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5.3.2001

Offener Brief an Sigurd J. Bratlie

Derzeit sind es etwa 30 Jahre, seit ich die Gemeinde verließ, und ich habe das Bedürfnis, ein wenig zurückzublicken, meine Gedanken zu ordnen und etwas näher zu erforschen, was es war, das ich verließ. Vielleicht werde ich im Jahr 2001 die Dinge in einem anderen Licht sehen als 1971? Ich möchte sehen, was die Jahre aus mir gemacht haben und was sie eventuell mit der Gemeinde gemacht haben. Durch verschiedene Gespräche habe ich ein wenig von der Spaltung, alternativ "Erweckung" genannt, zu Beginn der Neunzigerjahre gehört, aber das war nur stückweise Information.

Von meinem eigenen Bedarf aus, die Gedanken zu ordnen, nahm ich zu Beginn des Januar mit Sigurd Johan Bratlie Kontakt auf und bestellte etwas Literatur vom Verlag Verborgene Schätze. Dies wurde mit einem freundlichen Gruß schnell und genau geliefert. In den vergangenen 3-4 Wochen habe ich diese Literatur durchpflügt. Am letzten Freitag, dem 2. März, wurde ich auf die Internetseite forlosning.com aufmerksam gemacht, und am gleichen Tag wählte ich sie an, völlig unwissend, was ich finden würde. Ich gelangte schnell zur Korrespondenz zwischen Alf Gjøsund und Sigurd Johan Bratlie, die mir alarmierend erschien. Spontan setzt ich mich hin und schrieb ein längeres Mail an Sigurd Johan mit etwas konkreter Rückmeldung. Ich glaube inzwischen, daß das, was ich schrieb, für die Debatte und die Debattanten von Nutzen sein könnte. Die Debatte ist bereits an die Öffentlichkeit gedrungen, deshalb entschließe ich mich, mein Schreiben in der Internetseite der Forløsning zu veröffentlichen. Mir scheint, es gäbe einiges zu sagen, um die Debatte in ein besseres Geleise zu führen. Persönlich habe ich mehr Vertrauen auf individuelle, vortragsfreie Gespräche. Dies würde der Sache dienen, setzte aber den Willen zum Verstehen der gegenseitigen Ansichten voraus.

Lieber Sigurd Johan

Danke für die zugesandte Literatur, die ich mit größtem Interesse gelesen habe. Ich beginne, "in die Jahre zu kommen", und habe das Bedürfnis, etwas zurückzublicken. U.a. möchte ich das, was ich 1972 verließ, besser verstehen und vielleicht sehen, was diese 30 Jahre mit mir gemacht haben und was sie damit gemacht haben, was ich damals verließ. Abgesehen von der Gedächtnisnummer für deinen Onkel Aksel Smith und das Blatt mit dem Nekrolog von Elihu Pedersen hatte ich aus den Verborgenen Schätzen wenig Ausbeute. Ich erlebte nicht, daß die endlosen Reihen von allegorischen Auslegungen von Schriftstellen mir etwas gaben. Der Versuch, hinter dem, was im Text stand, eine tiefere Bedeutung zu entdecken, war schwer verwirklichbar. Es war, als ob die Verfasser versuchten, von einer Assoziationsreihe zu berichten, die sie beim Lesen der Bibel hatten, aber die Beschreibungen waren so kurz, daß ich den eigentlichen Sinn nicht verstand. Für mich ergab das Lesen der Bibel selbst eine reichere Ausbeute und das Blatt Verborgene Schätze fügten keine zusätzlichen Wert oder Vertiefungen hinzu.

