für ihn zu empfinden. Die Sekte stellt sich also als ein Kokon, als eine Ersatzfamilie dar, die freundlicher und umfassender ist als die natürliche Familie.

Die Bekehrung

Es handelt sich um den Gipfelpunkt der sektiererischen Angleichung

Der zukünftige Konvertit gibt seine Verteidigung auf, um die Dissonanzen zu vermindern, die zwischen den Normen seines früheren Lebens und den neuen Regeln bestehen, die ihm angeboten werden.

Seine Bekehrung setzt voraus, daß er einem Kompromiß zwischen der Geschichte seiner Vergangenheit und seiner Zukunft zustimmt.

Die Bekehrung stützt sich auf eine Wette für den Anhänger. Es handelt sich darum, eine schmerzhafte Vergangenheit gegen einer schillernde Zukunft zu tauschen, ausgestattet mit einer körperlichen und seelischen Abhängigkeit von der Struktur. Die Annahmen dieser Wette bezeichnet den endgültigen Pakt des Engagements - "ohne Kritik" - gegenüber dem Guru. Der Bekehrungseifer des Schülers wird nicht nur der Beweis für seine Überzeugung sein, sondern auch ein Instrument der Verstärkung der Bindungen und ein Element des Zwanges.

Die Indoktrinierung

Es handelt sich um die Phase der Konsolidierung der Bekehrung.

Sie strebt danach, diese Reste des kritischen Geistes auszuschalten, die den Betreffenden noch beleben könnten. Die Indoktrinierung strebt nach einer immer stärkeren Integration des Individuums in das Organigramm der Sekte. Es handelt sich darum, den neuen Anhänger mit einer Vielzahl von Verpflichtungen einzudecken, die seinen persönlichen Spielraum ausschalten. Vom Rekruten wird der Anhänger zum Rekrutierer, vom Unterworfenen zum Verantwortlichen.

Hingegen hat der reale Zustand nur eine sehr weitläufige Beziehung zum angeblichen Zustand. Je mehr die Verantwortlichkeit im Schoß der Sekte zu wachsen scheint, desto mehr verstärken sich die Bande der Abhängigkeit. Die Abhängigkeit wird vielfältig: Der Anhänger hängt nicht nur hierarchisch von seinen Vorgesetzen ab, sondern auch moralisch von seinen Untergebenen und wirtschaftlich sowie sozial von der Struktur.

Techniken der zwanghaften Überredung

Diese kann man in vier Typen einteilen:

Die Techniken des Verhaltens: Sie bestehen darin, die Beziehungen des Individuums zu seiner Umgebung zu verändern, und streben danach, den Austausch des Anhängers mit seinem früheren Bezugssystem zu kontrollieren.

Die emotionellen Techniken: Diese Techniken bilden eine Empathie zwischen dem Individuum und der Sekte, indem sie ein beständiges emotionelles Klima erzeugen, das darauf zielt, alle affektiven Bindungen und alle Emotionen zu unterdrücken, die auf die Vergangenheit gerichtet sind.

Die kognitiven Techniken: Der Intellekt stellt die einzige Barriere gegen die sektiererische Ideologie dar. Die Strategie der Sekte besteht darin, die Informationskanäle mit falschen Daten zu sättigen. Gleichzeitig bemüht sie sich, jede kritische Haltung zu verunglimpfen.

Die Technik der Erzeugung dissoziativer Zustände: Diese erzeugen pathologische Zustände (halluzinatorische oder delirische) oder rufen sie wieder hervor, die sie dann in das Lehrgebäude der Sekte integrieren ( Bsp.: Ein Delirium wird zu einer "Beziehung zum Kosmos").

II) DIE KONDITIONIERUNG

Von der Erziehung zur Gehirnwäsche

In der klinischen Psychologie bedeutet Konditionierung "die Gesamtheit der assoziativen Maßnahmen, durch die es gelingt, beim Menschen ein neues Verhalten hervorzurufen".

