Gunnel Vallquist: Ein Bischof, auf den Verlaß ist

Buchbesprechung zu Helmut Krätzl, Neue Freude an der Kirche

Die katholische Kirche lebt seit etlichen Jahren in einer Art Ausnahmezustand, der am Ende eines Pontifikats entsteht. Ein solches fin de règne bewirkt, daß der alternde Monarch, obwohl grundsätzlich allmächtig, in der Praxis seine Tätigkeit - und seine Autorität - in einem mehr begrenzten Umfang ausübt, während die tatsächliche Leitung eher von einer machtvollkommenen Bürokratie, der römischen Kurie, übernommen wird.

Johannes Paul II. war in den letzten Jahren körperlich so gebrechlich, daß es aussah, als könnte er jeden Augenblick sterben, aber wenn es darum ging, was ihm am meisten am Herzen lag: Friede, Menschenwürde und Ökumene - sogar auf die nichtchristlichen Religionen ausgedehnt -, da war er immer imstande, rasche und radikale Beschlüsse zu fassen, oft gerade entgegengesetzt zur Auffassung seiner Umgebung. Dies ist es, worin in den großen Zusammenhängen dieser Papst seine Berufung gefunden hat und worin er sein Charisma besitzt. Wenn es um Sein oder Nichtsein der Welt geht, spricht er wie ein Prophet, warnt und erinnert die Menschen an ihre Würde und an ihre tiefste Sehnsucht nach Verwirklichung. Keine heutige Gestalt hat wohl eine geistliche Autorität, die mit seiner vergleichbar wäre. Die Aufgabe des Papstes innerhalb der Welt nimmt alle seine Kräfte und das meiste seines Interesses in Anspruch. Ein großer Teil der Verantwortung für die inneren Angelegenheiten der Kirche, ihre Mißstände und ihren Reformbedarf hat er delegiert, und offenbar nicht immer an gute Hirten.

Machtzenrtalisierung ohne Gegenstück

Eines der wichtigsten Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils stellte fest, daß die Kirche von den Diözesanbischöfen "mit und unter" dem Papst geleitet werden soll. Dies wurde noch nicht verwirklicht, ja es wurde mit der Verwirklichung noch nicht einmal begonnen, weshalb auch eine Menge dringender Reformen nicht zustande kamen. Die Rolle der Ortsbischöfe und Bischofskonferenzen wurde statt dessen eher beschnitten, Rom beansprucht, alles zu kontrollieren. Die Zentralisierung der Macht, die nun herrscht, ist ohne Parallele in der Kirchengeschichte. Offenbar und eindeutig ist es das Bestreben der Kurie, die Kirche in ein vorkonziliäres Stadium zurückzuführen, nicht zuletzt durch diktatorische Ernennungen reaktionärer Bischöfe.

Es ist leicht festzustellen, daß gerade die Krisenherde, die jetzt die Kirche plagen, in direktem Zusammenhang mit den wenigen aber schwerwiegenden Eingriffen stehen, die Paul VI nach intensivem Druck von einer reformfeindlichen Minderheit vornahm. Dies betrifft vor allem zwei wichtige Dokumente: das eine über das Verhältnis der Diözesanbischöfe zu Rom, wo Paul VI eine "Note" hinzufügte, welche der Bedeutung des Papstes weiteres Gewicht beimaß und zu der extremen Zentralisierung beitrug, die wir nun wahrnehmen und der Paul eigentlich entgegenarbeiten wollte. Das andere war die Konstitution über das Verhältnis von Schrift und Tradition. Eine überwältigende Mehrheit, geprägt von einigen Jahrzehnten biblischer Erneuerung, sprach sich gegen eine Formulierung aus, welche die Lehrautorität der kirchlichen Tradition der Bibel zur Seite stellte, während eine kleine aber unbeugsame Minderheit auf eine solche Formulierung drängte. Um dieser Minderheit entgegenzukommen, empfahl der Papst einen Zusatz: "Die Kirche baut ihre Gewißheit über die Offenbarung nicht nur auf die heilige Schrift." Damit war der Weg zu einer Reihe außerordentlich sonderbarer Aussagen geöffnet, welche die Glaubenskongregation in späterer Zeit formulierte.

Äußerungsfreiheit und das Kirchenvolksbegehren

Über einige der schon damals brennendsten Probleme in der Kirche: Geburtenkontrolle und verpflichtendes Priesterzölibat, durfte das Konzil überhaupt nicht diskutieren. Diese "reservierte der Papst für sich", und damit kamen sie ihrer - offiziellen - Lösung nicht näher.

