Gunnel Vallquist: Seelsorger für besorgte Katholiken

Einer der bedeutendsten katholischen Theologen dieses Jahrhunderts heißt Bernhard Häring. Er ist in Kreisen außerhalb der Kirche nicht so bekannt, da er weder Dogmatiker noch Exeget noch Historiker ist und daher nicht an der religionswissenschaftlichen Debatte so wie ein Rahner, ein Küng, ein von Balthasar, ein Lubac oder ein Congar teilgenommen hat. Sein Bereich ist die Moraltheologie, und hier ist er der erste, der für eine radikale Erneuerung dieses Gebietes eingetreten ist und dessen Einfluß als Professor und Lehrer von Tausenden zukünftigen Priestern, als unglaublich produktiver Verfasser und Vortragender sowie als Stütze und Ratgeber für Menschen in allen Weltteilen groß ist.

Für all das ist er innerhalb der katholischen Kirche berühmt und bekannt. Sein epochemachendes Werk Das Gesetz Christi (1954) bedeutete einen radikalen Bruch mit der geläufigen Moraltheologie, die stark von einer juridischen Denkweise geprägt war - der römischen Erbsünde. Statt Registern in den Handbüchern mit abgestuften Sünden, von denen aus der Beichtvater ein Urteil fällen sollte, wies Häring einen Weg, auf dem der Christ in Vertrauen und Freude wandern und Verantwortung für seine Handlungen übernehmen kann. Der Beichtstuhl ist kein Richterstuhl und der Beichtvater kein Richter, er soll "eine wahre Kopie des barmherzigen Vaters sein". Das Gesetz Christi wurde von Priesterseminaren und von der Leitung der Kirche dankbar angenommen; als das Zweite Vatikankonzil vorbereitet werden sollte, wurde Häring sofort als Experte, peritus, einberufen, und wurde einer der Hauptredakteure für Gaudium et spes, das große Dokument des Konzils "über die Kirche in der heutigen Welt".

Also: ein fortschrittlicher Theologe, aber gleichzeitig ein merkwürdiges menschliches Schicksal. Bernhard Häring war in viel historische und kirchliche Dramatik seiner Zeit verwickelt. Nun hat er auf vielfache Aufforderung die Geschichte seines Lebens geschrieben. Es ist ein kleines Buch von 150 Seiten mit einem Titel, der ein Bekenntnis ist: Geborgen und frei. Mein Leben (Herder 1997). Und gerade darum geht es: um einen Menschen, der sein ganzes Leben hindurch diese beiden Grundhaltungen bewahrt und entwickelt hat, die so oft eher im Gegensatz zu einander stehen; wer das eine wählt, scheint dazu gezwungen zu sein, auf das andere zu verzichten, in der Politik ebenso wie in der Religion. Dadurch, daß er eine leuchtende Ausnahme ist, wurde Bernhard Häring zu einem Vorbild und zu einer Hilfe für unzählige Menschen.

Moraltheologe gegen eigenen Wunsch

Er wurde 1912 als zweitjüngstes von zwölf Geschwistern in einer süddeutschen Bauernfamilie geboren. Dort herrschten ein tiefer und inniger Glaube und eine große und frohe Gemeinschaft. Bernhard schien ein wenig ein Unruhestifter und in der Schule nicht besonders fleißig gewesen zu sein, aber er fühlte sich früh zum Dienste Gottes berufen, wollte in die Welt hinausziehen und Missionar werden. Er fragte zuerst bei den Jesuiten an, aber dort hatte man verschiedene Studienrichtungen, eine für die Ausbildung zukünftiger Professoren und eine andere in Hinblick auf das praktische Apostolat. Ihm wurde ein Platz in der ersten Kategorie angeboten, aber er wollte unter keinen Umständen Professor werden und wandte sich daher statt dessen an die Redemptoristen, einen Orden, der in der Einstellung den Jesuiten nahe stand. Dort wurde er mit guten Aussichten, Missionar zu werden, aufgenommen

Die Studien gingen ausgezeichnet, er war an allen Fächern außer an Moraltheologie interessiert: die Kirchengeschichte wurde zu seinem Lieblingsthema. Nach der Priesterweihe im Frühjahr 1939 wurde entschieden, daß er nach Brasilien gehen sollte, aber gerade als er einen Platz auf dem Schiff bestellen sollte, kam der Provinzial in sein Zimmer und gab den Gegenbefehl: Das Professorenkollegium verlangte, Häring solle seine Studien in Moraltheologie fortsetzen mit dem Ziel einer Professur auf diesem Gebiet. "Ich erklärte offenherzig, daß dies das Letzte sei, was ich selbst wollte; ich hatte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen die juridisierende Moraltheologie. Der Provinzial antwortete, was er und die Professoren von mir erwarteten, sei gerade das, daß ich eine grundlegende Erneuerung dieses Gebietes in Gang setzen sollte". So wurde es auch. Als die Redemptoristen nach dem Krieg eine eigene Fakultät für Moraltheologie in Rom, die Alfonsiana, gründeten, war Häring die zentrale Kraft.

