"Trouw" (Amsterdam) vom 2.3.96, Seite 9:

In der Welt des absoluten Gehorsams blühen die Herrscher.

von Ruud van Haastrecht und Co Welgraven

ANTWERPEN, AMSTERDAM. Der eine spricht von einem hölzernen Stock, der zur Warnung der Kinder vor dem Fenster hängt, der andere von einer Rute aus einem Bündel Birkenzweige. Über die Art und Weise mögen verschiedene Versionen die Runde machen, indes ist man sich darüber einig, daß in den Familien der Norwegischen Brüder die Kinder viele Schläge bekommen. Manchmal bis aufs Blut. Heißt es in der Bibel nicht: "Wen man liebt, den schlägt man" ?

Die Kinder selbst finden das nicht seltsam, weiß Audun Erdal, seit Oktober Prediger in der Norwegischen Seemannskirche im Antwerpener Hafen. "Es ist ein alter norwegischer Brauch, Kinder mit einem Bündel Birkenreisig zu züchtigen. In modernen norwegischen Familien ist das längst abgeschafft, aber in den Familien der Norwegischen Brüder ist es bis zum heutigen Tag die Regel. Die Kinder denken, daß dies zur Erziehung gehört und daß es gut für sie ist."

Vor den dunklen alten Holztafeln im Konsistorium der Seemannskirche an der Antwerpener Italiëlei erzählt Pastor Audun Erdal von seinen ersten Erfahrungen mit der merkwürdigen religiösen Gruppierung Norwegische Brüder. Sein Lehrer an der Volksschule war Mitglied der "Smiths Freunde", wie die Gemeinschaft dort heißt, ebenso wie eine Anzahl Mitschüler.

"Was mich vor allem faszinierte, war, daß die Kinder ein so eingeschlossenes Leben hatten und auch in der Schule nur Kontakt mit anderen Kindern der Norwegischen Brüder hatten. Ich hatte Mitleid mit ihnen. Sie durften nicht mit uns Schifahren gehen, sie hatten daheim kein Fernsehen, die Knaben durften nicht fußballspielen, die Mädchen mußten auch im Winter Röcke tragen, es war sehr streng. Sie mischten sich nicht unter andere Kinder, sie standen immer ganz abgetrennt auf dem Spielplatz."

Zur Zeit seines Theologiestudiums an der freien Fakultät der Universität Oslo kehrte seine alte Faszination wieder zurück. Er beschloß, die Norwegischen Brüder zu studieren, und wurde so der erste Wissenschaftler Europas, der sich auf diese Sekte spezialisierte, die in der vergangenen Woche in den Niederlanden durch den Sittenskandal in der Schulgemeinschaft in Twentse Rijssen erneut in die Schlagzeilen kam. Der beteiligte Religionslehrer, selbst ein Norwegischer Bruder, soll sich zehn Jahre lang während Jugendwochenenden der Glaubensgemeinschaft an Knaben vergriffen haben. Die Angelegenheit wurde durch die Leitung 'im eigenen Kreis' gelöst.

Erdal läßt es nicht dabei sein. Auch in Norwegen kommen Dinge wie sexueller Mißbrauch und Inzest innerhalb der Bruderschaft regelmäßig vor, weiß er zu melden. Und auch in dem Land, wo die Sekte vor neunzig Jahren gegründet wurde, kommen diese Verfehlungen gewöhnlich nicht an das Tageslicht. "In Norwegen haben die Opfer keine Anzeige erstattet. Sie hatten nicht die Kraft dazu".

Die Norwegischen Brüder wurden durch die Berichte über Kindesmißhandlung, sexuellen Mißbrauch und Inzest im eigenen Kreis, welche in den letzten Jahren an die Oberfläche kamen, ins Herz getroffen. Sie sind gerade darauf stolz, daß sie ein glückliches Familienleben haben, und setzen das bei ihrer Missionsarbeit ein, die sie bis an alle äußersten Enden der Erde verrichten.

Erdal zeigt eine Weltkarte, auf welcher sogar Orte wie Peking und Honkong einen roten Punkt haben, als Zeichen, daß auch dort Zusammenkünfte der Norwegischen Brüder stattfinden, deren Mitgliederzahl er auf zwanzigtausend schätzt.

Erdal: "Die Smith Freunde besuchen bei ihren Missionsreisen fortwährend andere Christen. Denen sagen sie dann: 'Kommt zu uns und seht, was wir gefunden haben'. Sie weisen dann darauf hin, daß es bei ihnen keine Abspaltungen gibt, daß sie allein nur aus glücklichen Familien bestehen und daß keine Ehescheidungen vorkommen."

