Trouw, 15. Januar 2002:

Fünfundzwanzigmal Schlagen ist wirklich zu viel

Joost Goes

Norwegische Brüder

Die Norwegischen Brüder regen zu Züchtigung an. Anwalt R.F. Speijdel meint - nach verschiedenen Anzeigen von Menschen, die in ihrer Jugend mit Stöcken, Peitschen und Gardinenstange schwer 'gezüchtigt' wurden, - daß von systematischer Mißhandlung die Rede war. Speijdel zufolge bildet die Leitung eine kriminelle Organisation.

Im vergangenen Monat erstattete der Almeloër André Venema (34) Anzeige gegen die Leitung der Norwegischen Brüder. Eltern sollen anläßlich von Zusammenkünften jahrzehntelang dazu aufgerufen worden sein, ihre Kinder durch körperliche Bestrafung auf dem rechten Weg zu halten. Venema behauptet, dadurch systematisch mißhandelt worden zu sein. "Wenn ich ein 'unflätiges' Wort sagte, bekam ich minutenlang Schmierseife in den Mund."

Dem Enscheder Anwalt R.F. Speijdel zufolge gibt es genug Beweise, um die Leitung der Gemeinschaft als kriminelle Organisation zu betrachten. Nach Venema haben mehrere Opfer wegen körperlicher und geistiger Gewalt Anzeige erstattet. Bei der Polizei wurden außerdem einzelne Fälle von sexuellem Mißbrauch gemeldet. Speijdel vermutet, daß die wirkliche Anzahl sich nicht auf diese Fälle beschränkt. Die Polizei in Twente wird wahrscheinlich binnen kurzem ein eigenes Team für diese Angelegenheit aufstellen. Das muß die ganze Organisation durchleuchten. Die angezeigten strafbaren Handlungen sollen sich in den Sechziger- Siebziger und Achtzigerjahren ereignet haben. Eine Anzahl von Fällen ist inzwischen verjährt, aber das bedeutet Speijdel zufolge nicht, daß Mißhandlungen in der Bruderschaft nicht mehr vorkommen. "Es ist möglich, sich vorzustellen, daß sie wie ein Blatt an einem Baum umgedreht wurden."

"Ich freue mich über Venema's Anzeige. Wir prüfen jede Form von Kindesmißhandlung" sagt Jan-Hein Staal, einer der Leiter der Norwegischen Brüder. "Das paßt nicht zu unserer Weise des Glaubenserlebnisses." Dazu paßt wohl der biblische Grundsatz der Kinderzüchtigung. "Aber durch die Äußerung von Venema hat der Begriff 'Zucht' eine ganz andere Bedeutung erhalten."

Was ist 'Zucht' dann wohl und wann wird sie zur Mißhandlung? Staal bleibt vage: "Wenn es mir zu Ohren kommt, daß jemand sein Kind fünfundzwanzigmal schlägt, was kann ich da innerhalb meiner Befugnisse schon tun? Er sieht keinen Anlaß dazu, die Eltern zu ermahnen, ihre Kinder nicht zu schlagen. "Das ist ihre persönliche Verantwortung. Darüber werde ich keine einzige Lehre oder Stellungnahme verkündigen." Ihm zufolge kann ein Leiter unmöglich darüber informiert sein, was in allen 800 Familien geschieht. "Ein Pastor oder Prediger hat doch auch darauf keinen Einfluß"

Staal leugnet, daß von der geistlichen Leitung aus in den Sechzigerjahren zur Austeilung körperlicher Strafen an Kinder aufgerufen wurde. Er weiß nicht genau, was damals geschehen ist. "Sicher ist, daß dies auch in dieser Zeit nicht systematisch propagiert wurde." Ein ausgetretener Bruder, der anonym bleiben will: "Staal hat ein schlechtes Gedächtnis. Jeder, der in dieser Zeit bei der Bruderschaft war, weißt sehr gut, daß in nahezu jeder Familie geschlagen und daß die Lehre von der Zucht systematisch gepredigt wurde."

Man berief sich auf Sprichwörter 13 Vers 24: "Wer die Rute spart, haßt seinen Sohn; doch wer ihn liebt, der züchtigt ihn beizeiten." Die Zucht war darauf ausgerichtet, den Willen des Kindes zu brechen. "Wir mußten für 'die Welt' ungeschickt gemacht werden, so daß wir außerhalb der Bruderschaft nicht in der Gesellschaft funktionieren konnten. Kinder bekommen nicht die Chance, ein Ego aufzubauen. Das 'Ich' ist im 'Gruppen-Ich' aufgelöst, das unter der Kontrolle der Leiter steht." Er kennt Menschen, die unter diesem geistlichen Druck Selbstmord begangen haben.

Dreißig Jahre lang war Leo J. Pape ein Norwegischer Bruder. Dann wurde er suspendiert: Er übte Kritik an der Lehre, die er auf die Spitze trieb. Und er konnte vor allem nicht zusehen, wie strafbare Taten unter den Teppich gekehrt wurden. Die Leitung breitete über Mißhandlung und Inzest das Schweigen, um die Erfolgsgeschichte der Gemeinschaft, die Überwindung der sündigen Natur, nicht zu gefährden. "Es geht dabei nicht um Kleinigkeiten, sondern um Lebenswichtiges", womit Pape auch auf Selbstmordfälle hinzielt. Er bestätigt, daß die Eltern bis zum Ende der Achtzigerjahre zu körperlicher Bestrafung angestiftet wurden. "Natürlich wurde niemals gesagt: 'Schlagt einfach los'." Aber das Anspornen durch einen Bruder mit Autorität, die Nachkommenschaft zu züchtigen, um 'den Willen des Kindes zu brechen', wurde sicher von einer Anzahl Eltern übernommen. Pape: "Ich glaube, daß die Lehre von der Zucht nicht mehr auf diese Weise propagiert wird. Aber das Ungesunde ist, daß dies auf äußeren Druck und nicht durch Besinnung von innen her geschah." Er fürchtet, daß die Schwächeren noch immer bei der Bruderschaft kein Gehör finden. Das macht die Gemeinde für ihn zu einem unsicheren Ort. "Das ist der Flaschenhals. Überall gehen Dinge schief, aber bei den Brüdern ist immer nur Platz für die Erfolgsgeschichte, nicht für Korrekturen."

Kritiker sehen einen Nährboden für Kindesmißhandlung und sogar für sexuellen Mißbrauch in der Fixierung auf ein sündenfreies Leben und in dem nach innen gekehrten Charakter der Gemeinschaft. Staal findet das unrichtig. Auch stört es ihn, daß ein Zusammenhang zwischen der Glaubensgemeinschaft und dem, was in einzelnen Familien geschehen kann, gemacht wird. "Das ist wissenschaftlich ziemlich ärmlich unterbaut."

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