Allers 16/93, Seite 60 - 61: Meine eigene Geschichte.

Mein Bruder ertrug es nicht mehr - er erhängte sich auf dem Dachboden !

Die Sekte hat mir das Leben geraubt !

In diesem Lande, so wird behauptet, herrscht Religionsfreiheit, aber das gilt nicht für alle. Meine Eltern waren in einer strengen kleinen Sekte aktiv und fragten mich nie, was ich wollte. Mein Leben ist kein lebendiges Leben. Ich existiere nur - in ständiger Angst, wohin mich meine Sünden am jüngsten Tage führen werden.

Kommst du, Maria ?

Ich fahre zusammen, als ich die Stimme meines Mannes auf dem Gang unten höre. Ich fahre mit einer feuchtkalten Hand schnell über mein Haar und werfe einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Das Spiegelbild zeigt eine bleiche Frau in den 30-ern. Das Haar ist immer noch schön, und es trifft mich, daß es im Grunde verwunderlich ist, daß es nicht schneeweiß ist. Wird es das nicht oft aus Sorge und Kummer ? Sehe nur ich die Sorgen und Ängste in meinen Augen ? Jedenfalls fragt mich niemand, wie es mir geht, und ich habe lebenslange Erfahrung darin, nicht zuviel zu sagen, wenn es nicht notwendig ist. Ich gehöre einer Sekte und einer "Gemeinschaft" an, wo die Frauen in den Versammlungen schweigen und ansonsten das Leben dem Manne, den alten Eltern und der Sektenarbeit widmen. Ja, natürlich auch den Kindern, aber es war mir nie vergönnt, Kinder zu haben. Ich liebe Kinder, und gerade deshalb bekam ich wohl keine. Denn ich habe gesündigt, und da wird man bestraft. Wie lange kann ein Mensch die Strafe aushalten und mit der Furcht vor der ewigen Verdammnis leben ?

Man sagt, in diesem Lande herrsche Religionsfreiheit. Nicht für alle ! Ich wurde in eine Familie hineingeboren, in der mein Glaube und mein Leben schon festgelegt waren, bevor ich das Licht der Welt erblickte. Meine Eltern waren aktive Mitglieder in einer verhältnismäßig kleinen Sekte, und lange bevor ich sprechen oder laufen konnte, wurde ich dorthin mitgenommen. Ich saß auf der "Frauenseite" auf dem Schoß meiner Mutter und spielte mit den Fransen ihres Kopftuches, wenn die Ansprachen und "Drohungen" des Predigers lange dauerten. Ich lernte laufen und sprechen. Es wurde mir im Großen und Ganzen gesagt, was ich sprechen, glauben und meinen sollte, und ich wehrte mich nicht dagegen, daß ich immer diese unschicken halblangen Röcke anziehen mußte. Mein Haar wuchs und wurde zu zwei strammen Zöpfen geflochten. Aber Zöpfe hatten andere ja auch.

Als ich in die Schule kam, wurde mir klar, daß ich auf eine gewisse Weise "anders" war. Ich mußte bei Schiausflügen mit dem Rock gehen, und das weckte ein gewisses Aufsehen und viel Hänselei und Gelächter. Ich hatte keine gute Erklärung dafür, wenn die anderen quengelten und fragten. Frauen müßten Röcke anziehen, das sei Gottes Wille, sagte mein Vater. Aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, das weiterzusagen. Mein soziales Leben lebte ich in der Sekte, unter anderen Sektenkindern. Und das akzeptierte ich, denn was sollte ich anderes tun ?

Als ich vier Jahre alt war, bekam ich einen Bruder. Ich liebte ihn vom ersten Augenblick an und spielte mit ihm, sobald sich die Gelegenheit ergab. Aber es sollte sich erweisen, daß Andreas nicht meine schweigsame, ergebene Einstellung hatte. Er wollte immer wissen warum, und in dem Maße, als er aufwuchs, begann er zu protestieren. Das fiel nicht in gute Erde, und er bekam ständig Hiebe. "Wen man liebt, den züchtigt man", steht in der Schrift. Ich konnte es nicht fassen, daß jemand andere aus Liebe schlagen konnte. Aber es geschehe, um sündige Gedanken und Ideen aus seinem Kopf herauszubringen und seine unsterbliche Seele zu retten, sagte mein Vater.

Obwohl dies in der Sekte nicht gerne gesehen wurde, erhielt ich die Erlaubnis, das Gymnasium zu besuchen. Frauen benötigten streng genommen keine Ausbildung, denn diese sollten sich in der Sekte verheiraten und für Nachwuchs sorgen. Aber aus dem einen oder anderen Grund erlaubte mein Vater es mir, und ich stürzte mich über die Bücher. Ich liebte Geschichte und Norwegisch und hatte meine besten Stunden, wenn ich mich in einen Roman oder in eine Biographie vertiefte.

