Autor: Detlef Streich, Göppingen ©

E-Mail: detlef.streich@gmx.de

 

September 2008

 

 

 

 

 

 

 

 

„Christliche Sondergemeinschaft oder Sekte“

 

 

 

 

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Begriffsklärung und Unterscheidungskriterien -

 

Eingeleitet und untersucht am Beispiel

 

der Neuapostolischen Kirche

 

 
 
 
 
 
 
 
„Unsere ganzen Geschwister,
die in den Gottesdienst gehen und mitarbeiten,
lassen sich doch nicht für dumm verkaufen.

 

Die sind davon überzeugt!“
 
Kirchenpräsident Hagen Wend [1]
 
 
Gliederung

 

 

 

 

 

      Vorbemerkung

 

1.      Kurze Standortbestimmung: „NAK- eine Sekte?“

 

2.   Begriffsausweitung „Sekte“ mit Beispielen

 

3.      Psychologische Zwangstechniken zur Meinungs(um)bildung

 

3.1 Zwangstechniken nach Lifton

 

3.2 Bedingungen und Methoden zur mentalen Beeinflussung nach Singer

 

4.   Checkliste zur Beurteilung unbekannter Gruppen

 

5.   Sektenmerkmale der NAK in Vergangenheit und Gegenwart

 

 

Vorbemerkung

 

In den vergangenen Jahren und besonders nach dem durchaus kritisch zu bewertenden Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages  zum Thema "Sogenannte Sekten und Psychogruppen"[2] (1998) ist die Diskussion über die Frage, ob speziell die Neuapostolische Kirche (NAK) oder auch die eine oder andere christlich orientierte Gemeinschaft eine Sekte ist oder eher als Freikirche oder Christliche Sondergemeinschaft einzuordnen sei, erneut aufgekommen und von verschiedenen Seiten sehr unterschiedlich beantwortet worden. Eine der Ursachen für die Meinungsverschiedenheiten ist die unscharf oder verschieden gedeutete Bedeutung und die damit verbundene Uneinigkeit darüber, was überhaupt unter dem Begriff „Sekte“ zu verstehen ist. Zudem fließen Haltungen von Kritikern und Mitgliedern der betreffenden Gruppe in die Diskussionen ein, die aus dem jeweils spezifisch subjektiven  Blickwinkel verständlicherweise oft eher emotional-polemisch als sachlich orientiert sind. Andererseits scheint wiederum die Haltung der Sektenbeauftragten der beiden Großkirchen gerade zur NAK oft diplomatisch geprägt, um die entstandenen Prozesse und Gespräche nicht durch eine allzu rigide Bewertung bereits im Keim zu ersticken. So stellt sich unter diesen Vorüberlegungen die durchaus berechtigte Frage, ob denn in Bezug auf den Sektenvorwurf der NAK

 

1.      eine sachlich fundierte Klärung überhaupt möglich ist und

2.      wenn ja,  welche tatsächliche Relevanz letztlich in der Antwort liegen könnte und

3.      für welche Zielgruppe eine Antwort interessant sein könnte.

 

Mir scheint die Frage nach einer wissenschaftlich begründeten Begriffsklärung nicht nur möglich, sondern mehr noch absolut unumgänglich, denn Sekten und Psychogruppen üben heute nicht nur auf den Einzelnen einen beträchtlichen individuell schädlichen Einfluss aus. Eine Antwort darauf, ob eine Gruppe eine destruktive Gemeinschaft ist oder nicht und eine dementsprechende Reaktion wäre darüber hinaus auch von gesellschaftlichem Interesse, denn die schädigenden Folgen solcher Gruppen müssen von der gesamten Gesellschaft letztlich mitgetragen und kompensiert werden. Zu nennen ist hier zum Beispiel volkwirtschaftlich der Kostenfaktor für anfallende Psychotherapie und faktischen Arbeitsausfall. Leider liegen zu diesem Thema für Deutschland keine statistischen Daten vor. [3]

 

Ob die folgenden Ausführungen nun für jeden Leser an jeder Stelle zu eindeutigen Schlüssen führt, muss jedem selbst überlassen bleiben. Zumindest soll der Versuch unternommen werden, sich sachlich und argumentativ nachvollziehbar dem Thema zu nähern. Ich selbst bin in die NAK hineingeboren worden (Jahrgang 1956), war 48 Jahre lang Mitglied und habe als sehr aktiver „Insider“ in Sachen Musik einen tiefen Einblick hinter die Kulissen des nach außen dargestellten Bildes in die hier zu untersuchenden inneren Strukturen und Mechanismen gewonnen, die einem Außenstehenden absolut verborgen bleiben und auch von den meisten Mitgliedern kaum durchschaut werden können.

 

Dennoch ist dieser Aufsatz keine Anklage oder Abrechnung, da es nicht um die Zuweisung von Schuld geht. Die Ausführungen sollen allen Beteiligten oder davon Betroffenen, also aktiven und ausgetretenen Mitgliedern und deren Familien, Weltanschauungsbeauftragten und nicht zuletzt auch den verantwortlichen Führungskräften der NAK helfen können, Erklärungen und Lösungsansätze zu finden, die einen klaren Weg nach vorn ermöglichen. Dazu bedarf es jedoch eines kritischen und/oder selbstkritischen Blicks auf das, was wirklich historisch war und gegebenenfalls heute noch ist. Beschönigungen, Entschuldigen, Rechtfertigungen oder eine gewisse diplomatische Toleranz hindern diesen Weg, denn nur die Erkenntnis der Wahrheit macht wirklich frei für kommende und dadurch erst möglich werdende Schritte.

 

Sollten in meinen Ausführungen trotz sorgfältiger Recherche sachliche Fehler vorkommen, bitte ich, mir dies mitzuteilen.

 

1.      Kurze Standortbestimmung: „NAK- eine Sekte?“

 

Verwirrend vielfältig sind die in den vergangenen Jahren zur Vermeidung des fachlich und umgangssprachlich oft undifferenzierten Sektenbegriffes entstandenen Neuformulierungen wie „Jugendreligionen“, „Freikirchen“,  „Neue Religiöse Bewegungen“, „Totalitäre Kulte“, „Weltanschauungsgemeinschaften“, „christliche Sondergemeinschaften“, „Psychogruppen“, „Politgruppen“, „klassische (oder traditionelle) Sekten“, „Fundamentalistische christliche Gruppen“, „Konfliktträchtige Gruppierungen“, „Destructive Cults“.

 

Im Jahr 2000 hieß es dazu in einem eigenen Beitrag der NAK-Kirchenzeitschrift "Unsere Familie" Nr. 3/2000“ zur Sektenfrage:

 

„Indessen steht heute fest, dass all die angeführten Zuordnungskriterien nicht hinreichen, um Sekten von Kirchen zu unterscheiden. Was jeweils als Sekte deklariert wird, lässt sich letzten Endes nicht anhand objektiver und nachprüfbarer Punkte bestimmen. (...)

Die Lehre - das ist für uns das Entscheidende! Und was Irrlehre ist, muss mit der Heiligen Schrift widerlegt werden; was Wahrheit ist, muss sich am Evangelium festmachen lassen. Es ist eine hinlänglich bekannte Tatsache, dass die Wahrheit nicht unbedingt dort zu finden sein muss, wo die Mehrheit ist. (...)

 

Nach weiteren Ausführungen wird gefolgert:

 

„Halten wir fest: Wer den Inhalt der Lehre, die in der Neuapostolischen Kirche verkündigt wird, am Evangelium misst, wird uns nicht einfach als "Sekte" abqualifizieren können. So wenig dies anderen zusteht, so wenig steht es selbstverständlich auch uns zu, andere gläubige Christen abzuwerten - ob mit dem Wort "Sekte" oder mit anderen abwertenden Bezeichnungen.“

 

Zum Schluss der Ausführungen erfolgt noch eine Verhaltens- und Missionierungsvorgabe an die Mitglieder, wie sie auf den erhobenen Vorwurf reagieren sollen:

 

„Wenn man uns als "Sekte" bezeichnet, versuchen wir die Grundlage für ein sachliches Gespräch zu legen. Wir geben Informationen aus der eigenen Erfahrung und laden die Fragenden ein, die Gottesdienste zu besuchen, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und selbst wenn wir uns angegriffen und ungerecht behandelt fühlen, weil wir in der öffentlichen Auseinandersetzung elementare Gebote der Objektivität vermissen, wollen wir uns davor hüten, unsachlich oder polemisch zu reagieren.“

 

Wo und wie lässt sich nun die Neuapostolische Kirche einordnen? Ein kurzer Überblick:

 

Während Stammapostel Fehr im Frühjahr 1996 im Rahmen eines Jubiläums der NAK Schweiz die NAK als Freikirche bezeichnet hat, widersprach laut Olaf Wieland (Gesprächskreis „Toleranz im Glauben“ Hamburg) der Medienreferent der Neuapostolischen Kirche International  Peter Johanning in einer schriftlichen Stellungnahme[4] vom 29.08.2002 dieser Bezeichnung:

 

 „Ich war damals noch nicht als Pressesprecher tätig. Die Ereignisse vorher und nachher sind mir nicht bewusst. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass seinerzeit unsere Kirche als „Freikirche“ definiert wurde, zumal in der Schweiz, wo die theologische Begrifflichkeit des Wortes nicht sehr populär ist. Dort verwendet man „Freikirche“ als soziologischen Terminus im Sinne von: unabhängig vom Staat. In Deutschland können wir diesen Begriff deshalb nicht benutzen, weil er theologisch-historisch definiert ist als eine Kirche, die sich innerhalb des protestantischen/lutherischen Bekenntnis unabhängig von den evangelischen Landeskirchen entwickelt hat. Zwar gilt, dass auch hier die Übergänge fließend sind (beispielsweise bei den Siebenten-Tags-Adventisten), doch wir können den Namen „Freikirche“ nicht auf uns beziehen.“

 

Und doch, so meinte im Rahmen des fünfzigjährigen Jubiläums der Vereinigung Apostolischer Christen Schweiz (VAC) Dr. Johannes Albrecht Schröter am 16. Oktober 2004, solle man   „der NAK die Chance geben, sich als Freikirche zu entwickeln“.[5]

 

Das offizielle "Handbuch Religiöse Gemeinschaften" der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zählt hingegen in der 6. bearbeiteten und erweiterten Auflage von 2006 die NAK nach wie vor zu den christlichen Sekten. Sie wird damit auf eine Ebene gestellt mit folgenden Gruppen:

 

·        Apostelamt Juda-Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus (AJ) . . . .

·        Christengemeinschaft (CG)

·        Christliche Gemeinschaft Hirt und Herde (HH)

·        Christliche Wissenschaft/Christian Science (CS)

·        Gemeinschaft in Christo Jesu / Die Lorenzianer

·        Internationale Gemeinden Christi (IGChristi) / International Churches

of Christ (ICOC) / Boston Church of Christ (BCC)

·        Johannische Kirche (JK)

·        Neuapostolische Kirche (NAK)

·        Unitarier (Un)

·        Zeugen Jehovas (ZJ

 

Ebenso ordnen die meisten einschlägigen Artikel zum Thema  „Weltanschauung – Religion“ der NAK den Begriff „Sekte“ zu. Dr. Hansjörg Hemminger, ev. Weltanschauungsbeauftragter, ergänzt aber wohlwollend:Die meisten dieser traditionellen Gruppen haben sich trotz ihrer lehrmäßigen Abgeschlossenheit an die Gesellschaft angepaßt oder befinden sich (wie die Neuapostolische Kirche) auf dem Weg dazu.“[6]

 

Dr. Christian Ruch, Mitglied der katholischen Arbeitsgruppe »Neue religiöse Bewegungen« der Schweizerischen Bischofskonferenz, kommentiert jüngst in einem vielseitig orientierten Beitrag „…ist das eigentlich noch eine Sekte?“ vom 04.08.2008[7]:

 

„Der NAK-Leitung ist durchaus bewusst, dass die Gemeinschaft an ihrem Sektenimage zu einem erheblichen Teil selbst schuld ist. Sie habe sich, so Fehr, in den sechziger und siebziger Jahren zu sehr in einer »Igelposition« befunden. Ausschlaggebend für die Einstufung als Sekte waren jedoch vor allem die rigiden Strukturen innerhalb der NAK, die selbst vor einer Kontrolle des Privatlebens ihrer Mitglieder nicht zurückschreckte.