Kriegserfahrungen

Aber nun kam das Jahr 1939. Häring wurde zum Wehrdienst einberufen. Dem geltenden Konkordat zufolge wurden katholische Geistliche ausschließlich im Sanitätsdienst eingesetzt. Priesterliche Verrichtungen auszuführen war jedoch für mobilisiertes Personal streng verboten. Häring arbeitete aber während des ganzen Krieges als Priester und Seelsorger, zuerst an der Westfront in Frankreich und dann an der Ostfront in Polen und der Ukraine, immer wenn nach ihm gefragt wurde, seien es nun Katholiken, Protestanten oder Orthodoxe. Die meisten höheren Chargen, die davon Kenntnis erhielten, unterstützten ihn, was man kaum erwartet hätte, wenn man die nazistischen Gehorsamserfordernisse kennt. Aber, so sagte Häring, bei der Wehrmacht geschah es nicht selten, "daß mutige Männer so handelten, als ob sie gewisse Verordnungen der Hitler-Regierung nicht kannten. Und das konnte lange Zeit hindurch so gehen".

Das Kapitel über den Krieg ist voll von abenteuerlichen Ereignissen und auch schrecklichen Schilderungen von Not und Strapazen. Aber man findet auch eine Menge Beispiele von Großzügigkeit, Güte und persönlichem Mut sowohl bei Russen und Polen als auch bei Deutschen, was den Leser überrascht, denn all dies pflegt in der Vergessenheit zu versinken, da es nicht in das Schwarz-Weiß-Bild paßt, das Chronologen und das Publikum wünschen. Obwohl Häring nicht Arzt war, wurde er dennoch gezwungen, ärztliche Tätigkeiten auszuführen, sogar Operationen - es gab ganz einfach keine andere Alternative, außer die Verwundeten verbluten zu lassen. Er weigerte sich auch niemals, Kranke aus der russischen Bevölkerung zu besuchen, die herbeiströmte, als bekannt wurde, daß es hier "einen Doktor" gab. Viele kamen auch, um geistlichen Trost zu erhalten oder ihre Kinder taufen zu lassen; sie hatten jahrelang keinen Priester gesehen und fragten nicht danach, welche Kirche er vertrat.

Mehrmals gelang es Häring, Kriegsgefangene oder jüdische Flüchtlinge zu retten, indem er die betreffenden Offiziere irgend einer Regelverletzung überführte und drohte, sie anzuzeigen. Nicht selten geriet er in Situationen, die nicht nur physischen oder moralischen Mut erforderten, sondern auch List und eine Portion Frechheit. Eine herrliche Episode unter vielen spielte sich in der Gegend von Charkov ab. Häring war beauftragt, für eine Gruppe Späher zu dolmetschen - er sprach russisch. Er fuhr mit dem Fahrrad der Gruppe voraus, um zu erkunden. Als er auf einer Hügelkuppe ankam, stand er plötzlich vor einer bewaffneten russischen Truppe von 50 Mann. Nun war guter Rat teuer. Bevor er noch überlegen konnte, hörte er sich selbst "Hände hoch!" rufen, mit der Donnerstimme, mit der er ausgerüstet war. Alle glaubten, er leite eine überlegene Stärke, und warfen die Waffen weg. Die Russen waren oft nicht besonders motiviert zu kämpfen. Häring ging freundlich auf sie zu und forderte sie auf, sich um Zivilkleider umzusehen und sich nach Hause zu Frau oder Mutter zu begeben. - Eine ausführlicher Schilderung seiner Kriegserfahrungen gab er im Buch Als es ums Überleben ging.

In Ungnade bei der Glaubenskongregation

Nach dem Konzil wurde Häring dazu berufen, praktisch in der ganzen Welt Vorträge zu halten. Bischöfe, Pastoralinstitute und Missionsorden suchten seine Unterstützung bei der Erneuerung, welche die Kirche nun durchführen sollte. Die langen Sommerferien - die Professur an der Alfonsiana behielt er bis 1986 - verwendete er zu solchen Vorträgen. Über seine Erfahrungen aus dem "schwarzen" Afrika schrieb er im Buch Ich habe mit offenen Augen gelernt - ein typischer Titel: Für diesen Lehrer wurde jede Erfahrung eine Gelegenheit, selbst etwas Neues zu lernen.

