The Tablet - Samstag, 3. Februar 2001

Buchbesprechung: Der Großinquisitor der modernen Kirche

Kardinal Ratzinger, der Glaubenseinschärfer des Vatikans
John L. Allen Jr
Continuum

Kardinal Ratzinger ist ein Wunderkind. Als ein Mann von hervorragender und subtiler Intelligenz, als ein in den höchsten Standards einer deutschen Universität ausgebildeter Wissenschaftler und als einer der jüngeren Mitglieder jener progressiven Gruppe von Theologen, die das Zweite Vatikanische Konzil so stark beeinflußten, wurde er in einem sehr reaktionären Augenblick die mächtigste Gestalt der römischen Kurie und nahm eine ganze Reihe von Positionen ein, die offensichtlich im Gegensatz den Auffassungen seiner Jugendzeit standen. Er hat die Autorität von Bischöfen und Bischofskonferenzen reduziert, er hat gewissermaßen das theologische Bewußtsein der Kirche zentralisiert und in diesem Prozeß eine große Anzahl katholischer Theologen entfremdet. Er hat jedoch seine großen Unterstützer, natürlich auch Papst Johannes Paul II..

Wir benötigten ein Buch über ihn, das gut recherchiert, informativ und analytisch ist, entsprechend kritisch, aber gründlich und entschieden gerecht. John Allen hat gerade ein solches Buch verfaßt. Ein junger amerikanischer katholischer Journalist, nun Korrespondent in Rom für den National Catholic Reporter of Kansas City, hat er die Theologie ziemlich gut im Griff und seine Darstellung Ratzingers ist im Allgemeinen überzeugend. Er zollt dem Kardinal auf mehreren Gebieten Achtung und anerkennt die Schwierigkeit seiner Aufgabe in der heutigen pluralistischen Kirche.

Ratzinger hat sich bemüht, seine Arbeit mit einer Mauer des Schweigens zu umgeben. Dennoch sind die Fakten seiner Tätigkeit sowohl als Erzbischof von München als auch als Präfekt der Glaubenskongregation wohlbekannt. Seine berühmteren Angriffsziele schließen Hans Küng, Leonardo Boff, Charles Curran, Matthew Fox und Tissa Balasuriya mit ein, deren Leben und Werk er beschädigt hat. Er fühlte sich verpflichtet, sie im Namen der 'einfachen Christen' zu disziplinieren (oft auf eine Weise, die sich im Nachhinein als kontraproduktiv erwies), wiederholt darauf hinweisend, seine Aufgabe sei es, 'den Glauben dieser kleinen Leute vor der Macht der Intellektuellen zu beschützen'. Allen's Bericht konzentriert sich auf Ratzinger selbst und ist in einigen Punkten etwas eindimensional. Er wirft wenig Licht auf die Beziehung des Kardinals zu Papst Johannes Paul II:, der ihn 1981 nach Rom berief (Papst Paul VI. hatte ihn zum Erzbischof von München und 1977 zum Kardinal gemacht), oder zu der übrigen Kurie. Vor allem war Kardinal Casaroli als Staatssekretär die mächtigere Gestalt in der Kurie, und die Dominanz Ratzingers scheint 1990 mit der Pensionierung Casaroli's begonnen zu haben, aber Allen erwähnt Casaroli kaum.

Wie soll man nun die Einstellung eines Kardinals Ratzinger im Gegensatz zu der eines Professors Ratzinger 20 oder 30 Jahre früher erklären? Der Kern von Allen's Argument ist, daß er sich in einem Zustand der Absage an drei verschiedene Dinge befindet: Erstens der plötzliche Wechsel der Position, als er 1968-70 nicht nur den prestigereichen Lehrstuhl in Tübingen zugunsten eines Postens an der neuen bayrischen Universität Regensburg aufgab, sondern sich auch intellektuell von bisher nahen Kollegen wie Küng und sogar seinem alten Bundesgenossen Rahner trennte. Die zweite Absage betrifft das Zweite Vatikanische Konzil und seine eigene Rolle darin, worüber sich seine Kommentare als Kardinal sehr von dem unterscheiden, was er damals schrieb.