Die Entfremdung

Das erste Symptom der Entfremdung ist der Verlust der eigenen Sprache des Individuums, die "sich nährt aus einem Reservoir, dessen Substrat die menschliche Angst ist und die das Wesentliche des Prozesses der persönlichen Entwicklung oder der narzistischen Funktion des Individuums darstellt". Die Entfremdung wird als "das Produkt eines Abbruchs der Kommunikation mit sich selbst" gesehen, eines "Abbruchs, durch den die Sprache sich nicht mehr aus dem Unbewußten ernähren kann."

In den Sekten bricht die Konditionierung in alle Felder der Aktivität ein. Sie wirkt sich auf drei komplementäre Weisen aus:

Diese Konditionierung bewirkt eine Änderung der Zustandes des Betroffenen.

Die Abhängigkeit von der Autorität

Illustriert am Milgram-Experiment - es handelt sich darum, ohne Vorbehalt einer anerkannten oder proklamierten Autorität zu gehorchen.

Die agentische Veränderung

Die Integration in die pyramidalen Struktur der Sekte und die Unterwerfung unter das hierarchische System bedingen eine Zustandsänderung beim Betroffenen.

Das zwanghafte System neigt dazu, jeden Wunsch nach Unabhängigkeit zu reduzieren. Diese "Einswerdung" der Gruppe verwirklicht sich nur durch eine Zustandsänderung des Individuums, was Milgram die "agentische Veränderung" nennt.

Die Integration in die Hierarchie ist nur durch eine interne Veränderung jeder Individualität möglich. Die individualisierten Kontrollen der Handlungen, die autonomen Überlegungen müssen schrittweise zugunsten der vom Befehlsgeber ausgegebenen hierarchischen Direktiven aufgegeben werden. Die progressive Strukturierung der zwanghaften Gruppe geht notwendigerweise durch eine Änderung der betreffenden Bereiche von der Autonomie zur Abhängigkeit über.

Die Zunahme des zwanghaften Charakters wird von einer zunehmenden Änderung des Individuums begleitet, das vom Zustand der totalen Autonomie in den totalen agentischen Zustand übergeht. Der Widerstand gegen die Konditionierung und gegen die Integration in ein zwanghaftes System entsteht aus der Konfrontation dieser beiden Aktionssysteme. Der Betroffene verliert schrittweise seinen freien Willen und seine Handlungsfreiheit zugunsten einer Abhängigkeit vom System; er sieht sich nicht mehr als ein handelnder Organisator und für seine Taten Verantwortlicher, sondern als ausführender Agent, jeder Entscheidungsverantwortlichkeit enthoben.

Aus dem agentischen Zustand ergibt sich ein Phänomen der Abstimmung, welches das Individuum dazu drängt, ohne Vorbehalt alles zu akzeptieren, was von der Autorität ausgeht, während die äußeren Elemente reduziert oder völlig ignoriert werden. Milgram bescheinigt auch die Existenz einer potenziellen ideologischen Form, die er die "Definition der Situation" nennt.

Alle Handlungen erlangen eine eigene Bedeutung, welche direkt aus dem Rahmen kommt, in welchem sie ausgeführt wurden, und dieser Rahmen wurde selbst implizit durch die Normen definiert, die mit Zustimmung des hierarchischen Systems erstellt wurden. Einen Anhänger kann keine Handlung ausführen, wenn sie nicht in das dialektische und ethische Corpus integriert ist, da sich aus der Akzeptanz der Autorität des Gurus und aus der Macht der Sekte ableitet. Eine Handlung, die von der Allgemeinheit verurteilt wird, kann im Sektenerleben als eine Prüfung des Glaubens oder der Begeisterung im Kampf gegen das äußere Übel ausgeführt werden.