Mein Bruder wuchs zu einem langen schlacksigen Teenager heran. Er hatte im Großen und Ganzen gelernt zu schweigen, aber in seinen dunklen Augen glühten Frustrationen. Ab und zu sah ich in seinen Augen nackten Haß, und das erschreckte mich. Denn in unserer Welt gab es für Aufruhr oder Ausbruch keinen Raum. Er liebte es, in den Wald und auf die Felder zu gehen. Die Natur gab ihm den Frieden und die Freiheit, die ihm das tägliche Leben versagte. Er wußte das Meiste über die Vögel des Waldes, und sogar Füchse fraßen ihm aus der Hand.

- Ich möchte gerne ein Vogel oder ein Tier sein, Maria, sagte er zu mir. - Stell dir vor, frei unter dem großen Sternenhimmel zu leben und frei zu sein ... immer frei !

Es war ganz sicher Gotteslästerung, sich so etwas zu wünschen, aber ich widersprach ihm nicht. Ich verstand ihn, und ich liebte ihn. Ich drückte ihn an mich, wenn er vor Wut, Machtlosigkeit und Verzweiflung weinte, und ich versuchte, ihn vor den schlimmsten Konfrontationen mit meinem Vater zu bewahren. Und da ich von meiner Samstagsarbeit genügend Geld beiseite gelegt hatte, kaufte ich ihm einen wirklich guten Fotoapparat. Ich wußte, das es sein größter Wunsch war, denn er wollte so gerne die Vögel in ihrer Freiheit da draußen fotografieren. Wir erwähnten das nicht unseren Eltern gegenüber, denn wir ahnten vielleicht, daß das nicht auf so gute Erde fallen würde. Aber es wurde schließlich entdeckt und führte zu einer Hölle ! Denn das Freiluftleben und Fotografieren führten seine Gedanken weg von Gott ! Das Ganze wurde in der "Gemeinde" zur Sprache gebracht und alle beteten für den "sündhaften Sohn" meines Vaters. Der Fotoapparat wurde ihm weggenommen, und an diesem Abend leuchtete der Haß offen in den Augen meines Bruders, aber ich glaube, daß nur ich es sah. Er schlich sich leise in mein Zimmer, als es im Hause ruhig geworden war. Ich hatte mich niedergelegt, und er setze sich auf die Kante meines Bettes und nahm meine Hand.

- Du bist der einzige Mensch, den ich liebe, Maria, sagte er leise.

- Danke dafür, daß du mir nahe warst, das war niemand anderer, nicht einmal Gott. Laß sie dich nicht kaputtmachen, große Schwester. Schau die Vögel an. Sie schweben da oben in der großen Stille und sind dem Himmel und Gott näher als wir es jemals waren. Lerne fliegen, Maria !

Er war weg, bevor ich etwas sagen konnte, und am nächsten Morgen war er tot. Er hatte sich oben auf dem Dachboden erhängt ...

Nicht einmal da brach ich aus. Ganz im Gegenteil wurde ich noch fester gebunden, denn meine Eltern ertrugen natürlich nicht noch mehr Kummer. Doch sie waren es, die ihm das Leben genommen hatten, dachte ich, und ich fühlte die Angst wegen meiner sündigen Gedanken wie einen Knoten im Bauch. Aber vielleicht war sein Selbstmord der Grund dafür, daß mein Vater mir erlaubte, die Lehrerschule zu besuchen.

Ich wurde Lehrerin, und die Arbeit in der Schule wurde das Licht in meinem Leben. Ich hatte die Schüler gern, ich liebte es, zu helfen und zu unterrichten. Ich nahm an Sporttagen und auch an Schitagen teil. Ich ging von daheim weg in meinem dunklen Rock und schmuggelte mit mir eine Schihose in der Tasche ! Sünde, Sünde ! Und die Angst, von jemand daheim oder in der Gemeinde entdeckt zu werden, verfolgte mich. Die Angst vor der Verdammnis auch. Dennoch tat ich es.

So bekamen wir einen neuen Rektor. Er war 15 Jahre älter als ich, hochgewachsen, munter und sehr unkonventionell. Was ihn veranlaßte, in meine Richtung zu schauen, weiß ich nicht. Er hatte ein ziemlich "ausschweifendes" Leben gelebt, vertraute er mir an.

- Du bist die Reinste und Unschuldvollste, die ich je getroffen habe, sagte er einmal. -Ich glaubte, nur Engel wären so, und sollte ich eine Art von ewigem Leben erlangen, dann nur durch dich !

Ich war verloren ! Ich war 24 Jahre alt, und hatte noch niemals so etwas wie einen Kuß erlebt ! Nun wurde ich in einen Mahlstrom von verbotenen Gefühlen und Lüsten hineingezogen, und ich konnte nicht widerstehen. Ich war niemals einem Himmel und einem Paradies näher gewesen als in den gestohlenen Stunden mit Henrik. Angst und Lust rasten in meinem Inneren, aber ich ließ ihn mich küssen, ließ ihn meine Bluse öffnen und seine warme Hand auf meine Brust legen. Ich log daheim. Sagte, es sei Konferenz oder Planung, und verbrachte statt dessen Stunden auf dem Rücksitz von Henriks Wagen. Ich würde für meine Sünden in der Hölle landen, aber ich durfte auf jeden Fall eine kleine Weile dafür leben !