Auf einem Gebiet gibt es keinen Grund zur Klage: Äußerungsfreiheit. Früher schlich man auf Filzpantoffeln umher und beriet sich in geschlossenen Räumen; nun können alle, nicht zuletzt Theologen und selbst Bischöfe, frei in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen publizieren. Einer dieser aufrichtigen Kirchenmänner ist der Hilfsbischof in Wien Helmut Krätzl (2001). Als Kardinal König, einer der Bischöfe, die sich zielbewußt für die Verwirklichung des Konzils in ihrer Diözese einsetzten, 1985 pensioniert wurde, wählte man Krätzl zum Administrator der Erzdiözese Wien und erwartete allgemein, daß er zum Nachfolger Königs ernannt würde, um im selben Geist weiterzuarbeiten. Statt dessen erfolgte die überraschende Ernennung des späterhin berüchtigten Benediktinermönches Groër, gefolgt von einigen weiteren sehr unwillkommenen Bischofsernennungen. Alles dies signalisierte eine Kursänderung, vorgeschlagen von politisch reaktionären vor allem hochadeligen Kreisen und wirksam unterstützt vom päpstlichen Nuntius. Die Bitterkeit und der Zorn waren allgemein, und nun war die österreichische Kirchenkrise ein Faktum, tausende Menschen verließen die Kirche.

Im Frühjahr 1995, nachdem Groër wegen sexueller Übergriffe gegen ehemalige Seminaristen angeklagt worden war, ging von der Diözese Innsbruck ein Appell aus, das Kirchenvolksbegehren, das eine Reihe von Forderungen stellte: Mitbestimmung bei Bischofsernennungen, Gleichstellung für Männer und Frauen in der Kirche, positive Wertschätzung der Sexualität statt Fixierung auf Sexualmoral, größeres Verständnis für Menschen in schwierigen Situationen wie wiederverheiratete Geschiedene und arbeitslose verheiratete Priester. Eine Unterschriftensammlung begann, und trotz Störaktionen mit verschwundenen Listen usw. hatte nach drei Wochen eine halbe Million Menschen den Aufruf unterzeichnet, darunter mehrere hervorragende Theologen. 1998 kündigten die Bischöfe ein Treffen in Salzburg mit dem Thema Dialog für Österreich an, das nach einem gelungenen Anlauf aber keine richtige Fortsetzung fand. Das gespannte Verhältnis zu Rom und die aufgezwungenen Bischöfe bestehen weiterhin.

Auxiliarbischof Helmut Krätzl ñ ein bahnbrechender Einfluß

In diesem Klima übt Helmut Krätzl einen wohltuenden Einfluß aus. Außer zahlreichen Artikeln in Zeitschriften hat er auch einige persönlich gehaltene Bücher verfaßt, in denen er die Krise der Kirche behandelt: Im Sprung gehemmt (St. Gabriel 1998) und Neue Freude an der Kirche (Tyrolia 2001). Der erste Titel weist auf das Konzil hin, das gemäß dem Wunsch Johannes XXIII. einen "Sprung nach vorne" bedeuten sollte, aber im Lauf gehindert wurde. Der andere Titel klingt allzu optimistisch im Kontrast zu seinem Inhalt mit dessen mutiger Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Kapitel für Kapitel beleuchtet Krätzl vorbehaltlos die Mängel und Probleme in der Kirche, um dann auf die Lichtpunkte und auf die Öffnung neuer Wege hinzuweisen, die es wirklich gibt. Und er findet sie konsequent in den Texten und im Geist des 2. Vatikanischen Konzils. Im neuen Buch geht er schnell auf das Wesentliche ein: "Daß ich die Kirche trotz allem liebe, beruht darauf, daß das Konzil mein Leben als Priester geprägt hat." Mit dem Konzil begann die Kirche zuzuhören und zu lernen, nicht nur zu lehren und zurechtzuweisen. "Die Kirche macht sich selbst zum Dialog", sagte der Konzilspapst Paul VI.. Dialog mit der Welt, mit anderen Religionen und mit anderen christlichen Kirchen und vor allem "der Dialog, den man in unserem eigenen Haus mit Eifer und Familiengeist führen soll". Diesen Auftrag nahm das Konzil an und führte ihn mit Mut und Zuversicht durch. "Warum sind dann in den späteren Jahren so viele Schwierigkeiten und Einwände entstanden, in dem Maße, daß manche den Dialog einfach infrage stellen?"