Ich stellte über die Gedächtnisnummer für Aksel Smith einige Betrachtungen an. Ich erinnere mich an ihn als einen glaubwürdigen und guten Mann. Ich hatte in meinen jungen Jahren etwas Kontakt mit ihm, schätzte ihn als Person und es schien mir, daß er ein feiner Vertreter der Gemeinde sei. Die Gedächtnisnummer geriet jedoch etwas unproportioniert. Damit verliert sie ihren Wert als "ehrliche Würdigung". Sie war etwas unwirklich und theatralisch und viele werden ihr wenig oder keinen Wert als Beschreibung der Wirklichkeit beimessen. So phantastisch war es wohl nicht. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich ja daran, daß dies die Tradition der Gemeinde ist. Panegyrische Begrüßungsansprachen an die Leiter sind ein Teil des "Aufbaus". Lob über jede vernünftige Proportion hinaus. Wo man zum Beispiel den Ausdruck benützt: "Der größte Gottesmann, der in unserer Zeit lebte". Oft haben jene, die dies sagen, wenig oder keine Grundlage für Vergleiche. Eine vernünftigere Würdigung könnte lauten, daß der Betreffende für diese Versammlung viel bedeutet hat. Wenn man außerhalb dieses Milieus blickt, so fällt mir im Augenblick nichts ein, was in einer größeren Perspektive irgendeinen Einfluß oder eine Bedeutung gehabt hätte. Wenn man dann noch den Schaden in Betracht zieht, den der Betreffende vielleicht jenen zugefügt hat, die nicht ihre Bewunderung zeigten oder (samt ihren Familien) "sich beugten", dann würde ich nach Augenmaß den Nettowert des gesamten Einsatzes des Betreffenden hier in diesem Jammertal für nahezu Null erachten. Die Gemeinde ist wie ein schwarzer Kasten, und was in diesem schwarzen Kasten vor sich geht, ist der übrigen Umgebung völlig unbekannt. Die wenigsten merken überhaupt, daß dieser Kasten existiert. Da kann der Kasten wohl in einem größeren Zusammenhang nicht so viel bedeuten, wie die Begrüßungsansprachen Eindruck zu geben scheinen.

Was das Buch von Lowell Streiker betrifft, so war dies überraschender Lesestoff. Ich habe früher von www.brunstad.org eine Kurzversion heruntergeladen, die ihr empfehlt. Lowell Streikers Buch ist ja weitaus kritischer als das, was aus der Kurzversion hervorgeht. Der Unterschied ist so groß, daß es näher liegt zu sagen, die Kurzversion sei irreführend. Das Verständnis, das zurückbleibt, wenn man die norwegische Zusammenfassung gelesen hat, ist tatsächlich falsch im Verhältnis zu den Entdeckungen, die Lowell Streiker in seiner Studie gemacht hat. Und das ganze Kapitel What did I not like erhält in der Zusammenfassung eine besonders schlechte Behandlung. Das empfinde ich als Zitatfälschung.

Hier sind wir wohl an einem Punkt angelangt, der die Tradition der Gemeinde betrifft. Nämlich die kollektive Großartigkeit. Die kenntnisarme und verbal aggressive Geringschätzung anderer christlicher Gemeinschaften ist ein wichtiger Teil des "Aufbaus". Die (wirklichen oder erfundenen) Fehler anderer werden zu einer Hilfe für das Selbstverständnis. Die kollektive Großartigkeit, die zum Ausdruck kommt, und die wahnsinnig herablassende Erwähnung anderer christlicher Gemeinschaften (sowie der "Welt") sind irreführend. Wäre dies ein Ausdruck für individuelles Selbstverständnis und individuelle Selbstbeschreibung mit zugehörigem Ausschelten von "Halbgeschwistern" oder "Vettern und Kusinen", so würde dies zweifellos als Größenwahn aufgefaßt werden. Krankhafte Großartigkeit. Der oder die Betreffende würde wahrscheinlich medizinisch zwangsbehandelt werden.

Ich habe lange überlegt, dir meine Rückmeldung zu senden, aber es wurde zeitlich hinausgeschoben. Ich dachte, einen Besuch in Ryen abzustatten, bevor ich dir schrieb. Aber gestern wurde ich auf die Internetseite http://forlosning.com aufmerksam gemacht, und ich stieß auf eine Korrespondenz zwischen dir und Alf Gjøsund, die zu kommentieren ich Lust bekam. (Der Ordnung halber erwähne ich, daß ich nicht ahne, wer er ist, auch wenn mir der Nachname bekannt vorkommt.) Ich entnehme der Korrespondenz, daß er darauf aufmerksam wurde, daß du eine Änderung der Eintragung nach Brønnøysund geschickt hast, und er stellt eine einfache und klare Anfrage darüber, welche Realität hinter dieser Änderung steht. Der Adrenalinstoß, den dies offenbar bei dir hervorruft, läßt mich glauben, daß er auf eine unglaublich schmerzende wunde Zehe stieß. Die Galle, die du über ihn ausgießt, ist nicht gut, Sigurd Johan. Ich glaube, du solltest dich nicht so ausdrücken, wenn du wünscht, daß deinen Ansichten Bedeutung beigemessen wird. Eine goldene Regel im Gerichtsaal lautet, man solle in der Sache stark und in der Form mild sein, wenn man das Vertrauen der Jury gewinnen möchte. Und in allen Umständen des Lebens ist eine Jury zur Stelle. Jemand, der zusieht und sich seine eigenen Gedanken darüber macht. Wenn man auf eine schmerzende wunde Zehe stößt, dann kann es schnell geschehen, daß man vergißt, daß Zuseher da sind, und das, was ich bezüglich der Angelegenheit sage oder tue, wird auch ihre Auffassung von mir prägen. Und in diesem Fall auch die der Gemeinde. Die Dämonisierung jener, die etwas anderes meinen mögen als man selbst, fällt nie ehrenhaft aus. Jene, welche etwas anderes meinen, haben vielleicht etwas anderes gesehen als ich und dies kann wichtige Information enthalten. Wenn man bereit ist, darauf zu hören.