Die ethische und ideologische Abdankung stellt das kognitive Fundament des Gehorsams dar. Wenn die Welt so ist, wie die höchste Autorität sie definiert, ändern die Handlungen ihre Bedeutung, und alle Handlungen, die sich den Respekt der Autorität verschaffen, werden legitim. Der agentische Zustand hat den Verlust des Sinnes für Verantwortung zur Folge. Der Betreffende fühlt sich für seine Taten nicht mehr verantwortlich, denn er ist der leitenden Autorität verbunden und von ihr abhängig. Die Ethik und der kritische Sinn verschwinden nicht, aber sie ändern sich beim Kontakt mit den neuen Referenzen. Andererseits verschwindet das Gefühl der Verantwortlichkeit vollständig zugunsten der Zufriedenheit, die aus einer guten Pflichterfüllung erwächst.

Das Zeichen des agentischen Zustandes ist der Ersatz des früheren Ideals von mir selbst durch das sektiererische Ideal.

Der agentische Zustand erlaubt also der Hierarchie, von Seiten des Betreffenden einen Akt des Gehorsams zu erwarten.

Damit es jedoch Gehorsam ist, wird noch eine Angleichung zwischen dem gegebenen Befehl und dem "Niveau" des verwirklichten agentischen Zustande benötigt.

Die Aufrechterhaltung des agentischen Zustandes

Ist einmal der agentische Zustand erreicht, dann wird sich die zwanghafte Struktur verstärken, um den Betreffenden in diesem Zustand zu halten. Folglich erzeugt die Konfrontation zwischen der persönlichen Ethik und den Zwängen des Gehorsams in ihm einen dauernden Konflikt, denn die überwundenen Tabus nehmen an Zahl und an Schwere zu.

Seine kritische Analyse verleitet ihn schnell dazu, allzu verwerfliche Taten zu verweigern ... wenn die Huldigung keine permanente Praxis war.

Der wesentliche Punkt hier ist, daß man vom Anhänger keine persönliche Entscheidung verlangt. Nur wiederholter Entscheidungszwang stellt für den agentischen Zustand ein destablisierendes Element dar: Es ist unerläßlich, daß man den Gehorsam in das zeitliche Kontinuum hineinstellt. Ferner wird im Schoß der Sekte das Infragestellen des Gehorsams mit dem Verlust des erreichten Status sanktioniert. Der agentische Zustand wird daher durch die früheren Privilegien und die Angst vor der sich zuzuziehenden Züchtigung verstärkt. Dies ist es, was man gewöhnlich Zuckerbrot und Peitsche nennt. Den Gehorsam zu verweigern heißt die Identifikation mit dem Guru zu verweigern und die potentiellen affektiven Bande zwischen dem Guru und dem Anhänger zu zerbrechen.

Die Techniken der Konditionierung

Es gibt keine Konditionierung, die nur auf einer einzigen Technik beruht. Damit die Konditionierung funktioniert, ist es nötig, ein Bündel von konvergenten Techniken - physischen und psychischen - zu benutzen.

Es gibt keine permanente Konditionierung - das Aufhören der Konditionierung führt über kurz oder lang zu einer erneuten Konfrontation mit der Realität und zu einem Abstumpfen der Konditionierung, außer im Fall einer irreversiblen mentalen Pathologie (z.B. Psychose).

Wenn die theoretische Darstellung dessen, was man die mentale Manipulation nennt, besonders schwierig ist, so ist umsomehr ihr Nachweis oft unmöglich, auch wenn sie durch ihre klinischen Ergebnisse wahrgenommen wurde.

Abschließend betonen wir, daß sich die mentale Manipulation an der Grenze zwischen der gerichtsmedizinischen Psychiatrie und der klinischen Kriminologie befindet und daß das Studium des Phänomens zur Erleuchtung dieser beiden Disziplinen es erlaubt, vorzubeugen, zu heilen und manipulatorisches Verhalten zu bestrafen.

Dr. Jean Marie Abgrall
Nationalexperte am Kassationsgerichtshof
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