Man kann also von einer glänzenden Karriere sprechen. Aber dann geschah etwas: Die Enzyklika Humanae vitae Paul VI. Es war im Sommer 1968; Häring befand sich in Amerika. Er war selbst Mitglied der Kommission gewesen, die der Papst ernannt hatte, um zu untersuchen, ob die Kirche ihren Standpunkt zur Geburtenkontrolle ändern könnte, und er wußte also, daß eine überwältigende Mehrzahl der Kommissionsmitglieder (60 von 66) eine Änderung empfohlen hatte. Gerüchte darüber waren hinausgesickert, und man rechnete damit, daß der Papst dem Rat der Experten folgen würde. Aber nach langem Zögern gab Paul VI dem starken Druck einiger Kardinäle in der Minorität der Kommission nach - einer von ihnen hieß Karol Wojtyla. Da außerdem, dem Osservatore Romano zufolge, ein anderer Kardinal verkündet hatte, daß, "wer die Normen der Enzyklika nicht anerkennen wolle, aus der Kirche austreten solle", sah sich Häring, der mit Anrufen von Theologen und Eheberatern überhäuft wurde, genötigt, in der New York Times eine öffentliche Erklärung abzugeben: Jeder Katholik müsse sich selbst vor Gott ehrlich prüfen, ob er / sie den Normen der Enzyklika zustimmen könne. In diesem Fall sei er / sie verpflichtet, sein / ihr Bestes zu tun, um diese in die Praxis umzusetzen. Wer jedoch nach Gebet und Selbsterforschung nicht überzeugt wäre, solle seinem Gewissen folgen und hätte absolut keinen Anlaß, aus der Kirche auszutreten. Mehrere Bischofskonferenzen, unter anderen die französische und die nordische, nahmen den selben Standpunkt ein (Anm. d. Übers: auch die deutsche und die österreichische Bischofskonferenz).

Für Häring hatte die Angelegenheit jedoch sehr unangenehme Folgen. Ende der Siebzigerjahre, als sich das Pontifikat Pauls VI dem Ende zuneigte und der alter Papst immer mehr von Sorgen und Kummer niedergebeugt wurde, erwies sich die sogenannte Glaubenskongregation, die Erbin der Inquisition, als umso vitaler. Sie setze eine Anzahl von Lehrverfahren gegen verschiedene Theologen in Gang, unter anderen auch gegen Häring, eigentlich wegen seines Buches Etica medica über medizinisch-ethische Fragen. Obwohl man wußte, daß er an einem lebensgefährlichen Kehlkopfkrebs erkrankt war und drei Operationen über sich ergehen lassen mußte, wurde er mehrere Jahre hindurch zu ermüdenden Schreibereien und ungemütlichen Verhören auf einem intellektuell niedrigen Niveau gezwungen. Man konnte ihn keiner Häresien beschuldigen, und das Ganze mündete in einen Konflikt, der seitdem in katholischen Debatten eine immer zentralere Stelle einnimmt: Hat ein Theologe das Recht, autoritative Aussagen über Lehrsätze, die nicht dogmatisch festgelegt sind, in Frage zu stellen? Die Glaubenskongregation anerkennt ein solches Recht nicht; eine sehr starke theologische Meinung behauptet das Gegenteil.

Man versuchte nun, Häring dazu zu bewegen, eine feierliche Erklärung zu unterschreiben, daß er sich für alle Zukunft von jeder Kritik an Aussagen des kirchlichen Lehramtes, das heißt der Glaubenskongregation als Vertreterin für die in Rom offiziell herrschende Meinung zu theologischen, kirchenrechtlichen und moralischen Fragen, enthalten werde. Häring antwortete "erschöpft und entrüstet, daß ich Gott sei Dank niemals die Kirche mit der Glaubenskongregation verwechselt habe, sonst hätte ich nicht einen Augenblick weiterhin in der Kirche bleiben können". Eine ausführliche und erschütternde Erklärung dieses ganzen Prozesses kann man in einem Interviewbuch, Meine Erfahrungen mit der Kirche, erhalten, nun in der achten deutschen Auflage. Dies ist das einzige von Härings Büchern, in dem ich einen Tonfall von Bitterkeit bei einem tief verwundeten Menschen gefunden habe.