Krätzl analysiert die verschiedenen Spannungen, die in der heutigen Kirche herrschen,. Spannungen können positiv, belebend wirken, aber sie können auch die Vitalität hemmen und notwendige Reformen blockieren. Ein wichtiger Abschnitt im Buch gilt der Spannung zwischen Lehramt und Theologie. Während des Konzils erwies sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Bischöfen und Theologen als fruchtbar und entwickelnd. Nach dem Konzil hingegen, sagt Krätzl, versagte der Episkopat in seiner Aufgabe auf doppelte Weise: Teils durch überhastetes Eingreifen gegen einzelne Theologen, ohne sich zuerst mit den komplizierten Fragen befaßt zu haben, um die es sich handelte, teils dadurch, daß sie ihre Mitverantwortung in der Kirche nicht genügend wahrnahmen, sondern "Rom" die ganze Verantwortung überließen. So hat die Lehre von der päpstlichen "Unfehlbarkeit" sich schnell und plötzlich weit über die strikten Grenzen hinaus entwickelt, die das 1. Vatikanische Konzil (1870) festsetzte. Die Glaubenskongregation in Rom versucht auf jede Weise die theologische Forschung umstrittener Themen zu begrenzen und eine völlige Konformität herbeizuzwingen, indem sie "Dissens" auch in Fragen bezüglich dogmatisch nicht festgelegter Thesen verbietet. In der Praxis bedeutet dies, daß die Glaubenskongregation bezüglich aller neuen Ideen Gehorsam fordert. Der im Namen der Gewissensfreiheit abgeschaffte "Antimodernisteneid", den vor dem Konzil alle Amtsinhaber ablegen mußten, wurde in erneuerter Weise wieder eingeführt; zusätzlich hat man einen "Treueid" vorgeschrieben. All dies atmet ideologische Panik: Man versucht verzweifelt, eine allumfassende Kontrolle darüber zu erreichen, was man in der ganzen Kirche denkt, glaubt und verkündet. Offenbar kann man so etwas nicht bewerkstelligen, das wird ganz einfach von der Kirche nicht rezipiert; die meisten Bischöfe sehen ein, daß "Treueide" nicht gerade die Wahrheitsliebe fördern.

Krätzl sieht dennoch Lichtpunkte: 1. die innerkirchliche Kritik, die freimütiger als je zuvor ausgeübt wird. 2. einen wachsenden internationalen Konsens unter den Theologen. In Erwartung einer Veränderung arbeiten sie weiter, veröffentlichen ihre Erfahrung, aber suchen auch den Dialog mit Rom. 3. einen wachsenden Konsens zwischen Bischöfen, wenn es die Selbständigkeit der Ortskirchen, Ehefragen usw. betrifft. 4. den theologischen Austausch innerhalb der Ökumene. 5. die wachsende theologische Kompetenz unter den Laien, "die oft jene des Lehramtes übertrifft".

Die Stellung der Geschiedenen und Wiederverheirateten

Eine der schwierigsten Fragen, mit denen die katholische Kirche kämpft, ist die Stellung der Geschiedenen und Wiederverheirateten in der Kirche. Eine gültig eingegangene und vollzogene Ehe gilt im Prinzip für das ganze Leben. Dafür gibt es unumstößliche Jesusworte, und sowohl die katholische als die orthodoxe Kirche haben stets das Prinzip behauptet. Aber in der Praxis unterscheiden sich Ost und West. Die katholische Kirche ist stark juristisch geprägt - ein römisches Erbe -, während die orthodoxe pragmatischer und pastoral flexibler ist. Dort beruft man sich auf Gottes "Ökonomie", seine Haushaltung, welche die konkrete Situation und die seelischen Möglichkeiten jedes Menschen berücksichtigt. Es gibt daher Platz für Ausnahmen, wo man dem Besten des Einzelnen den Vorrang einräumt, wenn die Regel nicht vernünftig erfüllt werden kann. Die katholische Kirche verlangt eine strenge Anwendung der Regel: Ein(e) Katholik(in), der/die wieder heiratet oder eine(n) Geschiedene(n) heiratet, schließt sich selbst von den Sakramenten aus.

Falls es dieser Strenge eine Zeitlang gelang, Scheidungen zu verhindern - sie aber gleichzeitig zu vermehrter Doppelmoral beitrug -, so ist dies nun nicht mehr der Fall. Katholische Ehen scheitern ungefähr ebenso oft wie andere, die allgemeine Meinung bietet keine Unterstützung mehr für Widerstand gegen Scheidung, und jede einzelne Gemeinde wird vor das schmerzliche Problem gestellt: Wenn fromme Menschen, die ihr Bestes tun, in ihrer Situation, in die sie geraten sind, christlich zu leben, zum Abendmahlstisch kommen, muß man sie da wirklich abweisen? Überall in der Kirche wünscht man eine Veränderung der Praxis, und Theologen und Bischöfe haben sich bemüht, Lösungen zu finden. Bischof Krätzl berichtet in einem der wichtigsten Kapitel in seinem Buch über die verschiedenen Stadien dieses Suchens.