Er weiß auch wohl etwas Positives über die Norwegischen Brüder zu vermelden, findet __________________________________________________________________________

Ein bekehrter Norwegischer Bruder kann überhaupt nicht sündigen.

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er. "Bei den Smiths Freunden gibt es auch viele einfache gottesfürchtige Menschen, die sich in der Bewegung wohlfühlen und denen es gelingt, sich darin gut zu verhalten. Die gottesfürchtigsten Menschen sind die gewöhnlichen Gläubigen, die Basis. Ich möchte die Menschen auch nicht von ihrem Glauben abbringen, selbst wenn ich ihrer Theologie kritisch gegenüberstehe. Aber je höher im System, desto schlimmer wird es".

Das Wesentliche an der Lehre der Norwegischen Brüder ist, daß ein bekehrter Mensch sündenlos leben kann. "Das ist für Katholiken und Protestanten eine ganz seltsame Behauptung", sagt Erdal dazu. So pflegte der im Jänner verstorbene geistliche Leiter der Bruderschaft, Sigurd Bratlie sen., auf der vielbesuchten Zusammenkunft im südnorwegischen Brunstad stolz zu erzählen, daß weder er noch seine Frau seit dem Beginn des zweiten Weltkrieges gesündigt hätten. Norwegische Brüder sagen dazu gerne: 'In anderen Kirchen sprechen sie über das heilige Leben, wir leben es tatsächlich, bringen es in die Praxis'

Leider gelingt es nicht jedem Norwegischen Bruder, so sündenlos zu leben wie Herr und Frau Bratlie. Das krampfartige Streben nach der hohen Norm und die Erfahrung, daß das nicht glückt, bildet dem Seemannsprediger zufolge einen fruchtbaren Nährboden für Verfehlungen. "Der Fall liegt dann sehr nahe", sagt er mit einem Hinweis auf den Apostel Paulus, welcher die Gemeinde von Korinth warnte: "Wer meint zu stehen, sehe zu, daß er nicht falle."

"Sie müssen soviel verleugnen, was menschlich ist, daß sie leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn jemand sich fortwährend verleugnen muß, kann es geschehen, daß er ab und zu die Kontrolle verliert."

Die Glaubenslehre mag dann Praktiken wie sexuellen Mißbrauch und Inzest auf das Strengste verbieten, das Klima innerhalb der Gemeinschaft bildet, Erdal zufolge, kein Hindernis: "Kinder sind den Älteren ganz untertänig, Frauen dienen dem Mann zum Gehorsam. Die Norwegischen Brüder haben ein fürchterlich schlechtes Frauenbild. Die Folgen können tragisch sein."

Wenn solche Mißstände innerhalb der Gruppierung ans Licht kommen, unternimmt die Leitung alles, um sie intern zu bereinigen. Erdal: "Ich neige dazu, zu sagen, daß es in der Struktur der Smiths Freunde liegt, solche Dinge zu verschweigen. Das Interesse der Gruppierung zählt höher als das Interesse des einzelnen, des Opfers. Man verschweigt die Wahrheit und sie darf nicht nach außen dringen".

Bedrohlich für die Sekte ist, daß Anhänger austreten und die schmutzige Wäsche nachträglich hinausgehängt wird. In den norwegischen Zeitungen sind, ebenso wie in der niederländischen Presse, "in den letzten Jahren eine Menge häßlicher Dinge herausgekommen, die früher zugedeckt wurden", sagt Erdal.

Daher unternimmt die Leitung alles, was sie kann, um zu verhindern, daß Menschen austreten. "Es wird ein kolossaler psychischer Terror ausgeübt. Vor allem auf Menschen, die noch innerhalb der Gruppe leben und die auf dem Wege hinaus sind, aber auch auf Menschen, die bereits ausgetreten sind."

Das beginnt subtil, sagt Erdal. Gläubige, die in den Augen der 'Ältesten' verdächtigt werden, werden bei den Zusammenkünften dadurch erniedrigt, daß sie öffentlich von der ersten in die letzte Bank verwiesen werden. "Oder sie bekommen zu hören, daß sie während einer bestimmten Periode bei den Zusammenkünften nicht willkommen sind."

Wenn sich solche Gläubige dann der 'unfehlbaren Leitung' noch nicht fügen wollen, werden sie ohne Angabe von Gründen 'ausgestoßen'. Und das ist die schwerste Strafe. Denn den Anhängern der Norwegischen Brüder wird andauernd vorgehalten, daß es außerhalb der Gruppierung kein Heil gibt. Außerdem spielt sich das gesamte soziale Leben innerhalb der Sekte ab. Denn das ist die Regel.