Doch diese Strukturen werden zunehmend in Frage gestellt – einerseits vor allem von der jüngeren Generation in den eigenen Reihen, andererseits aber auch von ehemaligen Mitgliedern,“

 

Aber, so weiter in dem Artikel, „der „Informationsabend“ vom 4. Dezember 2007 hat neue Zweifel daran geweckt, ob die NAK tatsächlich von der Heilsnotwendigkeit des Apostelamts Abstand nehmen kann. Vor diesem Hintergrund sind viele evangelische und katholische Weltanschauungsbeauftragte auch nicht sehr glücklich darüber, dass die NAK in Memmingen und Aschaffenburg von der örtlichen ACK bereits den Gaststatus erhielt. Der Präsident der bayrischen Landes-ACK, Regionalbischof Hans-Martin Weiss, reagierte auf diesen Schritt „sehr skeptisch, weil die Neuapostolische Kirche (…) noch keinen substantiellen Schritt von einer Sekte hin zu einem Mitglied der weltweiten ökumenischen Gemeinschaft der Christen getan“ habe.“

 

Und dennoch meinte jüngst innerhalb einer Studientagung in Frankfurt über die Neuapostolische Kirche am 12.09.2008 unter dem Thema „Raus aus der Sektenecke – rein in die Ökumene?“ Dr. Utsch als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin (EZW), dass der Sektenbegriff auf die NAK bezogen problematisch sei. So werde die Neuapostolische Kirche in der EZW als „christliche Sondergemeinschaft“ geführt. Weiter begrüßte er die „vorsichtige, ökumenische Öffnung“ mit der Hoffnung auf Fortsetzung dieses Reformprozess. [8]

 

Worin aber unterscheidet sich nun eine „Sekte“ von „einem Mitglied der weltweiten ökumenischen Gemeinschaft der Christen“ ?

Gibt es objektive Kriterien oder ist dies schlicht eine nicht zu klärende Glaubensfrage?

Um aber überhaupt einen Schritt aus dem Sektenimage in die Richtung einer „Entsektung“ machen zu können, müsste zuvor diese Frage hinreichend schlüssig geklärt werden.

 

Zur Annäherung an eine Antwort sollen im nächsten Kapitel zunächst einige markante Gruppierungen vorgestellt werden, die zumindest von außen eindeutig und unstrittig dem Sektenbegriff zuzuordnen sind.

 

 

 

2.      Begriffsausweitung „Sekte“ mit Beispielen

 

Ronald Enroth formulierte in „What is a Cult? (Downers Grove, Ill.: InterVarsity Press, 1982), S. 12.“), dass „für Christen die wesentlichste Komponente bei der Definition einer Sekte theologischer Natur“ sei. Aber er setzt, einen betroffenen Laien zitierend, hinzu:

 

„Ich denke, dass man den anderen von Sekten hervorgerufenen Gefahrenzonen mehr Beachtung schenken sollte, wie etwa den hervorgerufenen psychologischen und moralischen Schäden, dem Zerreißen von Familienbanden und den Behinderungen bei der akademischen und beruflichen Laufbahn.“

 

So zitiert von Paul R. Martin Ph.D.[9] in „Die Definition einer Sekte[10] , einem sehr beachtenswerten Artikel. Weiter schreibt Dr. Martin:

 

Während häretischer Irrglaube psychischen Schaden verursachen kann und es auch tut, garantiert Rechtgläubigkeit allein und an sich nicht, dass psychologische und moralische Schäden nicht auftreten können. Deshalb ist eine rein theologische Definition des Begriffs „Sekte“ nicht ausreichend. Es bedarf auch einer psychologischen Definition.

Die hauptsächlich theologische orientierte Diskussion um „Wahrheit“ oder „Rechtgläubigkeit“ ist jedoch in vielen Kreisen bis heute weiterhin oft allein entscheidendes Kriterium geblieben. Man fragt nach den biblischen Grundlagen der Gruppe, kritisiert formal außerbiblische Lehren, Rituale oder Bezugsquellen und bemerkt dabei nicht, dass man einem zu kurz greifenden, historisch-christlich geprägten Sektenverständnis auf religionsphänomenologischer Basis folgt, was angesichts der mannigfaltig geglaubten „Sekten-Wahrheiten“ und in unserer auch religiös globalisierten Welt nahezu anachronistisch anmutet. Und doch gibt es Gruppierungen, denen man von außen schon auf Grund ihrer Lehrsätze eindeutig einen Sektenstatus zuweisen wird. Dazu einige markante Beispiele. Die Textauszüge stammen aus den Seiten der verlinkten Überschriften:

 

Schulungsmaterial Scientology: [11]

"Vor 35 Billionen Jahren löste ein böser Fürst namens Xenn das Problem der Überbevölkerung auf einem andern Planeten, in dem er zwei Billionen Thetanen (Anmerkung: scientologischer Begriff für Seele) zur Erde brachte, die zu jener Zeit als Teegeack bekannt waren. Er stopfte sie in Wasserstoffbomben, die er in einem Vulkankrater explodieren liess. Durch die Explosion wurden die Thetanen, an elektrische Kabel angeschlossen, bis hoch in den Himmel geschleudert. Dann wurde ihnen die R6-Bank eingeprägt, sie wurden in ein Flugzeug geladen und wieder auf die Erde geworfen. Schreckliches Unheil ereilte jeden, der diesen Komplott aufzudecken versuchte, bis uns die Aufklärung gelang. Ron (Anmerkung: für Ron Hubbard) wäre fast selbst elend zu Grunde gegangen.; doch irgendwie überlebte er (Anmerkung: vor 35 Billionen Jahren), allerdings völlig zerschlagen. Xenn wurde für sein Verbrechen bestraft, indem er in eine elektrisch geladene Kiste eingesperrt wurde, die in einem Berg im Westen des nordamerikanischen Kontinentes versteckt worden ist. Dort befindet er sich noch heute." (seit 35 Billionen Jahren...)“

 

Mun – Vereinigungskirche:[12]

Mun vertritt die Lehre von "Gottes letzter Dispensation der Wiederkunft", bei der er selbst im Mittelpunkt steht: als zweiter Messias und 3. Adam. Im April 1960 findet im Hauptquartier der Gruppe in Seoul die "Hochzeit des Lammes" (nach Offenbarung 19,7) statt: Mun heiratet - nach Scheidung von seiner damaligen (3.) Frau, von der er drei Kinder hatte - die 18jährige Han, Hak-Ja. Seine Interpretation: Damit ist die "vollkommene Ehe", die Gott bei seiner Schöpfung beabsichtigt hatte, zum ersten Mal verwirklicht; sie ist die Grundlage der heilen Welt der Zukunft; das neue Zeitalter ist angebrochen, denn nach Auffassung der Munbewegung wurden in dieser Hochzeit des Lammes der vollkommene Mann und die vollkommene Frau durch ihre Vereinigung zum "substantiellen Gott" (vgl. Kim, Young-Whi: Die Göttlichen Prinzipien, Teil 1, Studienführer, Frankfurt o.J. S. 108). Die Mitglieder werden nun neu verpflichtet und organisiert: Mun und seine Frau sind jetzt ihre "wahren Eltern", die Gemeinschaft wird ihre "neue Familie". "

 

Bhagwan Rajneesh Osho:[13]

"Die Wirklichkeit kann man nur erfahren". Diese Wirklichkeit wird als Zustand der Gedankenlosigkeit, der absoluten Leere verstanden. Bhagwan nimmt hier den buddhistischen Nirvana-Gedanken auf. Nur wer es schaffe, ein völlig leeres Gefäß zu werden, dem werde die Glückseligkeit zuteil. Da dieser Zustand der Leere vom normalen Menschen nicht ohne weiteres zu erreichen sei, bot er sich als "Hebamme" an, den Suchenden zu dieser Erfahrung zu verhelfen. Dazu verlangte er völlige Unterordnung unter seinen Willen, strenge Kleidungsvorschriften (rote Kleidung und die Mala, eine Holzkette mit dem Bild des Meisters) und die Aufgabe des gesamten bisherigen Lebens. Totale Abhängigkeit war das Ziel seiner Lehre. "Wer bist Du, daß Du wissen könntest, was richtig oder falsch ist?"

'Die Familie wird als 'Quelle aller möglichen Geisteskrankheiten' ... bezeichnet' (a.a.O. unter Bezugnahme auf einen Vortrag Bhagwans vom 13.12.1980).

"Insbesondere dem werdenden Leben wird jede Schutzwürdigkeit abgesprochen; es wird geradezu zu seiner Vernichtung aufgefordert, indem für eine Belohnung der Abtreibung plädiert wird" (a.a.O. unter Bezug auf den Vortrag des Bhagwan vom 13.12.1980 und eine Weltpressekonferenz vom 20.7.1985).

Es wird "das Retten von Waisenkindern vor dem Hungertod mit Verbrechen in Zusammenhang gebracht (Bezeichnung von Mutter Theresa als Verbrecher in der Weltpressekonferenz vom 20.7.1985). Die Juden werden als nicht bemitleidenswert angesehen, denn sie seien für ihre Leiden verantwortlich. Durch die Erklärung zum auserwählten Volk hätten sie die lange Reihe von Leiden, Elend, Mord, Konzentrationslagern und Gaskammern herbeigeführt (Rajneesh-Bible, S. 301)."

 

Jim Jones Peoples Temple (Gründung 1956):[14]

Am  18.11.1978 wurden in Jonestown in Guyana 912 Menschen ermordet, darunter 276 Kinder.

Die Kinder waren in der Siedlung der Volkstempel-Sekte vielfach wie Sklaven gehalten worden, getrennt von den Eltern, die sie gegen Belohnung ausspionieren mußten. Kinder über 6 Jahre mußten 11 Stunden täglich hart körperlich arbeiten, bei Temperaturen bis zu 40 Grad. Kinder wurden zur Strafe in einen dunklen Brunnen geworfen, nachdem man ihnen gesagt hatte, daß unten Schlangen auf sie warteten. Sie wurden in Holzkisten gesperrt, 1,80 mal 0,90 mal 1,20 Meter klein. Bei öffentlichen körperlich Züchtigungen wurden ihnen Zähne ausgeschlagen. Sektengründer Jim Jones sah zu. Kindern wurden Elektroden an den Armen befestigt, sie wurden mit elektrischen Stromschlägen traktiert. Zwei Sechsjährigen, die versucht hatten, wegzulaufen, waren Ketten und Eisenkugeln an die Fußgelenke geschmiedet worden. Kinder wurden sexuell mißbraucht, auch von Jim Jones selbst.

 

Zeugen Jehovas:[15]

3. Weihnachten und Ostern: Jesu Geburt war nicht am 25. Dezember. Er wurde um den 1. Oktober herum geboren, zu einer Jahreszeit, in der die Hirten mit ihren Herden nachts noch im Freien lebten (Lukas 2:8-12). Jesus hat Christen nie geboten, seine Geburt zu feiern. Vielmehr gebot er seinen Jüngern, eine Feier zum Gedenken an seinen Tod abzuhalten oder sich seines Todes zu erinnern (Lukas 22:19, 20). Das Weihnachtsfest und die damit verbundenen Bräuche haben ihren Ursprung in den falschen Religionen alter Zeit. Das gleiche trifft auf die mit Ostern verbundenen Bräuche zu, denkt man zum Beispiel an den Osterhasen und die Ostereier. Wie die ersten Christen weder Weihnachten noch Ostern feierten, so tun es auch heute wahre Christen nicht.

4. Geburtstage: Die beiden einzigen in der Bibel erwähnten Geburtstagsfeiern wurden von Personen veranstaltet, die Jehova nicht anbeteten (1. Mose 40:20-22; Markus 6:21, 22, 24-27). Die ersten Christen feierten keinen Geburtstag. Der Brauch, Geburtstag zu feiern, entstammt der falschen Religion des Altertums. Wahre Christen beschenken einander zu anderen Zeiten des Jahres und verbringen schöne Stunden miteinander.

 

7. Es mag sehr schwer sein, einige der erwähnten Glaubensansichten und Bräuche aufzugeben. Verwandte und Freunde versuchen womöglich, uns davon abzuhalten, unsere Ansichten zu ändern. Aber Gott zu gefallen ist wichtiger, als Menschen zu gefallen ...

 

6. Ist es verkehrt, einer Bluttransfusion zuzustimmen? Wir sollten daran denken, daß Jehova von uns verlangt, kein Blut zu uns zu nehmen. Das bedeutet, daß wir weder das Blut von anderen Personen in irgendeiner Form in unseren Körper aufnehmen dürfen noch Eigenblut, das aufbewahrt wurde (Apostelgeschichte 21:25). Wahre Christen werden also einer Bluttransfusion nicht zustimmen. Sie erklären sich zu anderen Arten der medizinischen Behandlung bereit, wie zum Beispiel Infusionen von Lösungen, die kein Blut enthalten. Sie möchten gern leben, aber sie werden nicht Gottes Gesetze verletzen, nur um ihr Leben zu retten (Matthäus 16:25).

 

Die beliebig erweiterbaren Beispiele zeigen deutlich durch die Unterschiede der für wahr gehaltenen Inhalte, dass eine verbindliche Sektendefinition über die verkündeten Botschaften kaum möglich ist. Allein in Deutschland gibt es laut IDEA-Spektrum Nr. 29/30, 19. Juli 2001, S. 18 die folgenden Hauptgruppierungen [16]:

 

Gruppierung                         Mitglieder / Anhänger

Neuapostolische Kirche           445.000

Zeugen Jehovas                       192.000

Mormonen                              36.000

Vereinigte Apost. Gmd.           30.000

Neugermanen   2                      5.000

Christengemeinschaft                20.000

Bruno-Gröning                        12.000

Apostolische Gemeinschaft      8.000

Christliche Wissenschaft           8.000

Universelles Leben                   6.000

Bahai                                       5.000

Apostelamt Juda                      4.500

Johannische Kirche                  3.500

Gralsbewegung                        2.500

Soka Gakkai                           2.100

Boston Church of Christ          1.000

Rajneesh Bewegung                    750

Fia Lux                                       700

Vereinigungskirche                      500

ISKON (Krishna)                      390

Scientology                              5.500

 

Wer könnte, sollte oder dürfte nun darüber entscheiden, welche der Glaubenslehren Wahrheiten sind? Bei allen Religionen und Weltanschauungslehren handelt  es sich um „subjektive“ Wahrheiten, die nicht wirklich objektivierbar oder verifizierbar sind. Der persönliche Glaube ist und bleibt ein Wagnis, das sich letztendlich auf ein Paradox gründet (Kierkegaard). Deswegen greifen Diskussionen oder Meinungen zum Sektenthema in ihren Betrachtungen und Urteilen noch zu kurz, die den Begriff „Sekte“ nur theologisch interpretieren und wesentliche psychologische Aspekte ignorieren oder bagatellisieren. Gerade die ethische Komponente im Sinne von Verstößen gegen die Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung durch Bevormundung, Einengung  und letztlich Abhängigkeit hervorrufende Mechanismen ist heute als wesentlich gültiges Sektenmerkmal zu betrachten [17]. Dazu nochmals Dr. Martin aus dem bereits benannten Artikel:

 

„Weil die psychologischen Elemente der Mitgliedschaft in einer Sekte gewöhnlich ignoriert werden, werden die erschreckenden Parallelen zwischen dem Schaden, der durch einige der wohlbekannten Sekten erzeugt werden kann, und dem von sektiererischen christlichen Gruppen hervorgerufenen Schaden, meist ebenfalls ignoriert. Wenn die Definition von „Sekten“ um den psychologischen Aspekt erweitert wird, dann könnten auch andere Gruppen als Sekten oder sektiererisch klassifiziert werden.“

 

Es bleibt also zunächst festzuhalten, dass die Identifizierung einer Gruppe als Sekte nicht allein oder nur mittels ihrer verkündeten Dogmen und geglaubten „Wahrheiten“ vorgenommen werden kann. Jede Gemeinschaft ähnlich denkender Menschen kann zur „Sekte“ mutieren, angefangen bei Managerseminaren, religiösen Gruppierungen bis hin zu Psychogruppen, politisch orientierten Kreisen und anderen mehr, wenn laut dem Berufsverband Deutscher PsychologInnen inhaltlich folgende Tendenzen vorherrschen [18]:

 

·        Überwertige Idee" Das Paradies auf Erden oder der „neue Mensch" ist mit Hilfe der Lehre kurzfristig herstellbar (Allmachtsphantasien, Größenwahn).

·        Wahrheitsmonopol: Die Gruppe hat (ihrer Ansicht nach) das einzig gültige Welterklärungssystem.

·        Schwarz-Weiß-Denken: Einfache Gut-Böse- oder Richtig-Falsch-Muster prägen das Denken und Handeln.

·        Endzeitvision: Der Weltuntergang ist nahe (für Ungläubige).

·        Rettungsplan: Patentrezepte, die das Heil (nur für Gläubige) versprechen.

·        Expansiver Machtanspruch: „Wir müssen die Welt retten", ist der Tenor.

 

Neben dieser ideologischen Ausrichtung  muss weiter gefragt werden, was eine Gruppe ethisch/psychologisch noch zur Sekte werden lässt und was Menschen dazu bringt, so völlig absurden Lehren wie z.B. denen von Jim Jones, Bhagwan oder anderen zu folgen, ihr ganzes Leben von heute auf morgen zu verändern, ihre Arbeit aufzugeben, ihr Haus und ihre Familien verlassen, ihr Vermögen dem Sektenführer überschreiben und irgendwo isoliert in der Gruppe zu leben, ihre ganze bisherige Persönlichkeit aufgeben und sich sogar bis zum Mord oder Selbstmord „ver-führen“ lassen. Welche angewandten psychomanipulierenden  Mittel setzen das eigene Denken so außer Kraft, dass der Mensch sein ganzes Leben aus der Hand gibt und „blind“ den Lehren der Gruppe folgt?

 

Beide Fragen sollen im nächsten Kapitel untersucht werden.

3.      Psychologische Zwangstechniken zur Meinungs(um)bildung

 
Jeder Mensch ist in seinem Leben immer wieder in Situationen gestellt oder sucht sie sich selbst, die für sein weiteres Leben von Bedeutung sein können. Dies können Vorträge, Seminare, berufliche Fortbildungen, kulturelle Veranstaltungen und anderes mehr sein. War das Erlebte beeindruckend genug, wird das Gehirn lernen, die neuen Erfahrungen in das Denken und Handeln einbauen, was wiederum die weitere Lebensgestaltung verändert und zu neuer Lebenserfahrung führt. Es bleibt auch nicht aus, dass es im Kontakt mit anderen Menschen oder Gruppen zu meinungsumbildenden Beeinflussungen kommen kann, die unbemerkt vonstatten gehen und dennoch gravierend sein können. Ist die Beeinflussung unbeabsichtigt, sind diese Prozesse meist normal und oft notwendig, weil der Mensch sein Verhalten den sich veränderten Bedingungen anpassen muss, beruflich wie privat.

Man sucht sich jeweils nach seinen konkreten Bedürfnissen aus, mit wem man Kontakt pflegt, entdeckt neue Emotionen zu jemandem oder etwas, setzt sich Grenzen oder steckt sich neue Ziele und gestaltet so dem eigenen Charakter und der eigenen Individualität entsprechend sein Umfeld und Leben. Wird ein Mensch jedoch unter Ausnutzung seiner Befindlichkeiten oder Gefühle dahingehend beeinflusst, unabsichtlich oder absichtlich, dass er seine Lebensgestaltung anderen Interessen, Bedürfnissen oder Ideologien unterordnet, so wird er psychisch manipuliert. Man spricht dann von Gehirnwäsche, Zwangsüberzeugung, Gedankenreformierung oder mentaler Programmierung. Die mentale Programmierung ist aber kein einmaliger Vorgang, sondern ein  Prozess, bei dem Techniken angewandt werden, die zwangsläufig das Selbstwertgefühl einer Person destabilisieren mit dem Ziel, ihre Lebensgeschichte völlig neu zu deuten, ihre Weltsicht massiv zu verändern und die umgebende Wirklichkeit und die ursächlichen Zusammenhänge so zu interpretieren und zu akzeptieren, wie es die Gruppe, der „Meister“, die Ideologie oder die spezielle Lehre vorgeben. Das ICH der Person wird damit an die Gruppe gebunden und von ihr abhängig. Besonders anfällig können dafür gerade solche Menschen sein, die mit sozialen „Träumen“ leben, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und hohe ethische Normen haben oder spirituell ernsthaft auf der Suche sind.

 

Bei etablierten Sekten, die bereits über wesentlich längere Zeiträume bestehen, verstärkt sich die Problematik noch um ein Vielfältiges, weil alle hineingeborenen Kinder in ihrer Entwicklung und Reifung nur auf die Normierungen der Gruppe geprägt werden. Ihre „Meinung“ wird also nicht umgebildet, sondern ihr gesamtes Denken und Handeln wird von Anfang an auf die Sekte hin ausgerichtet. Einige der dabei erzeugten psychischen Schädigungen sind auch nach einem Ausstieg irreversibel.[19]

Zwei bedeutende Namen, die die psychologische Forschung zur Gehirnwäsche wesentlich vorangebracht haben, sind Margaret Thaler Singer und Robert Jay Lifton.  Aus Liftons Buch „Thought Reform and the Psychology of Totalism - A Study of "Brainwashing" von 1963 liegt einzig das äußerst wichtige Kapitel 22: Ideologischer Totalitarismus in deutscher Übersetzung[20] online vor. Er formuliert darin acht Zwangstechniken, durch die Menschen ohne deren Einverständnis psychisch manipuliert werden können. Sie sollen zunächst ausführlich dargestellt werden.

 

3.1 Zwangstechniken nach Lifton

 

Folgende psychisch manipulierenden Techniken durch die Gruppe, den Führer etc führen zur Bewusstseinsumbildung und Gedankenveränderung. Die kursiv erläuternden Texte sind kurz zusammengestellte Aussagen aus dem Artikel. Die von mir ergänzten Gruppensätze sind exemplarische Formulierungsbeispiele, wie sie passend zur jeweiligen Zwangstechnik als reine sprachliche Floskel in jeder Sekte vorkommen. Die Fortsetzungspunkte „ ...“ können mit den spezifischen Inhalten einer solchen Gruppe ergänzt werden.