Ich bin bezüglich dieser Umstände völlig unwissend, aber ich würde glauben, eine passende Antwort könnte etwas so lauten: Ja, es wurden Veränderungen in der Zusammensetzung der Leitung vorgenommen, und dies spiegelt einige sowohl formelle als auch reale Änderungen wieder. Ich habe eine zentralere Stellung erhalten, während Kåre Smith nun eine etwas weniger zentrale Rolle innehat. Der Grund dafür, daß wir diese Änderungen vorgenommen haben, ist ein internes Anliegen, daß ich nicht näher kommentieren möchte. Oder: Ja, wir haben einige Justierungen vorgenommen, aber das sind nur reine Formalitäten und widerspiegeln keine wirklichen Änderungen bei uns.

Meiner Meinung nach ist das Entstellendste in deiner Antwort an Herrn Gjøsund, daß du ihm unterstellst, er lüge und sei schwachsinnig. (Seine Internetseite ist so professionell, daß das Letztgenannte keine vernünftige Annahme sein kann). Dies sieht nicht gut aus. Und hier hast du wohl auch eine wichtige, aber schwierige Aufräum-Aufgabe in der Gemeinde. Da man in "allen" Jahren so mit den Lügen anderer beschäftigt war, hat man vergessen, seine eigenen Lügen zu untersuchen. Siehe mein Kommentar zu Lowell Streikers Bericht. Ich verstehe es so, daß ihr vor seiner eigenen vollen Ausgabe warnt (über 250 Seiten auf Englisch, puh ...) und so indirekt für die norwegische Kurzversion werbt, die im Großen und Ganzen nur darüber spricht, was euch in seinem Bericht gefällt. Was in der Kurzversion steht, ist keine Lüge, aber ist es nicht verlogen? Es ist ja keine repräsentative Zusammenfassung von dem, was Lowell Streiker schreibt. Ich stoße z.B. auf ein Zitat, das er aus einem Gespräch mit dir (Seite 121) über die Machtausübung über örtliche Leiter entnahm. Das Beispiel, das du erwähnst, "Wenn ein leitender Bruder z.B. begönne, für die Lehre der Zeugen Jehovas zu agitieren mit der Absicht, die örtliche Gemeinde solle sich diesen anschließen (und das Eigentum übernehmen, welches die Mitglieder der Gemeinde mühsam aufgebaut haben), dann hätten wir keine Möglichkeit, den Betreffenden zu überstimmen, aber die Mitglieder der Leitung in Brunstad würden sagen, dies sei inakzeptabel. Niemand wurde bisher noch auf Grundlage dieser Bestimmung in den Vorschriften gebeten, seine leitende Stellung aufzugeben."

Das mit den Zeugen Jehovas ist wohl kein so treffendes Beispiel, Sigurd Johan. Es ist nicht dazu geeignet, ein richtiges Bild der Vorschriften und ihrer Ausübung zu geben. Dies muß man wohl fast als Ablenkmanöver betrachten, um sicherzustellen, daß Lowell Streiker nicht mit noch naheliegenderen Beispielen aufwartet. Zum Beispiel mit der Behandlungsweise von leitenden Personen, die sich dir und Kåre Smith gegenüber in Verbindung mit der "Erweckung" kritisch verhielten. Dies mußten ja tatsächlich Hinausschmisse gewesen sein, und da ich aus dem Østerdal stamme, hatte ich etwas über den Kampf um das Eigentumsrecht an den Lokalen der Gemeinde in Hedmarken gehört. Auf dieser Grundlage kann ich nicht verstehen, daß das, was von dir in Lowell Streikers Buch zitiert wird, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Soll das so verstanden werden, daß die Vorschriften erst dann verfaßt wurden, nachdem diese Ausmerzungen durchgeführt waren? Dies macht in einem solchen Fall das Zitat nicht wahrhaftiger, auch wenn man behaupten könnte, daß es in engerem Verständnis wahr war.

Dies hier wurde viel negative Rückmeldung, Sigurd Johan, aber sie wurde in bester Absicht gegeben. Und ich hoffe, du hältst dies aus. Wir ich in einem früheren Mail an dich schrieb, merke ich (zu meiner eigenen Überraschung), daß die Gemeinde mich weiterhin etwas angeht, 30 Jahre, nachdem ich mich mit ihr als fertig erklärte. Ich hatte große Freude daran, die "Wege des Herrn" [Gesangsbuch, Anm.d.Übers.] zu lesen. Wenn ich zur Nummer 31 komme, halte ich besonders inne. Ich erinnere mich, daß wir das oft sangen. Die Strophe "Nicht nur für die Schuld des Volkes allein starb Jesus, sondern auch, um die verstreuten Kinder zu sammeln, sie zu einem Haufen zusammenzuführen." Verbreitete Gerüchte, die ich in den letzten zehn Jahren über die Entwicklung in der Gemeinde gehört habe, berichten mir, daß gerade in dieser Hinsicht hier etwas schief gelaufen ist. Wenn man in der Gemeinde aufgewachsen ist, ist dies etwas, was der Seele lebenslang eingeprägt ist. Wenn ich einige seltene Male jemanden mit gleichem Hintergrund treffe, erleben wir eine Art Verwandtschaft. Wir haben Zugriff zu gemeinsamen Codes. Mir scheint, es ist traurig, daß in den letzten zehn Jahren in der Gemeinde so vieles zerbrochen ist. Es ist sehr bedauerlich, daß es nicht möglich sein sollte, Platz für "alle Kinder Israels" zu haben, um einen Ausdruck zu entlehnen, den ihr benützt. Was ich über starrköpfige Haltungen, Machtkämpfe, Ausmerzungsaktionen, gegenseitige Beschuldigungen über Unredlichkeit usw., bereitet mir Unwohl.

Die zerbrechlichsten Gemeinschaften müssen einen gemeinsamen äußeren Feind haben, um zusammenzuhalten. Wenn jene, die vor einigen Jahren die besten Freunde waren, nun die Rolle des äußeren Feindes erhalten, dann ist etwas ernstlich falsch. ........ Man sagt, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Ich ahne, daß du und Kåre in gewissem Sinn in dieser Beziehung die "Sieger" seid, und daß viele hoffen, daß dieser Sieg nur vorübergehend sei. Teilweise glaube ich, daß es Sorge und Entbehrung ist (und Sehnsucht nach dem, was Camilla Johansen in ihrem Lied so poetisch beschreibt) und teilweise glaube ich, daß sich viele benachteiligt fühlen und das Bedürfnis haben, eine Art von Gleichgewicht wieder herzustellen. Vielleicht hat die "wunde Zehe" etwas damit zu tun? Vielleicht ist es die Furcht, daß sie Recht haben, die hoffen, daß sich der Sieg als Intermezzo erweist?

Wenn ich deine Wortwahl in deinen Mails an Gjøsund betrachte, muß ich erkennen, daß ich verstehe, daß die Leute sich belästigt fühlen und ein Bedürfnis nach Vergeltung haben. So drückt man sich nicht in einer zivilisierten Gesellschaft aus. Damit mußt du nur aufhören, Sigurd Johan. Umgehend.

Bein Durchlesen dessen, was ich in diesem Mail schrieb (das Schreiben ging sehr schnell), sehe ich, daß es das, was ich auf dem Herzen habe, ziemlich abdeckt, und ich entschließe mich, eine Kopie an Gjøsund zu senden. Ich glaube, es kann für ihn OK sein, meine Ansicht zu hören.

Ich habe Lust, dich zu treffen und mit dir etwas besser bekannt zu werden. Der Altersunterschied war ja zu groß, als daß wir uns in jungen Jahren hätten kennenlernen können. Ich schätze, du warst etwa 15, als ich 1972 die Gemeinde verließ. Vielleicht könnten wir etwas zu besprechen haben? Wenn du in nächster Zukunft nach Oslo kommst, könnten wir einander vielleicht treffen? Alternativ könnten wir einander in deiner Gegend treffen. Meine Schwester Anny wohnt auf Forus und ich könnte eventuell ein Gespräch mit dir mit einem Besuch bei ihr kombinieren?

Beste Grüße
Johan Velten