Da er sich auf diese Weise geweigert hatte, sich zu verpflichten, sein Gewissen zu verraten, ging Häring frei, die Angelegenheit war aus der Welt geschafft, und er erhielt viele Beweise des Respekts und der Anerkennung von anderen kirchlichen Autoritäten. Seine Richter gingen sicher davon aus, daß er bald sterben werde, aber gegen seine eigene und anderer Vermutung wurde er wieder gesund, behielt seine Professur in Rom und setzte seine weltumspannende Tätigkeit ungehindert fort. Als er 1986 pensioniert wurde, zog er sich in das süddeutsche Kloster zurück, wo er seine Studien zuerst begonnen hatte. Hier, in seinem "Ruhestand", setzt er seine Tätigkeit als Wegweiser und, das kann man wohl sagen, als Seelsorger für zahlreiche Katholiken fort, die unter dem gegenwärtigen Zustand der Kirche leiden.

"Kritische Ermunterung"

In einer Reihe von Büchern, die in rascher Folge herauskamen, in handlichem Format (alle beim Herder-Verlag), leicht zugänglich, lebensvoll und schlagkräftig, behandelt er kirchliche Probleme, die allzu lange auf eine Lösung warten mußten. Er spricht frei und ohne Umschweife, wie einer, der nichts zu fürchten hat. Dies betrifft z.B. die extreme Zentralisation aller Macht in Rom, eine Zentralisation, die man ihresgleichen in der Kirchengeschichte bisher nicht erlebt hat und die sowohl die Priesterschaft als auch die Laien durch die Einsetzung neuer Bischöfe überfährt: Es geht auch anders - Plädoyer für eine neue Umgangsform in der Kirche (1993), oder die Diskrepanz zwischen gewissen römischen Verordnungen und der Seelsorgepraxis, die in großen Teilen der Kirche herrscht. Das "Lehramt" spricht von absoluten Prinzipien aus, die man um jeden Preis aufrechterhalten soll. Der Moraltheologe bejaht die Prinzipien, sieht aber die Probleme aus der Perspektive des lebendigen Menschen; er weiß, daß diese oft die Wahl zwischen zwei Übeln haben: Was immer sie auch tun, es ist falsch. Dies ist die Situation für die ständig zahlreicheren wiederverheirateten geschiedenen Katholiken, die man erbarmungslos von den Sakramenten ausschließt, eine Unbarmherzigkeit, die viele Priester und Bischöfe nicht mehr aufrechterhalten können. Aus diesem Anlaß kam es zum Konflikt zwischen deutschen Bischöfen und Rom, und Häring schrieb Ausweglos? - Zur Pastoral der Geschiedenen und Wiederverheirateten (1989).

Es herrscht ein schreiender Mangel an Priestern, weil Rom die Forderung nach dem Zölibat - das von immer mehreren in Frage gestellt wird - gegenüber dem Recht des Kirchenvolkes auf Sakramente und Seelsorge bevorzugt. Viele Priester haben Schwierigkeiten mit ihrem Zölibat, manche schaffen es nicht und heiraten und sind damit von einem Amt ausgeschlossen, zu dem sie sich doch berufen fühlen. Diese Fragen werden in Heute Priester sein (1996) und Meine Hoffnung für die Kirche - Kritische Ermutigungen (1997) behandelt. Dieses letzte Buch befaßt sich auch mit anderen Problemen, unter anderem mit der Stellung der Frau in der Kirche, mit ihrem Recht auf Mitbestimmung und mit dem Bedarf für weibliche Seelsorger. Lange Erfahrung mit schwerer Krankheit und die schmerzvollen Jahre an der Front inspirierten Häring zu einem Buch für Kranke und Pfleger: Ich habe deine Tränen gesehen - Ein Trostbuch für Kranke und ihre Begleiter (1996). Alle diese Bücher sind zugleich freimütige Kirchenkritik und wirksame Seelsorge. Mit seiner "kritischen Ermunterung" hilft Bernhard Häring seinen Lesern, den Mut zu behalten und auf bessere Zeiten zu warten.

Frau Prof. Gunnel Vallquist, Mitglied der Schwedischen Akademie, ist ständige Mitarbeiterin von "St. Olav", einer norwegischen katholischen Zeitschrift für Religion und Kultur. Der vorliegende Beitrag erschien in norwegischer Sprache in der Nr. 11-12/1997 dieser Zeitschrift.

Übersetzung: Friedrich Griess