Die dritte Absage betrifft seine Einstellung zu Nazideutschland, in dem er aufwuchs. Seine Bekehrung nach 1968 verbindet Allen mit dem Umschwung von den Studentendemonstrationen und dem marxistischen Gequassel dieses Jahres. 'Es gab eine Instrumentalisierung durch Ideologien, die tyrannisch, brutal, und grausam waren. Diese Erfahrung machte mir klar, daß man dem Mißbrauch des Glaubens widerstehen muß', sagt Ratzinger später in einem Interview, das im Buch 'Das Salz der Erde' enthalten ist. Es mag außerordentlich erscheinen, daß jemand, der in einer Naziwelt aufwuchs, die wirklich 'tyrannisch, brutal, und grausam' war, offensichtlich dadurch so wenig betroffen sein und andererseits durch die oberflächlichen marxistischen Studenten 20 Jahre später so umgekippt werden konnte. Ratzinger hatte darauf bestanden, daß er und sein Vater gegen den Nationalsozialismus waren, und daran gibt es keinen Zweifel. Jedoch war sein Vater, ein devoter Katholik, ein Neffe des berühmten aber notorisch antisemitischen Priesters Georg Ratzinger und diente mehrere Jahre nach Hitlers Machtergreifung weiterhin als Polizeiinspektor Und was noch mehr zählt: Er erlebte das kurze Trauma, als Bayern 1919 eine 'Sowjetrepublik' wurde. Der Eindruck, den Ratzinger von seiner eigenen Kindheit vermittelt, ist der eines fast idyllischen Bayern. Jeder Widerstand gegen den Nationalsozialismus, das betont er, sei unmöglich gewesen. Allen aber zeigt, wieviel Widerstand es dort tatsächlich gab. Die Juden in Ratzingers Heimatstadt Traunstein wurden in der Kristallnacht angegriffen, es gab Konzentrationslager gleich um die Ecke. Es ist unmöglich, daß Ratzinger nicht merkte, daß dies 'tyrannisch, brutal und grausam' war.

Der junge Priester Ratzinger konnte für eine Weile all dies hinter sich lassen, Schüler Rahners werden und sich den Reihen der moderat Progressiven anschließen. Auf viele Weise sind die wichtigsten Dinge in Allen's Buch die langen Zitate Ratzingers aus der Konzilszeit, der Bericht über seine Beziehung zu Kardinal Frings und die Gegensätze zu seiner neueren Lehre. Das Jahr 1968 erweckte sein früheres Selbst und einen Schrecken vor dem Marxismus. Natürlich gibt es keinen Grund zu zweifeln, daß sein Vater und er im Gegensatz zum Nationalsozialismus standen; dennoch ist sein Anspruch trügerisch, die katholische Kirche sei im Dritten Reich eine Zitadelle des Glaubens und der Geradlinigkeit gewesen. Sehr viele Katholiken waren tatsächlich zutiefst dagegen. Hunderte Priester waren in Konzentrationslagern. Doch die Rolle der Hierarchie war weitaus nachgiebiger und zweideutiger, und Ratzinger selbst wurde ein widerstrebendes Mitglied der Hitlerjugend. Es ist merkwürdig, daß Ratzinger das Beispiel des Dritten Reichs benützt, um zu argumentieren, politische Freiheit solle nicht durch Einzelpersonen, sondern durch eine autoritäre Kirche verteidigt werden. Gerade dies mißglückte in Nazideutschland.