Wenn sie austreten oder ausgestoßen werden, kommen sie direkt in eine große Leere und Einsamkeit. Erdal: "Familien werden so gespalten, auseinandergerissen. Diejenigen, welche ihr ganzes Leben in der Bewegung verbracht haben, haben nichts mehr. Sie leben unter schrecklichem Druck und kommen gegen diesen Druck nicht auf. Und sie können von nirgendwo Hilfe ___________________________________________________________________________

Wer alles Menschliche verleugnen muß, verliert die Kontrolle

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erhalten, weil ihr ganzes (soziales) Netzwerk sich innerhalb der Gemeinschaft abspielt. So gibt es viele einsame Tragödien".

Für die Zurückgebliebenen sind die Ausgetretenen 'geistlich tot'. "Sie sind also geistlich verloren, aber man kann auch das Wort 'tot' gebrauchen", sagt Erdal.

Menschen, die aus den Norwegischen Brüdern ausgetreten sind, berichten unheimliche Dinge, weiß der Prediger. "Sie vergleichen das ganze System mit dem Kommunismus in Osteuropa. Manchen zufolge ist es noch ärger. Die Gemeinschaft ergreift völlig Besitz von einem."

Der Österreicher Friedrich Griess weiß darüber mehr zu erzählen. Vor dreizehn Jahren trat seine Tochter, ein fröhliches gesundes Mädchen, den Smiths Freunden bei. Seitdem führt er einen einsamen Kreuzzug gegen die Gruppe, die seine Tochter in seinen Augen psychisch zerstört hat. Viermal war sie in psychiatrischer Behandlung, einmal hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen.

Griess hat selbst ein Pressebüro errichtet (*), das gefragt oder ungefragt Warnungen vor Sekten abgibt, darunter vor den Smiths Freunden. Er gilt schon seit Jahren bei der Bruderschaft als "die Stimme Satans".

Als am gefährlichsten an der Norwegischen Bruderschaft findet Griess, daß keine interne Kritik möglich ist. "Es wird absoluter Gehorsam gefordert. In ihren Schriften steht: 'Gehorsam ohne zu denken'. Eine solche Gruppierung zieht immer Menschen an, die herrschen wollen."

Er zieht einen Vergleich mit der römisch-katholischen Kirche, der er selbst angehört. "Meine Kirche ist auch hierarchisch, aber wir kennen Kontrollmechanismen Innerkirchliche Kritik ist möglich. Bei den Norwegischen Brüdern ist Kritik an der Leitung die größte Sünde, die man begehen kann. Das macht die Leitung machtgeil".

Eine Probe davon war der ordinäre Machtkampf in den letzten Jahren um die Nachfolge des hochbetagten Leiters Bratlie, Norwegischer Bruder von der ersten Stunde an. Schlußendlich erlangte der Enkel des Gründers Johan Oscar Smith, Kaare Smith, die Oberhand.

Erweckung

Sein Sieg fiel mit einer durch ihn stark geförderten 'Erweckung' unter den Jüngeren zusammen, denen die Älteren nicht radikal genug waren. Griess: "Die Erweckung ging zusammen mit neuen Gebräuchen vor sich, wie das Brüllen und Schreien bei Zusammenkünften und das Erheben der rechten Hand. Ältere verweigerten das. Es gleicht zu sehr dem Hitlergruß."

Die Erweckung bedeutet, daß die Gläubigen mit doppelter Kraft gegen die Sünde ankämpfen. Wegen aller Ereignisse rund um die Erweckung hat eine unbekannte Anzahl von Menschen die Bruderschaft verlassen. Die Norwegischen Brüder selbst halten diese Anzahl für mehr als tausend. Griess ist eher geneigt, den Kritikern zu folgen, welche die Anzahl der Ausgetretenen auf 1500 bis 2000 schätzen.

Ihm zufolge versucht die neue Leitung nun, die Erweckung zu bremsen und die Abgeirrten zurückzugewinnen. "Denn durch die Erweckung sind Dinge geschehen, die dem Ansehen der Gruppierung geschadet haben. Sie sind in Norwegen mehrmals negativ in die Nachrichten gekommen."

Friedrich Griess und Seemannsprediger Audun Erdal haben nicht lange über die Frage nachzudenken, welche Art von Menschen sich durch die Norwegischen Brüder angesprochen fühlen. "Ich bin sicher, daß bei den Smiths Freunden viele Psychopathen sind", sagt Erdal. "Und es gibt viele Leiden mit psychopathischen Zügen. Griess sagt wortkarg: "Es ist ein geistliches Irrenhaus".

Übersetzung: Friedrich Griess

(*) Anmerkung: ich habe selbst kein eigenes Pressebüro, sondern bin Pressereferent der österreichichen "Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren".