Gunnel Vallquist: Die Revolte der Theologen

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Daß sich die katholische Kirche in einer Krise befindet, ist wohl bekannt. Es dreht sich um eine Autoritätskrise, um einen Gegensatz zwischen "Rom" und einem großen Teil der übrigen Kirche. Mit "Rom'' ist, vereinfacht dargestellt, der Papst und die Kurie samt einer Anzahl Theologen an den römischen theologischen Fakultäten, vor allem an der Lateran-universität, gemeint. In der übrigen Kirche gibt es selbstverständlich Anhänger und Meinungsfreunde von "Rom", aber auch eine wachsende Anzahl von Oppositionellen, darunter viele Theologen und andere Priester und eine ganze Reihe Bischöfe.

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Eine Übersicht über diese Opposition gab der spanische Jesuit Pedro Miguel Lamet in einem Buch, das vor kurzem auf schwedisch mit dem Titel Die Revolte der Theologen (Bokförlaget SILI, Uppsala, Preis 199 kr) erschien, übersetzt und herausgegeben von Gunnar Gunnarson, Priester in der Schwedischen Kirche. Es ist ein sehr informatives Buch, sehr kritisch, aber nicht ohne Nyancen, gegenüber dem gegenwärtigen Pontifikat. Es behandelt Fakten, die aus verschiedenen Teilen der Welt zusammengetragen wurden, mit einem gewissen Schwerpunkt in Lateinamerika, es legt wichtige Dokumente vor und enthält eine Menge interessanter psychologischer Analysen. Die Übersetzung als ganze ist eine respekteinflößende Darstellung, allerdings nicht frei von u.a. fataler Fehlschreibung von Namen und Jahreszahlen. Der Kardinal von Paris, Suhard, trägt nicht den Schokoladenamen Suchard, Leo XIII. verurteilte niemals die Action Francaise - die gab es zu seiner Zeit nicht, die Theologen des Modernismus wirkten nicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern 100 Jahre später, der häufig erwähnte schismatische Erzbischof Lefèbre sollte auf seinem Namen einen Akzent haben, und die vom Papst geförderte konservative Bewegung Comunione e Liberatione sollte nicht mit Doppel-m geschrieben werden, eine in allen Medien ständig vorkommende Fehlschreibung. Solche Flüchtigkeitsfehler, die man leicht vermeiden könnte, vermindern jedoch nicht den Eindruck einer soliden und wertvollen Arbeit - eine überraschende Initiative, kann man hinzufügen.

Der Titel des Buches bezieht sich zunächst auf das Kapitel, das die sogenannte Kölner Erklärung behandelt, ein Dokument, das 1989 zustandekam - ein verhängnisvolles Jahr auch für die Kirche, als der Konflikt an mehreren Fronten ausbrach - und von 172 deutschen, österreichischen, schweizerischen und holländischen Theologieprofessoren unterzeichnet wurde - es ist im Anhang im Wortlaut wiedergegeben. Es richtet sich in sehr hartem Ton vor allem gegen drei Mißstände in der Kirche: daß Bischöfe ernannt werden "unter Übergehung der Kandidaten der Ortskirchen und unter Mißachtung der lokalen Sonderrechte", daß "qualifizierten männlichen und weiblichen Theologen überall in der Kirche die kirchliche Lehrerlaubnis verweigert wird", und daß "die lehramtliche Kompetenz und die Jurisdiktionsgewalt des Papstes in einem unerträglichen und überdimensionierten Maß geltend gemacht wird". So die Beschreibung der Autoritätskrise in Kurzform. Der Pressesprecher des Vatikan versuchte, die Angelegenheit als "lokale Reaktion" zu bagatellisieren, aber dieser Versuch hielt nicht lange stand. Einverständniserklärungen hunderter Theologen aus verschiedenen Ländern trafen ein, außerdem Unterschriftenlisten von Priestern und Laien.

Der erste Punkt, die Bischofsernennungen, ist eine der Hauptursachen für das wachsende Mißvergnügen in der Kirche. Die Bischöfe, welche das Zweite Vatikanische Konzil "machten", sind fast alle tot oder pensioniert. An deren Stelle hat Rom in erschreckendem Maß Männer eines anderen Geistes eingesetzt, vor allem autoritäre Traditionalisten, die darauf hinarbeiten, daß von neuem die Fenster und Türen in der Kirche geschlossen werden, die sich zur Zeit des Konzils öffneten. Dies hat in mehreren europäischen Ländern zu einer Opposition geführt, die an eine Revolte grenzt; in Lateinamerika ließ dies eine verhärtende Front gegen die einzige theologische Erneuerung von Bedeutung, die Befreiungstheologie, entstehen. Diese wurde von den römischen Bürokraten, die niemals ihren Fuß in eine Favela gesetzt hatten, arg mißverstanden; die Angst vor dem Marxismus diktierte eine Kirchenpolitik, welche im Prinzip die Menschenrechte der Armen bevorzugen sollte, in der Praxis aber dazu aufruft, ihnen entgegenzuarbeiten. Bischöfe, welche sich in der totalen Solidarität mit ihrem Volk engagierten - zu erwähnen wäre Helder Camara - sahen ihr Werk durch einen Nachfolger zielbewußt zerstört. Andere haben vergeblich an den Papst um Verständnis und Zusammenarbeit appelliert: Lamet widmet ein Kapitel dem Armenbischof Casaldáliga, dessen ergreifender, demütiger und dennoch sehr kritischer Brief an Johannes Paul II. zur Gänze wiedergegeben ist.

Gleichzeitig mit dieser Ernennungspolitik ist Rom auch dabei, die Stellung der Bischofskonferenzen zu untergraben. Diese sind eine Frucht des Konzils und bilden ein heilsames Gegengewicht gegen die römische Kurie; sie tragen auch dazu bei, den Ortskirchen die Selbstbestimmung wiederzugeben, die sie ursprünglich hatten. Man stellt in Rom "das biblische und theologische Fundament" der Bischofskonferenzen in frage. Wer kann ein solches für die römische Kurie anführen ?

Als Jesuit befaßt sich Lamet ganz selbstverständlich mit dem Gegensatz zwischen der Gesellschaft Jesu und dem Papst - ein empfindliches Kapitel, da die Jesuiten ein besonderes Gehorsamsgelübde dazu haben. Der Gegensatz ist zum Großteil in der Richtung begründet, welche der Orden unter dem General Pedro Arrupe erhielt, mit ausdrücklicher Prioritätssetzung für die Gerechtigkeit und für die Armen. Mit besonderem Nachdruck haben die Jesuiten in Lateinamerika dieses Programm angegangen, das zu blutigen Racheaktionen mehrerer Regime geführt hat: die Märtyrerliste der Gesellschaft Jesu wurde um etliche Namen erweitert. Die Unterstützung aus Rom war mäßig. Aber außerdem fuhr der Papst über die verbrieften Rechte des Ordens gehörig hinweg, als er - ganz brutal - einen "Aufseher" anstelle des Nachfolgers einsetzte, den Arrupe selbst in Übereinstimmung mit der Verfassung des Ordens ernannt hatte, als er einen Schlaganfall erlitt.

Arrupe wird als Prophet dargestellt; noch einer, dem ein Kapitel in dem Buch gewidmet ist, ist Bernhard Häring, der hervorragendste lebende Moraltheologe der Kirche, welcher als Verteidiger einer menschlicheren und vernünftigeren Sicht des Problems Geburtenkontrolle auftrat. Häring ist kein Aufrührer, aber seine durch das Evangelium tief geprägte Überzeugung zwang ihn, die philosophischen und juridischen Überlegungen - und nur diese - für das berüchtigte Nein des Papstes in frage zu stellen . Damit hat er sich nichts weniger als die reinste Verfolgung durch die Glaubenskongregation (das Ex-Sanctum Officium, die Ex-Inquisition) zugezogen. Die ganze Problematik hat groteske Ausmaße angenommen: die Gefolgschaft in dieser Hinsicht wurde zu einer absoluten Vorbedingung für Bischofsernennungen, und der Papst wiederholt seine Ermahnungen immer wieder aufs neue in fast jedem Zusammenhang. Das Festhalten am Rundschreiben Humanae vitae Pauls VI. ist ein Hauptpunkt im Programm des Pontifikates Johannes Pauls - und ein Kapitalfehler. Alle wissen, daß Paul VI. seine Entscheidung strikt gegen den bis auf vier Stimmen einstimmigen Beschluß einer sechzigköpfigen Kommission faßte, und daß er dies nicht vor allem aus Überzeugung in der Sache selbst tat, sondern aus Furcht, die Autorität des Lehramtes könnte Schaden erleiden, wenn der Papst ein von einem früheren Papst - Pius XI. - erlassenes Verbot ändere. In der Tat wurde gerade dieser Beschluß und dieses Rundschreiben der entscheidende Schlag gegen die päpstliche Autorität. Heute folgen die allermeisten Katholiken in dieser Angelegenheit ihrem eigenen Gewissen.

Noch ein Buch ist in diesem Jahr erschienen, das fast eine Parallele zu dem von Lamet darstellt. Auch dieses wurde von einem getreuen und geachteten Mann der Kirche verfaßt, wie Lamet ein Publizist mit weltweiter Perspektive, ein Irländer mit dem Namen Joseph Dunn, der eine Menge Filmreportagen von kirchlichen Verhältnissen praktisch in der ganzen Welt hergestellt hat. Eine Reportage in Schweden im Sommer 1993, vor allem der Frau in der Kirche gewidmet, hat ein Kapitel in diesem Buch erhalten, dessen Titel No Lions in the Hierarchy lautet (Columba Press, Dublin, Preis 9,99 Pfund). Obwohl diese beiden Bücher die selben Themen und Fragen behandeln und obwohl die beiden Verfasser die gleiche Blickrichtung in der Kirche vertreten und die selbe Sorge und eher noch Verzweiflung über die Entwicklung unter diesem Pontifikat ausdrücken, so unterscheiden sie sich doch: Lamets Buch ist eine Sammlung von Essays rund um einen Problemkomplex, Dunns Buch eine Zwischenform zwischen einer priester-lichen Selbstbiographie und Reflexionen über die eigenen Reportagen, das Ganze mit irischem Humor gewürzt. Zum Interessantesten in diesem Buch gehört ein Kapitel über die Priesterausbildung, zunächst wie sie vor dem Konzil war, als Dunn selbst Seminarist war, dann wie sie jetzt ist, und schließlich, wie Dunn sich wünscht, daß sie sein soll. In einem Kapitel über die Berufung stellt er kluge und ausgewogene Gesichtspunkte zum Zölibat vor, dafür und dagegen, und macht gute Vorschläge zur Problemlösung. Ferner greift er die Frage nach der Frau in der Kirche auf, die Lamet kaum berührt, und spricht sich für die Diskussion über Priesterinnen aus - auch hier mit Argumenten dafür und dagegen. Er zieht offenbar Nutzen aus einer klassischen thomistischen Ausbildung, wenn es darum geht, eine Kontroverse darzustellen, sodaß der Leser sich selbst seine eigene Meinung bilden kann.

Beide Verfasser drücken ihre Wertschätzung von Papst Wojtylas Persönlichkeit aus - wie könnte man anders handeln, er ist ja ein glänzend begabter Mann mit einem einzigartigen Charisma, eine große geistliche Führerbegabung, tief fromm und selbstlos seiner Berufung hingegeben, sicherlich davon überzeugt, daß er richtig handelt. Und dennoch handelt er, nach der Überzeugung Lamets, Dunns und unzähliger anderer, in vielen wesentlichen Punkten eindeutig falsch. Unter der Rubrik Der Papst, der aus der Kälte kam, erstellt Lamet eine biographisch-analytische Studie von Karol Wojtyla, einen Versuch, den Mann und sein Handeln zu verstehen. De vivis nisi bonum (über die Lebenden nur Gutes) heißt das entsprechende Kapitel in Dunns Buch. Er drückt sich zusammenfassend so aus: " I think that John Paul II is a good sainty man who has done a lot of harm to the church in my generation". Eine Person zu bewundern und zu schätzen, von der man meint, sie handle falsch oder sogar unrecht, ist eine schmerzliche Aufgabe. Gerade in dieser Situation befinden sich heute viele Katholiken.

Was hinzukam, seitdem diese beiden Bücher geschrieben wurden: das Rundschreiben Veritatis splendor, der apostolische Brief gegen die Priesterweihe von Frauen und, vor kurzem, die Ermahnung der Glaubenskongregation an die Bischöfe, wiederverheiratete Katholiken nicht zu den Sakramenten zuzulassen, bedeutet keine Veränderung, sondern nur eine Verschärfung der Krise, der Gegensätze zwischen Rom und sehr großen Teilen der Kirche. Aber dabei ist es wichtig zu betonen, daß eine Krise nicht nur etwas Mühsames und Gefährliches ist: sie ist auch die Trägerin von Möglichkeiten, von Hoffnung auf Veränderung. Und eine solche sehen wir sehr wohl seit einiger Zeit kommen. Die Kirche außerhalb Roms bettelt nicht nur oder nimmt unter stummem Protest entgegen, wie sie es so lange tat, sondern sie steht Rede und Antwort und weigert sich zu betteln. Die Freimütigkeit in der Kirche ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil insgesamt größer als jemals seit dem Mittelalter; Theologen, Laien und Priester schreiben und publizieren, was sie wollen; ihre Karriere kann gestoppt werden, aber sie werden nicht mehr vom Bann oder Veröffentlichungsverbot getroffen. Am vorsichtigsten sind verständlicherweise die Bischöfe - No Lions in the Hierarchy - sie haben ja auch die schwerste Verantwortung. Aber Roma locuta, causa finita, Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt, ist kein Glaubenssatz mehr. Katholiken, die fast schon die Hoffnung aufgegeben hatten, daß der Episkopat, welcher die Kirche in Gemeinschaft mit dem Papst leiten sollte, seine Leiterfunktion auch ausübe, können Galileis Worte in den Mund nehmen: Eppur si muove - sie bewegt sich doch ! Nun gibt es Bischöfe, die antworten, höflich, aber bestimmt: wir haben mit Respekt Rom angehört, aber wir wurden nicht überzeugt, und die Angelegenheit muß Thema eines weiteren Studiums sein. Es gibt neue und hoffnungsvolle Töne, welche einen Katholiken dazu bringen können, einfach festzustellen: es gibt noch den einen oder den anderen Löwen in der Hierarchie !

(Der Artikel wurde vor der Veröffentlichung der Moralenzyklika Evangelium vitae im März dieses Jahres verfaßt).

Frau Prof. Gunnel Vallquist, Mitglied der Schwedischen Akademie, ist ständige Mitarbeiterin von "St. Olav", einer norwegischen katholischen Zeitschrift für Religion und Kultur. Der vorliegende Beitrag erschien in schwedischer Sprache in der Nr. 5/1995 dieser Zeitschrift.

Übersetzung: Friedrich Griess