1980 wurde in Rom eine Bischofssynode über die Familie abgehalten: Kardinal Ratzinger, damals Erzbischof von München, berichtete bei der Heimkehr über eine Äußerung, der er große Bedeutung zumaß: "Getrieben von der pastoralen Sorge um diese Gläubigen wünscht die Synode eine neue und gründlichere Untersuchung, auch mit Rücksicht auf die Praxis der Ostkirche, damit die pastorale Barmherzigkeit noch größer werde."

Im Folgejahr verfaßte der Papst ganz im Gegenteil in der Enzyklika Familiaris consortio eine strenge Erklärung, daß, wenn jemand in der Gemeinde Verwirrung dadurch bewirke, daß er in Verhältnissen lebe, die objektiv dem Sinn der Eucharistie widersprächen, es nur eines zu tun gebe: "Die Versöhnung im Sakrament der Buße (Beichte), die den Weg zum Sakrament der Eucharistie (dem Abendmahl) eröffnet, kann nur erteilt werden, wenn beide Partner sich zu völliger Enthaltsamkeit verpflichten."

Die Enzyklika rief ein außerordentliches Aufsehen hervor. "Die österreichischen Bischöfe erwarten sich - ebenso wie sicherlich viele andere Bischofskonferenzen -, daß die versprochenen neuen Untersuchungen bei einem sehr schwierigen pastoralen Problem wertvolle Hilfe leisten werden", schrieb Kardinal König im Frühjahr 1982. Aber von irgendwelchen Untersuchungen hörte man keine offiziellen Mitteilungen. Mit der Zeit wurde das Problem nur noch akuter. Einige deutsche Bischöfe schrieben einen Hirtenbrief, in dem sie Gespräche empfahlen, "um den Betroffenen zu helfen, zu einer persönlich verantworteten Gewissensentscheidung zu gelangen, welche die Gemeinde und die Kirche respektieren soll". Dies veranlaßte eine "Äußerung" der Glaubenskongregation, die an ihrem Verbot festhielt, da "bürgerlich verheiratete Geschiedene sich in einer Situation befinden, die zum dem göttlichen Gesetz objektiv im Widerspruch steht". Einige österreichische Bischöfe versuchten den selben Weg wie die deutschen. Sie wollten weder ein "Kommunionverbot" noch eine "offizielle Zulassung" erteilen, sondern betonten, der Beschluß könne letztendlich nur vom Einzelnen getroffen werden, der über den Umfang des Problems wohlinformiert sein müsse.

Krätzl sieht eine gewisse Morgendämmerung im Dialog zwischen den Bischöfen und Rom. Er überlegt: Kann nicht ein Mensch, der objektiv im Widerspruch zum Kirchengesetz lebt, in bestimmten Fällen dazu disponiert sein, das Abendmahl zu empfangen? Kann man wirklich wissen, daß diese Person nicht "im Stande der Gnade" lebt? Er zitiert den Dogmatiker Wilhelm Breuning: "Ein wiederverheirateter Geschiedener ist nicht notwendigerweise ein Christ, der im Zustand der Sünde lebt." Auch die Glaubenskongregation hat nicht diesen harten Ausdruck verwendet, sondern ihn offenbar vermieden. Aber im Sommer 2000 ergoß sich eine andere römische Behörde (der Päpstliche Rat für die Interpretation von Gesetzestexten) in brutalem Wortlaut: "Die heilige Kommunion darf nicht empfangen, wer hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharrt". Krätzl: "Jedenfalls hat der päpstliche Rat für die Gesetzestexte, wohl im Einvernehmen mit den Kongregationen für die Glaubenslehre und für den Gottesdienst und die Sakramente, mit dieser Erklärung eine Entscheidung gefällt, die eine sehr differenzierte theologische Diskussion und verantwortungsvolle pastorale Bemühungen in einem Ausmaß trifft (oder gar abschließt?), wie dies in der Geschichte dieses Rates sicher einmalig ist."

In dieser Sache findet Helmut Krätzl keine anderen Lichtpunkte als die Hoffnung, die Bischöfe mögen in ihren Anstrengungen nicht ermüden, ein Gespräch mit Rom in Gang zu halten. Im Übrigen muß man hier so wie in vielen anderen Dingen sagen, daß es gilt, geduldig die notwendigen Reformen unter einem anderen Pontifikat zu erwarten und inzwischen in Stille die pastoralen Probleme zu lösen, so daß die Gläubigen "die Liebe Christi und die menschliche Nähe der Kirche fühlen können".

Gunnel Vallquist

Original veröffentlicht in St. Olav, katholische Zeitschrift für Religion und Kultur, Nr. 5/2000

Dieser Artikel erschien auch am 2.2.2002 im Svenska Dagbladet
http://www.svd.se/dynamiskt/kultur/did_2054278.asp

mit der Überschrift: Die katholische Kirche muß sich für den Dialog öffnen
Übersetzung: Friedrich Griess