Ratzingers Politik als Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation wurde von einigen als eine Angelegenheit von Ehrgeiz und Machtpolitik abgetan. Dies ist ein Irrtum, denn seine theologische Wende fand offenbar statt, lange bevor er nach Rom ging. Sie wurde von anderen älteren Theologen mitvollzogen, die durch eine offensichtliche Auflösung der Theologie nach dem Konzil irritiert waren, vor allem Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar, und wurde durch eine Dimension seines Denkens ermöglicht, die immer präsent gewesen war, den Augustinismus. Allen betont dies viel zu wenig. Es ist sicher seltsam, daß der 'Einschärfer' der katholischen Rechtgläubigkeit sich selbst als Anti-Thomist bekennen sollte. Seine Abneigung gegen die Ansichten des Aquinaten wurden nie verhehlt und sie liegen sowohl seiner Kritik am Zweiten Vatikanischen Konzil - auch damals schon - als auch seiner folgenden Entwicklung zugrunde. Für ihn sind Thomisten allesamt bezüglich der menschlichen Natur zu optimistisch. Sein Pessimismus bezüglich der Verderbtheit der menschlichen Befindlichkeit - und hier ist zumindest sein Temperament sehr verschieden vom tiefen Optimismus, der von Papst Johannes Paul ausstrahlt, wie er auch vom Konzil ausstrahlte - sieht zeitweise so lutherisch aus, daß er etwas befangen seine Differenzen mit Luther geltend machen muß. Sein Pessimismus ließ ihn so viel Abneigung gegen die Kirchenkonstitution des 2. Vaticanums, Gaudium et Spes, haben. Wieder und wieder erklärt Ratzinger in seinem Konzilskommentar von 1967, daß Teile der Konstitution 'sehr unbefriedigend' seien. Die Einstellung, die Gaudium et Spes gestaltete, klagt er, 'ist überhaupt nicht darauf vorbereitet, die Sünde zum Zentrum des theologischen Gebäudes zu machen'.Sogar Lumen Gentium in seiner Lehre über das Heil außerhalb der Kirche fand er 'sehr unbefriedigend', seine Formulierungen grenzten an Pelagianismus. Wahr ist, daß der Aquinat, das Zweite Vatikanische Konzil und die Befreiungstheologie auf ähnliche Weise Bewegungen weg von Augustinus in eine halb-pelagianischen Richtung darstellen - Bewegungen, die Ratzinger als Utopien beklagt.

Es liegt eine konzentrierte Subtilität in Ratzingers Konzilskommentar aus den Sechzigerjahren, die den Geist eines großen theologischen Wissenschaftlers enthüllen, der das Zweite Vatikanische Konzil loyal interpretiert, jedoch mit einem augustinischen Anflug. Leider findet man selten Vergleichbares in dem, was er neuerdings geschrieben hat und was von zu leichfertigen Verurteilungen als 'Relativismus', 'Historizismus', 'marxistischem Einfluß' und 'liberalen' akademischen Haltungen jeder Art voll ist. Die Gefahr bei alldem ist, daß es trotz seines Protestes sich als unmöglich erweist, seine Ansichten als Theologe von seiner Politik als Kardinalpräfekt zu trennen. Wie Allen bemerkt, scheint es kaum zu überraschen, daß der höchstverehrte Überlebende des 2. Vatikanums, Kardinal König, Alterzbischof von Wien, sich 1998 veranlaßt fühlte, auszurufen: 'Ich kann nicht schweigen, denn mein Herz blutet, wenn ich sehe, welcher Schaden dem gemeinsamen Gut der Kirche Gottes zugefügt wird (Artikel aus 'The Tablet', 16. Januar 1999, zitiert von Allen), Die Glaubenskongregation, so meinte König, müsse imstande sein, 'besser Wege zu finden, um ihre Arbeit zu verrichten.'

1964, währen der dritten Sitzungsperiode des Konzils, baten 334 Bischöfe, daß Gaudium et Spes in seinem Abschnitt über den Atheismus einen Hinweis auf das Dekret des Heiligen Offiziums von 1949 enthalten sollte, das die Kommunisten exkommunizierte. Die zuständige Kommission lehnte dies ab und Ratzinger kommentierte: 'Die Waffe der Verurteilung wurde bis zum Äußersten versucht ..... es ist nicht mehr möglich, das Problem auf diese Weise zu behandeln'. Man würde sich wünschen, er hätte sich an diese Worte erinnert, als er 1977, 30 Jahre später, Balasuriya exkommunizierte, einen demütigen, älteren und sehr engagierten Priester. 1963, als die erste Sitzungsperiode des Konzils vorüber war, faßte Ratzinger das Wesentliche prägnant zusammen: 'Sollte .... die alte Politik der Ausschließung, Verurteilung und Verteidigung fortgesetzt werden? Oder sollte die Kirche ..... ein neues Blatt aufschlagen und eine neue und positive Begegnung mit ihrem eigenen Ursprung wagen, mit ihren Brüdern und mit der Welt von heute? ' Wenn man den letzten Brief des Papstes, Novo Milennio Ineunte, liest, mit seinem endgültigen Bestehen darauf, das Zweite Vatikanische Konzil bleibe 'ein sicherer Kompaß für den Eintritt in das nun beginnende Jahrhundert', dann versteht man, daß diese Frage in Rom noch offen ist. Aber ist sie es auch für Kardinal Ratzinger?

Adrian Hastings

Übersetzung: Friedrich Griess