Es zersprang wie eine Seifenblase ! Ich erfuhr ganz unerwartet, daß Henrik mehrere Freundinnen hatte ! Ich sank und sank ...... Ich fühlte mich gebraucht und mißbraucht und ging fast unter in Machtlosigkeit und Kummer. Ich war sein "Spiel-Engel" gewesen, das war alles ! Und so kam der Zusammenbruch. Das wurde vertuscht und ich blieb daheim liegen. Wäre ich ins Krankenhaus gekommen, so hätte ich wohl psychiatrische Hilfe erhalten. Aber niemand half mir, und ich konnte niemandem sagen, was meinen Zusammenbruch verursacht hatte. Mein Vater meinte, es käme wahrscheinlich davon, daß ich zuviel an die Schule und zu wenig an Gott dachte. Ich sollte in der Schule aufhören und mein Leben Gott und der Gemeinde weihen !

Daß ich in dieser Zeit nicht unterging ! Ich lag den ganzen Tag zitternd unter der Decke, während die Angst in mir zerrte und riß. Was wäre, wenn sie es erführen ! Ich versuchte zu beten, aber niemand hörte mich und niemand antwortete mir. So begann ich statt dessen mit meinem toten Bruder zu reden. Ich fühlte oft, daß er im Zimmer bei mir war, und da wurde ich ruhiger.

Ich kam wieder auf die Beine, weißer und bleicher als jemals zuvor. Ich hatte mit meinem stummen Gott ein Abkommen geschlossen. Wenn er mir vergab und mich nicht in der Hölle landen ließ, dann würde ich alles tun, um so zu leben, wie Er es wünschte. So löschte ich mich selbst aus und wurde "vollkommen". Meine Eltern waren so erfreut, und die Gemeinde drückte mich freundlich an ihr Herz, wenn es da überhaupt Herzen gab ...

Als nun mein Vater sagte, daß er einen "prächtigen" Mann für mich gefunden habe, sagte ich nichts dagegen. Was hätte ich sagen sollen ? Mein ganzes Leben war eine einzige große Lüge, und ich war eine verlorene Seele, die darum kämpfte, der Hölle zu entgehen. Ich stand gebrochen in der Gemeinde, im Alter von 26 Jahren. Der weiße Schleier flatterte um meinen Kopf, hohnlachend. Weiße Braut ... ich, der ich schwarz wie die Erbsünde war.

Ich habe nun wohl fünf Jahre in der Ehe gelebt. Ja, gelebt ... ich lebe nie ! Ich existiere nur. Ich bin die gute, prächtige Maria, die sich um ihren Mann kümmert, mit ihm Tisch und Bett teilt, ich fühle mich krank vor Machtlosigkeit, Abscheu und Angst. Ich bin niemand, denn die wirkliche, lebende Maria, die ich unter anderen Verhältnissen und Umständen hätte werden können, hat nie die Möglichkeit erhalten, zu leben und sich zu entfalten. Ich fühle auf eine gewisse Weise, daß mir das Leben geraubt wurde, und wofür lebe ich dann ? Öfter und öfter schlich sich der Gedanke im letzten Halbjahr in mich hinein ... wozu lebe ich ? Vielleicht weil ich es nicht wage zu sterben, denn wer weiß, ob der stumme Gott sich an seinen Teil der Vereinbarung hält und mich nicht in der Hölle brennen läßt ?

Bisweilen denke ich, daß ich wegkommen muß ... ausbrechen aus diesem Leben und aus der Gefangenschaft, in der ich lebe. Ich bin erwachsen und ich habe eine Ausbildung. Ich könnte es auf eigenen Beinen schaffen. Aber dann sehe ich ein, daß das nicht so einfach ist. Dreißig Jahre im "Gefängnis" haben mich zerstört. Jahre mit Gehirnwäsche, Angst und Verschweigen haben das aufgebraucht, was ich an Selbstvertrauen, Mut und Lebenswille nötig gehabt hätte.

Mein Blick fällt auf ein Bild auf der Wand. Es zeigt einen Hühnerhabicht in majestätischem Schweben über einem entzückend schönen Herbstwald. Mein Bruder hatte das Bild aufgenommen, aber das weiß nur ich. Sonst würde es wohl nicht hier hängen dürfen. Ich fand es, als ich sein Zimmer nach der "Tragödie" aufräumte, und ich versteckte es ... wie einen Schatz. "Lerne fliegen, Maria", hatte er gesagt.

Aber niemand kann fliegen, wenn seine Flügel beschnitten sind.

Übersetzung: Friedrich Griess