 

Milieukontrolle

Die Milieukontrolle versucht nicht nur die Kommunikation des einzelnen mit seiner Außenwelt zu beherrschen (d.h. alles, was er sieht, hört, liest, schreibt, erfährt und ausdrückt), sondern auch - durch eindringen in sein Innenleben - das, was man als Kommunikation mit sich selbst bezeichnen mag. Der Mensch sieht sich dabei eher selbst mit dem "Gottesauge" der Überwacher, als dass er sich als Opfer empfinden würde.

 

Gruppensätze:

·        Wir haben ein so schönes Miteinander, das kann man nicht erklären – komm einfach mal

·        Die anderen können das nicht verstehen, erzähle ihnen lieber nichts

·        Bei uns ist vieles ganz anders als ...

·        Noch wird dir manches ein wenig fremd sein, aber nach einer Weile wirst du erleben, dass ...

 

Mystische Manipulation

Über eine weitgehende Manipulation der Persönlichkeit wird versucht, spezifische Verhaltens- oder Gefühlsmuster hervorzurufen. Jeder Gedanke oder jede Tat, die den höheren Zweck in Frage stellt, wird angesichts des großen und überragenden Sendungsauftrages als niederen Motiven entspringend als rückständig, selbstsüchtig und unbedeutend abgetan. Die Gruppe sind die von der Geschichte, Gott oder irgendeiner übernatürlichen Macht "Auserwählten", die das "mystische Gebot" ausführen sollen.

 

Gruppensätze:

·        Wir haben uns das nicht selbst ausgedacht, es ist „Sein“ Wille

·        Wir sind Werkzeuge einer höheren Macht

·        Wir können „Seinen“ Willen nicht immer verstehen, aber wenn wir „Seinem“ Wort folgen, werden wir erleben, wie sich alles zum Guten entwickelt

 

Forderung nach Reinheit

In der Gedankenumbildung wird die Erfahrungswelt streng in das Reine und Unreine, in das absolut Gute und das absolut Böse aufgeteilt. Auf der Ebene der Beziehung zwischen dem einzelnen und der Umwelt schafft die Forderung nach Reinheit eine Art "Atmosphäre des Schuldgefühls" und eine "Atmosphäre des Schamgefühls". Da das Unreine im Menschen als sündig und möglicherweise für sich und andere als schädlich betrachtet wird, muss er sich sozusagen auf eine Bestrafung gefasst machen. Die totalitäre Ideologie wird zum Schiedsrichter der existentiellen Schuld, zur Macht, die unbegrenzt mit den Grenzen der anderen verfahren kann. Und ihre Macht ist nirgendwo augenfälliger als in ihrer Fähigkeit zu "vergeben".

 

Gruppensätze:

·        Du musst deinen eigenen Willen überwinden und unter Seinen Willen stellen

·        ER sieht und bemerkt alles

·        ER kennt jeden deiner Gedanken und weiß, was gut für dich ist

·        Draußen ist nur das Böse, dass dich vom Weg/Ziel abbringen möchte

 

Der Bekenntniskult

In enger Verbindung zur Forderung nach absoluter Reinheit steht das persönliche Bekenntnis. Dieses Bekenntnis geht über den Rahmen seiner normalen, religiösen, legalen und therapeutischen Ausdrucksformen hinaus. Es gibt die Forderung, dass man sich zu Verbrechen bekennt, die man nicht begangen hat, zu einer künstlich erzeugten Sündhaftigkeit, im Namen einer Buße, die willkürlich auferlegt wird.

Selbst privater Besitz des Geistes und seiner Produkte - der Phantasie oder des Gedächtnisses  - wird in hohem Maße unmoralisch. Das Milieu hat ein derartig perfektes Stadium der Erleuchtung erreicht, dass jedes individuelle Zurückhalten von Gedanken und Gefühlen anachronistisch wird. Verbleibende innere Geheimnisse führen zu einem starken inneren Kampf zwischen Widerstand und Selbstaufgabe.

 

Gruppensätze:

·        Du musst lernen, dich stets mit Seinen Augen zu sehen, wenn du ...

·        Du musst deine Gedanken und Gefühle kontrollieren, sonst ...

·        Nimm dich selbst nicht so wichtig, denn was bist du ohne ...

·        Diese Gedanken führen dich ins Verderben, weil ...

 

Die "Heilige Wissenschaft"

Das Dogma gibt sich als höchste sittliche Vorstellung für die Ordnung des menschlichen Daseins mit dem mehr oder weniger ausdrücklichen Verbot seiner Infragestellung bei gleichzeitiger Verehrung für die Urheber des Wortes, deren Denken „göttlich“ inspiriert ist. Das System erhebt dabei einen übertriebenen Anspruch auf unanfechtbare Logik, auf eine absolute "wissenschaftliche Präzision" und fordert vorbehaltlosen Glauben. Die scheinbare Vereinigung der mystischen und logischen Erfahrungswelten kann ein extrem intensives Gefühl der Wahrheit bewirken.. Somit wird die höchste sittliche Vorstellung zur höchsten Wissenschaft; und wer es wagt, diese zu kritisieren oder sogar unausgesprochene Alternativen zu hegen, wird nicht nur unmoralisch und respektlos, sondern auch "unwissenschaftlich". Eine Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen fehlt: Es gibt keinen Gedanken oder keine Handlung, die nicht mit der heiligen Wissenschaft in Verbindung gebracht werden könnte.

 

Gruppensätze:

·        Wir glauben das, weil .... und können es belegen, denn ... . Also ...

·        Der Plan ist von Ihm schon lange festgelegt, nichts hält den vorgegebenen Lauf auf

·        Der Führer ist zwar auch ein Mensch, aber seine Worte sind Eingebungen sind von ...

·        Wir haben das höchste Ziel, was ein Mensch erreichen kann. Das wollen wir nicht aufs Spiel setzen

 

Sprachliche Beeinflussung

Die Sprache ist durch das denkhemmende Klischee charakterisiert. Probleme des Menschen werden in kurze, stark reduzierte, definitiv klingenden Schlagworte komprimiert, die als „endgültige Begriffe“  für das absolut Gute (göttliche) oder Böse (teuflisch) stehen. In einseitiger Ausrichtung drückt der "Jargon" die beanspruchten Gewissheiten der heiligen Wissenschaft aus.

Auf den einzelnen bezogen kann die Sprache des ideologischen Totalitarismus in einem Wort zusammengefasst werden: Einengung. Er ist sozusagen lingustisch behindert; und da die Sprache von so zentraler Bedeutung für alle menschlichen Erfahrungen ist, werden seine Möglichkeiten des Denkens und Fühlens ungemein begrenzt und sein Vorstellungsvermögen in zunehmendem Maße von seinen wirklichen Lebenserfahrungen losgelöst.

 

Gruppensätze:

·        Alles Denken der anderen ist Torheit und zeigt ihr Unvermögen, unsere gute Sache zu begreifen

·        Die anderen sehen nur sich selbst, wir aber folgen ...

·        Mag es denen da draußen auch scheinbar gut gehen, letztlich wird sich doch zeigen, dass ...

·        Manches können wir jetzt mit unserem begrenzten/natürlichen Verstand noch nicht verstehen, aber wenn ...

 

Die personenbeherrschende Doktrin

Die menschliche Erfahrung muss den Ansprüchen der Doktrin untergeordnet  werden, weil die Doktrin - einschließlich ihrer mythologischen Elemente - unendlich gültiger, wahrer und wirklicher ist als jeder Aspekt des tatsächlichen Charakters oder der Erfahrung des Menschen und die Gruppe wichtiger ist als das Individuum. Der Mensch muss also Charakter und Identität umformen, um den starren Konturen des doktrinären Schemas angepasst zu werden.

 

Gruppensätze:

·        Nur wer sein eigenes Wollen der Sache unterordnet, wird am Ende das wundervolle Ziel erreichen

·        Der Einzelne mit seinem Wissen kann den ganzen Plan nicht verstehen, aber ...

·        Du willst doch den anderen und dem Ziel nicht im Weg stehen

·         Du musst innerlich völlig neu werden, das alte Sein kann es nicht erreichen

 

Die Dispensierung der Existenz

Das System zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen den Menschen, die mit Recht auf Existenz in der Gruppe sind und den Nichtmenschen (oder Volk und Nichtvolk) auf Grund der Überzeugung, dass es nur einen Weg zur wahren Existenz, nur eine gültige Daseinsform gibt, und dass alle anderen Arten somit zwangsläufig hinfällig und falsch sind. Die eigene Existenz hängt von Glauben (Ich glaube, daher bin ich) und ferner von einem Sinn des totalen Aufgehens in der ideologischen Bewegung ab.

 

Gruppensätze:

·        Wenn auch die Anderen die Wahrheit/unseren Führer/das Ziel/die Botschaft/Seinen Willen/ das Gute/unseren Weg nicht verstehen und annehmen können, wir wissen doch aber, worum es in der Zukunft wirklich geht

·        Die Anderen werden vergehen, wir aber werden erleben, dass ...

·        Die Anderen haben/wissen/verstehen/sind nichts, ihr Leben und Streben ist vergeblich. Was nützt es ihnen, dass sie ...

·        Nur wir ...

 

Und Lifton weiter: „Je klarer eine Umwelt diese acht psychologischen Themen zum Ausdruck bringt, um so größer ist die Ähnlichkeit mit dem ideologischen Totalitarismus; und je mehr sie derartige totalitäre Mittel zur Veränderung des Menschen gebraucht, um so größer ist ihre Ähnlichkeit mit der Gedankenveränderung (oder der "Gehirnwäsche"). ...

Der ideologische Totalitarismus kann dem Menschen ebenfalls intensives Hochgefühl vermitteln: Ein Gefühl, alles was gewöhnlich und prosaisch ist, zu tranzendieren, sich selbst von dem Ballast der menschlichen Ambivalenz zu befreien und in die Sphäre der Wahrheit, der Wirklichkeit, des Vertrauens und der Aufrichtigkeit einzutreten, wie er es nie erlebt oder wie er es sich überhaupt nie vorgestellt hat. ... Und wenn kein Hochgefühl entsteht, vergewaltigt der ideologische Totalitarismus das Potential des Menschen sogar noch stärker: Er ruft destruktive Emotionen hervor, erzeugt intellektuelle und psychologische Beschränkungen und beraubt den Menschen all dessen, was die Feinsinnigkeit und Phantasie ausmacht - unter dem falschen Versprechen, die Unzulänglichkeit und Ambivalenzen zu beseitigen, die zur Definition der Seinslage des Menschen beitragen.

 

Hinter dem ideologischen Totalitarismus steht die ewige Suche des Menschen nach dem allmächtigen Führer - nach der übernatürlichen Kraft, der politischen Partei, dem philosophischen Gedankengut , dem großen Führer oder der präzisen Wissenschaft -, der allen Menschen die totale Solidarität bringt und den Schrecken des Todes und des Nichts beseitigt. Er ist ... eine neue Form erwachsener Geborgenheit, die aus der aus der Kindheit  mit hinüber geretteten Suche nach Sicherheit entsteht, aber mit ideellen Eigenschaften und Bestrebungen, die speziell in die Erwachsenenwelt gehören.“

(aus: R.J. Lifton: „Thought Reform and the Psychology of Totalism –

A Study of "Brainwashing" von 1963, Kapitel 22:

 Ideologischer Totalitarismus)

 

Soweit die Ausführungen von Lifton, die hier wegen ihrer grundlegenden Bedeutsamkeit etwas ausführlicher zitiert wurden. Während Lifton sich mit den „Themen“ der mentalen Programmierung beschäftigte, sollen im folgenden die Bedingungen und Methoden aufgezeigt werden, unter denen sich die Beeinflussung vollzieht.

 

 

3.2  Bedingungen und Methoden zur mentalen Beeinflussung nach Singer

 

Margaret Thaler Singer, die sich  über Jahrzehnte intensiv mit den amerikanischen Sekten und Kulten beschäftigt hat, geht in ihrem Buch „Sekten[21]“ zur Definition einer destruktiven Gruppe von folgenden Grundmerkmalen aus:

 

"Für den Begriff Sekte, wie ich ihn hier gebrauche, sind drei Faktoren von Relevanz:

 

    1. Die Entstehung der Gruppe und die Rolle des Führers,

    2. die Machtstruktur, also die Beziehung zwischen dem Führer (oder den Führern) und den

        Anhängern,

    3. der systematische Einsatz von Überredungs- und Überzeugungstechniken (Techniken der

      mentalen Programmierung, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Gehirnwäsche genannt) ".

 

Das Glaubenssystem, also die Lehre oder „Ideologie hat eine Doppelfunktion: Sie ist der Kleber, mit der die Mitglieder an die Gruppe gebunden werden, und ein Werkzeug, das vom Führer dazu mißbraucht wird, seine Ziele durchzusetzen.“ (a.a.O. S. 43)

Gefahren und erzeugte Schäden liegen dabei weniger im ideologisch-religiösen Bereich, sondern betreffen mehr die Integrität der Persönlichkeit. Sie sind auf die Art des Interaktionsverhältnisses von Gruppenführer, Gruppe und auf „die Methoden der mentalen Programmierung zurückzuführen, mit denen geschickte Manipulateure bei ihren Anhängern Unterwürfigkeit und Gehorsam erzeugen.“

 

 Diese Methoden beruhen auf missbrauchten Prinzipien, die eigentlich grundsätzlich das normale menschliche Verhalten und Zusammenleben steuern. Wesentlich ist hier, dass die Zielperson nicht weiß, dass sie der Manipulation und Kontrolle unterliegt. Die Veränderung der Person ist dabei ein allmählicher Prozess Schritt für Schritt.  Singer stellt sechs notwendige Bedingungen heraus, damit der Prozess funktioniert (a.a.O. S.94):

 

1.      Lass die Person in Unkenntnis darüber, dass das Ziel verfolgt wird, sie zu kontrollieren oder zu verändern.

2.      Kontrolliere die Zeit und die Umwelt (Kontakte, Information)

3.      Schaffe ein Gefühl der Ohnmacht, verdeckter Angst und der Abhängigkeit.

4.      Unterdrücke das gewohnte Verhalten und gewohnte Einstellungen.

5.      Initiiere neues Verhalten und neue Einstellungen.

6.      Stelle ein in sich geschlossenes logisches System auf, Kritik wird nicht zugelassen.

 

Bereits der erste zugelassene Kontakt kann hier entscheidend sein. Der Neuling wird unter Ausnützung von Gefühlen mit „Liebe bombardiert“ (love bombing) und mit „herzlicher Aufmerksamkeit bedacht“ (vergl. S. 145 ff). Bestimmte Zufälle werden magisch als „göttliche Fügung“ gedeutet (es sollte nicht sein, dass du ... oder umgkehrt: Es sollte sein, dass du ...) und frühere Beziehungen oder Ansichten mit Schuldgefühlen belegt, weil sie sich mit dem neu „gewählten Weg“ nicht vereinbaren lassen. Schritt für Schritt wächst so die „Erkenntnis“, und im gleichen Tempo begibt man sich in eine starke Abhängigkeit, da „außerhalb“ der Gruppe ja nur „Böses“ und „Verderben“ lauern.

 

Psychologische Überzeugungstechniken[22], um Macht über die Persönlichkeiten zu erlangen, sind Trance, Hypnose, Revision der persönlichen Lebensgeschichte, emotionale Manipulation und Gruppendruck (S. 182 ff).

Die besonders beachtenswerte hypnotische Trance ist zu verstehen als ein Zustand stark eingeengter Aufmerksamkeit oder herabgesetzter Wachheit, in der Menschen über Suggestionen in eine andere Wirklichkeit versetzt werden können. Das aktive, kritisch-urteilende Denken schwindet und der Mensch gleitet in einen passiv-rezeptiven Modus der gedanklichen Verarbeitung hinüber (S.183 ff) Was als „hypnotische Trance“ in der Psychotherapie bewusst und heilend angewandt wird, mutiert im Sektengeschehen zur Manipulation und Zwangsausübung.

 

Wir hören und sehen ohne Reflexion und Urteil. Entscheidungen über das, was wir hören oder aufnehmen, sind suspendiert. Wir verlieren die Grenze zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was tatsächlich ist. Imagination und Realität verschwimmen, und unser Selbst und das Selbst von anderen beginnt wie eins zu erscheinen.“

 

Solche Zustände können eintreten beim „Eintauchen in Geschichten“, oder bei „bestimmten Arten von Vorträgen und Predigten“ unter einer „spezifischen Verwendung von Sprache“. Man spricht dabei von „indirekter“ oder „natürlicher Tranceinduktion“, die „mit gewöhnlichen Worten im Unterhaltungsstil durch pacing and leading, dass heißt durch Eingehen auf den Patienten und Führung der Interaktion ... ohne Druck, ohne große Anforderungen und ohne Befehle“ herbeigeführt werden kann[23].  

 

Folgende Redebestandteile können zur Tranceinduktion führen und damit das eigene, kritische und urteilende Denken außer Kraft setzen:

 

·        Durch Anknüpfung an allgemeine Erfahrungen (Wer von uns hat noch nicht auf einem Berg gestanden und in ein Tal hineingeblickt ...) entsteht ein Gefühl der Zusammenhörigkeit.

 

·        Die Sprache wird verlangsamt, das Bewusstsein ermüdet.

 

·        Geschichten, Parabeln und bestimmte Worte werden verwendet, die stimmungsvolle „innere Bilder“ hervorrufen.

 

·        Paradoxa, also nicht logische Bestandteile der Rede, werden scheinlogisch dargestellt. Im Bemühen, den Ausführungen zu folgen, koppelt sich das Bewusstsein von der Realität ab. In seiner „Einführung in die Geisteslehre“ schreibt der „UFO-Prophet“ „Billy“ Meier auf S.6.:

 

Die Geisteslehre lehnt jede unlogische Gewalt ab und lehrt die „Gewaltsame Gewaltlosigkeit“, die sich folgendermaßen erklären lässt:

Gewaltsame Gewaltlosigkeit ist der Weg der passiven, logischen Gewalt, denn gewaltsame Gewaltlosigkeit bedeutet mit anderen Worten aktive Gewaltlosigkeit, bei der gewaltsam resp. aktiv die Gewaltlosigkeit geübt und durchgesetzt wird. ... Gewaltsame Gewaltlosigkeit bedeutet aber auch passiver Widerstand, wobei Passivität in diesem Sinn eine Kraft resp. eine Macht oder eben passive Gewalt darstellt, denn Kraft, Macht und Gewalt auch in gewaltloser, passiver Form als Widerstand stellt eine Form der Gewaltlosigkeit dar, die jedoch in gewaltsamer Gewaltlosigkeit ausgeübt wird.“ [24]

 

·        Es werden sich wiederholende, rhythmische Elemente eingebaut, die einem das Folgen erschweren (siehe voriges Beispiel), der Sinn geht verloren.

 

·        Der Zuhörer wird aufgefordert, das Gehörte nicht zu überdenken, sondern einfach auf sich wirken zu lassen.

 

·        Geschichten werden so genau geschildert, dass sie die Aufmerksamkeit der Zuhörer ganz in den Bann ziehen. Sie tauchen ganz ein und werden still.

·        Starke Gefühlsreaktionen werden planvoll hervorgerufen. Im Gruppenprozess wirkt zudem das Weinen oder Schluchzen der anderen Mitglieder ansteckend.

 

·        Rationales und Irrationales wird so vermengt, als stünde es gleichwertig nebeneinander.

 

·        Indirekt und versteckt formulierte Anweisungen verändern das Verhalten, ohne das „Befehle“ erteilt werden. Man handelt aus „eigenem Willen“ nach den gehörten Worten.

 

„Die meisten Sektenführer ... betrachten das, was sie tun,  wahrscheinlich nicht als Tranceinduktion. Doch selbst, wenn keine Trance im strengen Sinn erzeugt wird, arbeiten die Anwerber und Sektenführer mit den wesentlichen Bestandteilen: Spiegeln und Führen, Ausnutzung positiver Übertragung und indirekter Suggestion – alles zentrale Elemente der Prozesse Hypnose und Trance.“ (S.187ff)

 

Auch wenn Singer davon ausgeht, dass die zwangsausübende mentale Beeinflussung ein durch die Sektenführer mehr oder weniger bewusst eingesetztes Mittel ist, darf auch das unwissentliche, unbeabsichtigte Verwenden dieser Manipulationsmechanismen nicht außer Acht gelassen werden, denn die schädigende Auswirkung bleibt sich gleich: Das eigentliche Selbst der Person wird Schritt für Schritt durch ein fremdbestimmtes Sekten-Selbst ersetzt.

 

Zur schnellen Erkennung solcher destruktiver Gruppen sind im Lauf der letzten Jahre verschiedene, einfache Tests entwickelt worden. Ein Beispiel soll im nächsten Kapitel vorgestellt werden.

 

 

4.  Checkliste zur Beurteilung unbekannter Gruppen

 

Aus den bisher dargestellten Themen (Lifton) und Bedingungen (Singer) mentaler Beeinflussung lassen sich konkrete Merkmale entwickeln, die eine Unterscheidung einer destruktiven Gruppe oder Sekte von einer nicht schädlichen Gemeinschaft nach objektiven Kriterien ermöglichen. Je mehr der Einzelmerkmale auf eine Gruppe zutreffen und sich daraus ein Profil erstellen lässt, desto deutlicher kann und sollte man von einer gefährdenden Beeinflussung ausgehen und die Gruppe meiden. Die meisten Landesregierungen und Sektenbeauftragten der Kirchen haben sich diesen Beurteilungskriterien vor allem zum Schutz der Jugendlichen angeschlossen[25].

 

In der konkreten Praxis sehen die Glaubenssätze und Strukturen destruktiver Gruppen in ihren spezifischen Merkmalen wie folgt aus[26]:

 

1.      Die Gruppe gibt vor, Orientierung, Sinn und Geborgenheit zu bieten.

2.      Schon der erste Kontakt eröffnet eine völlig neue Weltsicht; das Weltbild der Gruppe ist verblüffend einfach und scheint jedes Problem zu klären.

3.      Die Gruppe hat einen Meister - Führer - Vater - Guru - Messias - Prophet - Vordenker, der allein im Besitz der ganzen Wahrheit ist, oft wie ein Gott verehrt wird, absoluten und bedenkenlosen Gehorsam verlangt und eine sehr autoritäre Führung praktiziert.

4.      Alle außer der Gruppe haben versagt (einschl. Kirche, Gesellschaft, Staat, Schule, Wissenschaft); die Welt treibt auf eine Katastrophe zu, nur die Gruppe weiß, wie man sie bzw. sich noch retten kann.

5.      Die Welt außerhalb der Gruppe wird in dunklen Farben gemalt: als Reich des Satans bzw. als dringend zu befreiendes Geschehen. Von dieser Welt (einschl. frühere Freunde und Verwandte) kapselt man sich weitgehend ab. Als besondere Feinde werden Kirchen und Psychologen, mitunter Eltern gesehen.

6.      Die Gruppe sieht sich als Elite, die „wahre" Familie; die übrige Welt wird als „draußen" bezeichnet. Der einzelne Anhänger hat ein starkes Überlegenheits- und Auserwählungsgefühl.

7.      Kritik und Ablehnung durch „Außenstehende" ist gerade der Beweis, dass die Gruppe recht hat. Der einzelne wird angehalten, sich nicht zu sehr bzw. überhaupt nicht mit Kritik oder Kritikern zu beschäftigen.

8.      Es ist ein privater Heilsweg; es geht darum, wie ich mich entwickle, die wahre Freiheit erlange... Obwohl sich einige Gruppen „Kirche“ nennen, gibt es bei ihnen so gut wie keine sozialen Aktivitäten. Der Dienst für die Mitmenschen bestehe in ihrer Missionierung.

9.      Wissenschaft und rationales Denken werden als negativ / satanisch / unerleuchtet abgelehnt.

10.  Die Gruppe kontrolliert sich untereinander.

11.  Die Ziele der Gruppe stehen bei geschulten Mitgliedern an erster Stelle, vor den eigenen Verpflichtungen und Interessen, vor Familie, Schule, Beruf und der eigenen Gesundheit.

 

Im nächsten Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, die NAK unter den bisher dargestellten Aspekten zu betrachten und einzuordnen.

 

 

5. Sektenmerkmale der NAK  in Vergangenheit und Gegenwart

 

Am 13. Juni 2006 erhielten Jehovas Zeugen in Deutschland vom Land Berlin die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, der Status, den auch die etablierten Kirchen und die NAK haben. Was jedoch spezifisch eine „Kirche“ ausmacht, bedarf neben dem reinen Rechtsstatus einer ethisch-theologisch gesonderten Klärung. Weitere Maximen wie z.B. „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!“ von Bischof Jaques Gaillot können und müssen hier ebenso wie theologische Kriterien diskutiert und beachtet werden.

Wie in den Kapiteln 3 und 4 gezeigt werden konnte, reicht es eben nicht aus, eine möglicherweise destruktive Gruppe rein theologisch orientiert als "christliche Sondergemeinschaften" einzuordnen, auch wenn wesentliche Bestandteile der Lehrmeinung christlich ausgerichtet sind. Es muss zudem untersucht werden, ob spezifische, psychologische Mechanismen mentaler Beeinflussung vorhanden sind, bevor eine angemessene Klassifizierung vorgenommen werden kann. Auch ein einfacher Verweis auf Unterschiede zwischen der Historie der Gruppe und dem Hinweis, sie hätte sich verändert und zeige doch heute ein anderes Bild, kann nicht schlicht hingenommen und an einigen Äußerungen festgemacht werden. Entscheidend ist, wie in der Praxis und im Einzelnen vor Ort die Kirchenführer mit Menschen aktuell umgehen. So meinte z.B. 2003 Bezirksapostel Hagen Wend, Vorsitzender der kircheninternen Projektgruppe Glaubensfragen:

 

Wir werden da und dort als gefährliche Sekte bezeichnet, wobei mich das wirklich ärgert, weil die Leute, die das von unserer Kirche behaupten, letztlich keine Ahnung haben. Die haben die Vorstellung - und das habe ich auch in einer Internet-Diskussion mal jemandem geschrieben - unsere Kirche sei so wie vor 50 Jahren. Aber die ist nicht mehr so wie vor 50 Jahren, genau wie andere Kirchen sich auch verändert haben. Auch unsere Gesellschaft ist nicht mehr so wie vor 50 Jahren. (...) Was Aussteiger an unserer Kirche monieren, sind fast immer Verhaltensmuster aus früheren Zeiten, die noch nicht mal typisch für unsere Kirche sind, sondern die Kennzeichen einer strengen christlichen Erziehung sind. Das was bei uns angegriffen wird, gibt es genauso in strengen evangelisch-pietistischen Familien oder katholischen Kirchen.“ [27]

 

Interessanterweise gibt Wend in seinen ersten Sätzen indirekt zu, dass die Einordnung der NAK zu Zeiten bis 1960 als „gefährliche Sekte“ als zutreffend anzusehen ist. Darüber braucht auch nicht viel argumentiert zu werden, denn fast sämtliche Merkmale der Checkliste aus Kapitel 4 sind profilgebend, kennzeichnend und zutreffend:

 

·        Absolutheitsanspruch der Lehre bzw. des Lehramtes ohne Kritikmöglichkeit alternativer Denkmodelle

·        Ausschließliche Heilsgewissheit ihrer Mitglieder 

·        Endzeitausrichtung und Errettung vor drohendem Weltenunheil

·        Ablehnung moderner Verhaltensweisen oder alternativer (Gesellschafts-) Entwürfe

·        Eingriff in die Lebensgestaltung der Mitglieder (Sexualität, Freizeitverhalten, allgemeiner bindender Moralkodex, etc) mit Tendenz zur totalen Erfassung

·        Wissenschaftsfeindliche Tendenzen

·        Wörtliches Bibelverständnis

 

Diese Kennzeichen zu bagatellisieren oder im Vergleich mit evangelisch-pietistischen Familien oder katholischen Kirchen nur als „strenge christliche Erziehung“ zu betrachten, ist schlicht falsch, denn allein die Endzeitausrichtung auf die versprochene Wiederkunft Jesu zu Lebzeiten Stammapostel Bischoffs („Botschaft“) als Aufnahmevoraussetzung und den daraus entstehenden Druck ist ebenso wenig mit den Lehren der etablierten Kirchen gleichzusetzen wie die Glorifizierung und Mystifizierung des Apostelamtes an sich und speziell des Stammapostels: Ohne Stammapostel, Apostel und Versiegelung ist kein Mensch ein „Gotteskind“ und hat demzufolge auch keinen Anteil am göttlichen Heil.

 

 „Der Glaube, dass Jesus Christus für uns gestorben ist, ist nicht der Sieg, der die Welt überwindet. Wer aber den Glauben an die Botschaft des Stammapostels in sich trägt, besitzt den Glauben, der die Welt überwindet. Der Glaube an das Wort des Stammapostels, ist für uns die Kraft, der Sieg, der die Welt überwindet. Auf etwas anderes können wir uns nicht stützen.“

1956 Wächterstimme vom 1.10., S. 152:

 

Hinzu kamen Fernsehverbot, Roman- und Illustriertenverbot, Sportverbot, Besuche von Konzertveranstaltungen, Rummel, Zirkus, Tanz, bestimmte Musik und anderes mehr (je nach den Zu- oder Abneigungen des zuständigen Bezirksapostels). Dies alles wurde pauschalisierend als Werke des Teufels disqualifiziert.

Wer „am Tag des Herrn dabei sein wollte“ musste auf  die „Stätten dieser Welt“ verzichten, denn „wer dem Stammapostel in einem den Glauben versagt, verschließt sich der göttlichen Gnade in allen. Wer einem andern mehr glauben will als ihm, dem kann er nicht helfen, und am Ende einer solchen Entwicklung steht die Sünde wider der heiligen Geist, für die es weder hier auf Erden noch in je der jenseitigen Welt eine Vergebung gibt.“

(1959 Wächterstimme vom 1.2., S. 20)

Weitere Kommentare erübrigen sich an dieser Stelle.[28]

Dass die NAK nun äußerlich heute eine andere ist als vor 50 Jahren, ist offensichtlich. Wie, ob und wann sich aber ihre inneren Mechanismen und die Lehre verändert haben sollen, ist konkret nachzuprüfen, bevor es zu einer Neubewertung kommen darf. Deswegen ist es aus mehreren Gründen mehr als bedenklich, wenn, wie eingangs erwähnt, bei der Studientagung in Frankfurt am 12.09.2008 Dr. Utsch als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen die Neuapostolische Kirche bereits als „christliche Sondergemeinschaft“ bezeichnet, ohne dass sie z.B. auch nur einen gültigen Katechismus vorweisen kann (2010 ist dafür in Aussicht gestellt). Da die NAK sich aus einer katholisch, apostolischen Bewegung abgespalten hat, steht sie, obgleich es sich hierbei um keine konfessionelle Bezeichnung handelt, zudem in ihrer strengen Struktur und Lehre der Katholischen Kirche eher näher als der Evangelischen:

 

Dass auch die Bibel nicht das letzte Wort Gottes ist, dass nicht nur in ihr Gottes Wort und Tun bezeugt werden, sondern gerade auch in unserer Gegenwart Wirklichkeit sind, gehört zu den neuapostolischen Grundüberzeugungen. Folglich wird dem reformatorischen Prinzip, die Bibel als alleinige Quelle des Glaubens aufzufassen, eine deutliche Absage erteilt.”

 

So Dr. Kiefer als Apologet der NAK und theologischer Mitarbeiter des Verlages Friedrich Bischoff in einem Vortrag 2003. [29]  Und weiter heißt es:

 

Für den neuapostolischen Glauben ist eigentlich nur dort im Vollsinne Kirche vorhanden, wo die Apostel sind. Wo sie fehlen, sind folglich auch die notwendigen Heilsmittel nicht in sachgemäßer Weise gegeben.”

 

Zur aktuellen Frage, ob die NAK ihre Sektenmerkmale nun heute abgelegt hat, ist zunächst festzustellen, dass die Übereinstimmung neuapostolischer Predigtfloskeln, gleichfalls beständig in der vereinnahmenden Wir-Formulierung gesprochen, mit den von Lifton beschriebenen Themen der mentalen Beeinflussung fast vollständig ist. Zur Überprüfung deshalb hier nochmals die jeweils dazugehörigen Gruppensätze im Zusammenhang. Man beachte, dass es sich dabei um keinerlei Glaubensinhalte handelt, sondern nur um einleitende Formulierungen, die zur unbemerkt bleibenden Zwangsüberzeugung führen:

 

Gruppensätze zur Milieukontrolle

·        Wir haben ein so schönes Miteinander, das kann man nicht erklären – komm einfach mal

·        Die anderen können das nicht verstehen, erzähle ihnen lieber nichts

·        Bei uns ist vieles ganz anders als ...

·        Noch wird dir manches ein wenig fremd sein, aber nach einer Weile wirst du erleben, dass ...

 

Gruppensätze zur Mystischen Manipulation

·        Wir haben uns das nicht selbst ausgedacht, es ist „Sein“ Wille

·        Wir sind Werkzeuge einer höheren Macht

·        Wir können „Seinen“ Willen nicht immer verstehen, aber wenn wir „Seinem“ Wort folgen, werden wir erleben, wie sich alles zum Guten entwickelt

 

Gruppensätze zur Forderung nach Reinheit

·        Du musst deinen eigenen Willen überwinden und unter Seinen Willen stellen

·        ER sieht und bemerkt alles

·        ER kennt jeden deiner Gedanken und weiß, was gut für dich ist

·        Draußen ist nur das Böse, dass dich vom Weg/Ziel abbringen möchte

 

Gruppensätze zum Bekenntniskult

·        Du musst lernen, dich stets mit Seinen Augen zu sehen, wenn du ...

·        Du musst deine Gedanken und Gefühle kontrollieren, sonst ...

·        Nimm dich selbst nicht so wichtig, denn was bist du ohne ...

·        Diese Gedanken führen dich ins Verderben, weil ...

 

Gruppensätze für die "Heilige Wissenschaft"

·        Wir glauben das, weil .... und können es belegen, denn ... . Also ...

·        Der Plan ist von Ihm schon lange festgelegt, nichts hält den vorgegebenen Lauf auf

·        Der Führer ist zwar auch ein Mensch, aber seine Worte sind Eingebungen sind von ...

·        Wir haben das höchste Ziel, was ein Mensch erreichen kann. Das wollen wir nicht aufs Spiel setzen

 

Gruppensätze zur Sprachlichen Beeinflussung

·        Alles Denken der anderen ist Torheit und zeigt ihr Unvermögen, unsere gute Sache zu begreifen

·        Die anderen sehen nur sich selbst, wir aber folgen ...

·        Mag es denen da draußen auch scheinbar gut gehen, letztlich wird sich doch zeigen, dass ...

·        Manches können wir jetzt mit unserem begrenzten/natürlichen Verstand noch nicht verstehen, aber wenn ...

 

Gruppensätze zur personenbeherrschenden Doktrin

·        Nur wer sein eigenes Wollen der Sache unterordnet, wird am Ende das wundervolle Ziel erreichen

·        Der Einzelne mit seinem Wissen kann den ganzen Plan nicht verstehen, aber ...

·        Du willst doch den anderen und dem Ziel nicht im Weg stehen

·         Du musst innerlich völlig neu werden, das alte Sein kann es nicht erreichen

 

Gruppensätze zur Dispensierung der Existenz

·        Wenn auch die Anderen die Wahrheit/unseren Führer/das Ziel/die Botschaft/Seinen Willen/ das Gute/unseren Weg nicht verstehen und annehmen können, wir wissen doch aber, worum es in der Zukunft wirklich geht

·        Die Anderen werden vergehen, wir aber werden erleben, dass ...

·        Die Anderen haben/wissen/verstehen/sind nichts, ihr Leben und Streben ist vergeblich. Was nützt es ihnen, dass sie ...

·        Nur wir ...

 

Diese Gruppensätze gehören in den meisten Fällen nach wie vor zum Standart neuapostolischer Predigten. Viele ihrer Laienprediger wüssten sich ohne diese Satzeinleitungen kaum auszudrücken, bemühte Ausnahmen sind vorhanden, jedoch noch selten. Oft stoßen solche Personen auch auf erbitterten Widerstand und geben schließlich ihr Amt auf ( siehe Blankenese).

Da nun nicht konkret nachzuprüfen ist, wie und was in der NAK jeweils in den einzelnen Gemeinden und Bezirken wöchentlich gepredigt, gedacht und gehandelt wird, und somit die tatsächliche Praxis und postulierte Veränderung im Vergleich zu 1950 auf diese Weise nicht festzustellen ist, soll eine Prüfung auf eine wirkliche Veränderung der Lehre einschließlich der Untersuchung möglicher Methoden zur mentalen Beeinflussung mittels der im Internet zugänglichen Worte zum Monat vorgenommen werden. Es handelt sich dabei um redigierte, also geprüfte und bereits überarbeitete Predigtauszüge vom amtierenden Kirchenpräsidenten und Stammapostel, Herrn Dr. Leber.

Zum Thema "Gehaltvolle Predigt"  hat sich Leber damals noch als Bezirksapostel und  Vorsitzender der Projektgruppe "Unterweisung für Amtsträger" in einer zentralen Ämterstunde am 8. Mai 2003 selbst geäußert[30]. Dabei sagte er unter anderem, dass der Heilige Geist nur das erwecken könne, was vorhanden sei. Bereits in der Predigteinleitung käme es darauf an, Werte wie Trost, Freude und Zukunftsglaube zu vermitteln. Kernpunkt der Seelsorge sei: „Die Seelen sollen sich umsorgt fühlen“. Machen wir also eine kleine Zeitreise zurück, angefangen im Dezember 2007 und prüfen die behauptete neue Entwicklung und Selbstdarstellung der NAK an den tatsächlichen Predigtworten ihres geistlichen Führers.

 

Stammapostel Leber schrieb im Wort zum Monat, Dezember 2007:

 

Wo das Apostelamt wirkt, wo die Gaben, die aus Jesus Christus hervorgehen, offenbar sind, da muss man eine Entscheidung treffen. Ist man dafür, stellt man sich im Glauben darauf ein oder ist es uns lästig? Ein Zwischenweg, den wir eigentlich gerne gehen wollen, hat vor Gott keinen Bestand, es gibt ihn nicht.“

 

Weiter macht Leber darauf aufmerksam, dass auch Jesus zu seiner Zeit widersprochen wurde, um daraus sofort die gültige Parallele für die NAK abzuleiten:

 

„Auch das ist heute nicht anders: Wo die göttlichen Gaben angeboten werden, wo Gottes Wort hörbar und Gnade zugänglich gemacht werden, da gibt es auch Widerspruch. Simeon brachte klar zum Ausdruck: Jesus Christus ist ein Zeichen, dem widersprochen wird. Das ist noch nicht einmal in der Möglichkeitsform ausgedrückt – da könnte Widerspruch auftreten –, sondern als unumstößliche Tatsache: Da kommt Widerspruch auf! Das soll uns also nicht irritieren.“

 

Zwei Monate zuvor schrieb er bereits im Oktober 2007:

 

„Der Sieg über den Tod, der aus dem Opfer Jesu kommt, ist einzigartig und nicht wiederholbar. Es gibt jedoch „kleine Siege“ auch in unserem Glaubensleben.

Die Geschichte unserer Kirche gibt Zeugnis davon, dass seit der erneuten Wirksamkeit von Aposteln solche Siege errungen wurden. Wenn ein Sünder Buße tut und im Namen des Herrn durch Apostel Vergebung der Sünden gewirkt wird, ist das ein Sieg; wenn Menschen zu Gotteskindern werden, ist das ebenfalls ein Sieg;“

 

Das heißt klar ausgedrückt, dass durch die „erneute Wirksamkeit“ der Apostel die Vergebung der Sünden gewirkt wird und Menschen durch sie in der Versiegelung zu Gotteskindern gemacht werden. Alle Amtsträger in der NAK sind zudem nicht nur Menschen, sondern „Es ist ja der Herr, der dahintersteht. Wir sehen oftmals viel zu sehr das Irdische, das, was vor Augen ist, also den Gärtner, und erkennen gar nicht: Es steht ja dahinter der Herr, auch in den Begegnungen mit den Brüdern. ... Wie segensreich ist das, wenn wir mit den Brüdern sprechen, wenn wir aus dem Gottesdienst kommen, dann sagen zu können: „Ich habe den Herrn gesehen, und nicht nur einen Menschen.“

 

Zum Schluss wird „Ostern“ speziell aus neuapostolischer Sicht definiert:

 

„Das ist Ostern: dass man den Herrn erkennt in seinem Wirken, im Seelsorgegespräch, im Gottesdienst, beim Familienbesuch und dann bezeugen kann: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt. Aus jedem Gottesdienst, aus den Begegnungen mit den Brüdern sollen wir das, was der Herr sagt, mitnehmen.“ (Juni 2007)

 

Solche Reden sind keine aufrichtenden und „tröstenden“ Predigten, sondern treffliche Beispiele für die spezifischen Indoktrinationsmechanismen der NAK-Führer. Beliebig ist letztlich sogar, was gesagt wird, wichtig ist, dass alles grundsätzlich direkt als „Gottes Wort“ angenommen werden „SOLL“. Im Ansatz wird schon bei den wenigen zitierten Worten deutlich, wie durch pacing and leading, also durch das „Eingehen“ auf die Gläubigen und deren anschließende Führung sich die Tranceinduktion vollzieht. Als eine quasi „Zielbeschreibung“ zur Trance unter bewusst herbeizuführender Ausschaltung der bewussten Wahrnehmung liest sich das Wort zum Februar 2007:

 

„Wenn wir das Wort Gottes hören, dann soll das nicht so sein, als würden wir eine Vorlesung oder irgendeinen Bericht hören, sondern dann wollen wir das Wort Gottes essen. Wer ein spannendes Buch liest, „verschlingt“ es, weil er sich gar nicht davon lösen kann. Er wird hineingeführt in eine ganz andere Welt, die ihn gefangen nimmt. – Das sagt man wohl meistens nicht von der Bibel ...“

 

Der Zuhörer wird abgeholt bei der allgemein geteilten Erfahrung, durch Lesen hineingeführt werden zu können „in eine ganz andere Welt, die ihn gefangen nimmt,“  um sogleich darauf in der Gleichsetzung und Vermischung von Rationalem mit Irrationalem systematisch ideologisch im Sinn der Gruppe manipuliert zu werden: „Und wie empfinden wir es beim Hören des Wortes Gottes? Es kommt ja aus einer ganz anderen Welt, denn es kommt vom Thron Gottes, wie verheißen ist: Was der Heilige Geist hören wird, das wird er reden. Und es führt uns in eine ganz andere Welt. Und da hinein wollen wir uns führen lassen.“  Verbunden ist dies mit dem deutlichen Ziel, Abhängigkeit von der Gruppe zu schaffen: „Wir wollen uns so von dieser Atmosphäre gefangen nehmen lassen, dass wir gar nicht mehr hinaus wollen.“

 

Im August 2006, bezüglich vorhandener Sorgen und Nöte, „vielleicht ein Zwist in der Familie, bei dem man nicht mehr weiter weiß; vielleicht eine Auseinandersetzung am Arbeitsplatz, die einen belastet, für die man keine Lösung findet“ wird den Hörern vorgegeben: „Achten wir auf das Wort Gottes und lassen wir uns vom Herrn leiten! Gehen wir nicht mit menschlicher Überlegung an die Sache heran, sonst müssen wir bald einsehen, dass wir nicht weiterkommen. Gehen wir mit göttlicher Hilfe ans Werk. Dazu ist zum einen notwendig, dass man Vertrauen in die Führung Gottes setzt. Zum anderen ist es wichtig, dass man Geduld übt.

 

Der Selbstwert der Zuhörer wird zurückgesetzt, das Denken nachgeordnet, Vertrauen eingefordert und Geduld, auch wenn es nicht so kommt, wie man es sich selbst wünscht. Die gewünschte Unterordnung unter das System wird im Juni 2006 als notwendiges Heilsprinzip dargestellt:

 

 „Wir wollen Bereitschaft zeigen, uns führen zu lassen, und bei dem, was dem Heil der Seele dient, nichts auf die lange Bank schieben; nicht denken: Vielleicht kann man ...“  denn auch „Abraham zögerte nicht, als er aufgefordert wurde, seinen eigenen Sohn zu opfern“. Es war zwar „ gegen alle Vernunft, ... Welcher Sinn sollte darin liegen?“  Dennoch wird  „ganz deutlich, dass Abraham  ... ohne Bedenken das tat, was der Herr von ihm erwartete.“

 

Es könnte aber schon bald zu spät sein, wird sogleich drohend betont, deshalb „Lasst uns weise, lasst uns klug handeln und unsere Erdenjahre nutzen als eine Zeitspanne der Gnade, als Zeit der Tat!“ Und mit dem immer wieder zu hörenden „Wollen“ und „Sollen“ schließt die Rede mit dem besonderen Appell an die Neuapostolischen als Gotteskinder„Wir sollen als Neuapostolische, als Gotteskinder solche sein, die das, was sie aus dem Geist Gottes hören, auch umsetzen. Wir wollen Täter des Wortes sein!“

 

Was aber „soll“ nun der Neuapostolische wirklich tun als „Täter des Wortes“?

 

Er „soll“ sich z.B. „gefangen nehmen lassen von der Atmosphäre“ und sich auf die immer wieder nah erwartete Ewigkeit freuen und sich nicht an die Dinge halten, die das Leben wirklich anzubieten hat. Denn, so die mentale Beeinflussung, „die Welt vergeht mit ihrer Lust“, die erwartete „ewige Herrlichkeit“ hingegen ist absolut sicher und „unbeschreiblich“ schön! Vor allem soll man als ein neuapostolisches Gotteskind auch nicht unzufrieden sein und muss immer wieder Vertrauen haben, denn „manche sind auf der Strecke geblieben. Warum? Weil sie nicht genügend vertrauten.“ So im Wort zum Mai 2006: „Wer jammert, wer klagt, muss sich doch die Frage stellen lassen: Hast du genug Vertrauen? Wenn man unzufrieden ist mit der göttlichen Führung, ist das ebenfalls eine Frage des Vertrauens. Legen wir doch einfach alles in die Hand Gottes.“  

 

Dass diese „göttliche Führung“ aber die Amtsträger sind als personifizierte „Hand Gottes“, ist bereits deutlich geworden. Daran führte auch im Februar 2006 kein Weg vorbei:

 

Das Wichtigste ist auch heute: denen zu glauben, die Gott sendet. Wenn man das tut, kann man den Segen Gottes auf sich ziehen und bereitet werden für die ewige Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott.“

 

Tut man es nicht, so ist innerlich konnotativ manipuliert zu folgern, tritt das Gegenteil ein. Dann nochmals, hier sind die Wiederholungen das deutliche Stilmittel: „Glauben wir denen, die der Herr heute sendet, seinen Aposteln - das ist Gottes Werk.“  Und weil vielleicht immer noch ein kleines „Aber“ im Hörer sein könnte: „Ich möchte es noch etwas verdeutlichen, was das bedeutet, den Aposteln Jesu Christi zu glauben. Man kann sehr intensiv, aber auch sehr oberflächlich glauben. Der Herr erwartet einen tief gehenden Glauben.“ So tief, dass man auch den letzten Gedanken noch abstellt, denn „das ist ein Glaube, bei dem man nachfolgt. Das ist ein Glaube, bei dem man unbegrenztes Vertrauen zu den Boten Jesu hat. Das ist ein Glaube, bei dem man geduldig ist. Und das ist ein Glaube, bei dem man eine feste Hoffnung hat. Unsere Hoffnung ist: Unser Herr kommt!

 

Dieser systemlogischen Kette ist vom geschulten, oder deutlicher: indoktrinierten Mitglied nichts entgegenzusetzen. Zumal bereits im November 2005 klargestellt wurde, dass nach dem Pauluswort "der natürliche Mensch vom Geist Gottes nichts vernimmt ". Deshalb, so die scheinlogische Folgerung, können „viele mit unserer Kirche nichts anfangen“.  Unter dem natürlichen Menschen ist, so erklärt Leber, ein "irdisch gesinnter Mensch" zu verstehen. „Und da es in dieser Zeit so viele "natürliche Menschen" gibt, weil so viele sich ganz und gar weltlich ausrichten, wird es in manchen Breiten dieser Erde immer schwieriger, Menschen für das Werk Gottes zu gewinnen. Das Wirken des Heiligen Geistes können wir dem natürlichen Menschen, der hierfür verschlossen ist, nicht plausibel machen.“

 

Man beachte besonders, dass die Begriffe „unserer Kirche“, „Werk Gottes“ und „Wirken des Heiligen Geistes“ einander gleichgesetzt als Synonyme zu verstehen sind, was den natürlichen Menschen (welch Konstrukt!!), also denen „draußen“ im Gegensatz zu denen „drinnen“, verschlossen bleiben muss, da es gruppenintern mental beeinflusstes  „Denken“ ist. Häufig ist auch die Rede vom natürlichen Verstand, der eben dieses oder jenes nicht fassen kann! Wertend wird hier dann noch hinzufügend unterstellt, dass solche Menschen, also eigentlich alle anderen Menschen, „materialistisch eingestellt“ sind. Der neuapostolische Mensch aber sollte die Zeitverhältnisse „geistig beurteilen“.

 

Die abschließend folgenden Paradoxa und Wiederholungen einschließlich der Vermischung von Realität mit irrealen Folgerungen führen völlig zur inhaltlichen Vernebelung. Hinzu kommt, das längere Zitat macht es gleich deutlich, wie durch eindeutiges pacing und leading als Grundprinzip jeder Predigt im „Unterhaltungsstil“ mental manipuliert wird:

 

Pacing :

Das Heute ist als Zeit mannigfacher Angebote gekennzeichnet. Es herrscht eine Vielfalt auf dem religiösen Markt: fernöstliche Religionen, Esoterik und Aberglaube.

Leading:

Es ist auch eine Zeit der Beliebigkeit: Jeder meint, tun und lassen zu können, was er will. Für unsere Zeit kennzeichnend ist ferner eine unendliche Unsicherheit.

Pacing:

Wer wagt schon, für drei, vier, fünf Jahre im Voraus zu planen?! Das ist der natürliche Blickwinkel.

Leading:

Jetzt will ich das aber einmal geistlich beurteilen: Unsere Zeit ist eine Zeit der Entscheidung. Auch wenn ihr viele ausweichen wollen - sie kommen nicht umhin, sich entscheiden zu müssen.

Pacing:

Ohne Frage bereiten die heutigen Lebensumstände - auch für manches Gotteskind - Unsicherheit: Viele sind arbeitslos, leben sogar am Rande des Existenzminimums, haben Sorgen über Sorgen.

Leading:

Doch wenn wir es geistlich sehen, kommen wir zu dem Ergebnis: Gott möchte, dass wir uns auch in solchen Verhältnissen bewähren und zu ihm stehen.

Pacing:

Das ist nicht immer leicht, das weiß ich sehr wohl! Manches Mal steht man ratlos da und findet keine Antwort auf drängende Fragen.

Leading:

In der Zeit der Entscheidung und Bewährung hilft es uns aber, alles, was an uns herankommt, geistlich zu beurteilen.

Ich nehme diesen Satz als eine Mahnung an uns: Alles geistlich beurteilen - nicht natürlich!

Dann erschließt sich uns viel Gutes.“

 

Was wird mit solchen, eigentlich inhaltslosen Worten erreicht, wenn der Zuhörer hier zum „Täter des Wortes“ wird, weil er doch das „Gute“ auch auf sich ziehen möchte? Er „soll“ die Unsicherheiten des Lebens (Kontingenz) gottergeben hinnehmen, weil er, der Mensch, daran ja doch nichts ändern kann, sich an die „Kirche“ halten und „geduldig“ abwarten. Der Zuhörer wird  davon zwangsüberzeugt, dass nur das Festhalten an der Gruppe und ihren Zielen Sicherheit bietet. Schon deswegen wird strikt vermieden, wirkliche spirituelle Lebenshilfe zu vermitteln. So ist im Wort zum August 2008 unter der zwar sympathischen Überschrift „Friedensstifter“ folgende, niederschmetternde „Erkenntnis“ zu lesen:

 

„Es ist das Kennzeichen der Gotteskinder, dass sie Frieden ausbreiten, und zwar nicht einen menschlichen Frieden, der doch nur „Waffenstillstand“ bedeutet, sondern den göttlichen Frieden. Wir wollen solche Gotteskinder sein, die den göttlichen Frieden ausbreiten ...: (... in der Familie, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft, überall wollen wir Kinder des Friedens sein.) Wir können uns schwerlich Gotteskinder vorstellen, die in Streit und in Hass leben. Sind das wohl noch wahrhaftige Gotteskinder? Ich glaube kaum. ...“

Man ist also kein „wahrhaftiges Gotteskind“ mehr (Dispensierung der Existenz), wenn man nicht immer und überall Frieden verbreitet. Dass „Streit und Hass“ völlig undifferenziert voneinander als das dichotom gedachte Gegenstück zu Frieden hingestellt werden, ist ebenso wie der nicht ausbleibende Vorwurf der eigenen Unzulänglichkeit[31] im Vergleich mit Abraham[32] und dem so erzeugten schlechten Gewissen bereits Mittel der mentalen Beeinflussung auf dem Weg zur abschließenden Aufforderung: „Aber man kann nur Frieden geben, wenn man ihn vorher empfangen hat. Darum legt der Dienstleiter in jedem Gottesdienst den Frieden Gottes auf die ganze Gemeinde.“ Kann man den Frieden nicht dauerhaft halten, hat man den „aufgelegen Frieden“ nur nicht fest genug ergriffen oder gar durch Fernbleiben versäumt! Die Unmöglichkeit, dass Frieden überhaupt „aufgelegt“ werden könnte, wird durch die mentale Beeinflussung im lahmgelegten Gehirn bereits nicht mehr wahrgenommen, ebenso wie die Notwendigkeit einer Streitkultur nicht erkannt wird.

 

Hier wird überhaupt kein zuversichtliches „Leben in der Hand Gottes“ als Hoffnungsprinzip auch in Notzeiten vermittelt, sondern es wird immer und immer wieder die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gruppe und den Aposteln als „göttlicher Wille“ suggeriert. Wenn der neuapostolische Christ sich also von seiner Gruppe abwendet, wendet er sich gleichzeitig vollständig von Gott ab. Eine schlimmere Form der totalen psychischen Abhängigkeit ist kaum denkbar. Mittels pacing und leading holt man den Hörer immer wieder bei seinen wirklichen Sorgen oder Befindlichkeiten ab, um ihn anschließend dahingehend mental zu beeinflussen, dass alle Antworten darauf bei den Aposteln zu finden sind.

 

Im neuapostolischen Leitbild „Dienen und Führen[33], was übertragen durchaus als pacing und leading verstanden werden kann, bedeutet „dienen“ im neuapostolischen Kontext „predigen“ oder sich im persönlichen Seelsorgegespräch der Sorgen des Gesprächspartners anzunehmen, um dann den entsprechend „göttlichen Rat“ auszusprechen. Dazu müssen die Lehraussagen und Anordnungen (!) vom Amtsträger „verinnerlicht“ (!) sein.  Und „Führen heißt, ein Ziel haben und jemandem den Weg zeigen, indem man mit ihm geht. ... Das gesamtkirchliche Interesse steht dabei im Vordergrund.“ Das Ziel des „Dienens und Führens“  ist: „Unser Wirken soll dazu beitragen, dass alle Gläubigen die ewige Gemeinschaft mit Gott erlangen.“ Und wo die zu finden ist, „nur“ und ausschließlich zu finden ist, ist jedem Neuapostolischen hinlänglich zwangssuggeriert worden.

Der immer wieder neu beginnende und sich schließende  Teufelskreis zirkulierender Wechselwirkungen verstärkt so den bestehenden Zustand und verhindert jede Veränderung zum Besseren.  Das faktische „Ziel“, das dabei aber wirklich erreicht wird, ist deutlich: Es ist die bedingungslose Anbindung der Mitglieder an die NAK und ihre vollständige Unterordnung unter die Apostel.

 

So bleibt nach der Analyse der Predigten des Stammapostel Lebers abschließend festzustellen, dass sich weder an der Lehre noch an der zwangsausübenden mentalen Beeinflussung wesentlich etwas verändert hat. Dass diese Beeinflussung in den meisten Fällen unwissentlich geschieht und systembedingt ist, ist dabei nicht von Bedeutung, weil die Auswirkungen auf das Selbst des Menschen und die entstehenden Ängste gleich bleiben. Man bedenke, dass jede Sekte „ein Spiegel der Innenwelt des Führers ist. Er kennt keine Schranken. Er lebt seine Phantasien und Begierden in der Welt, die er um sich herum schafft, hemmungslos aus. Er weiß, wie er die Menschen dazu bringen kann, ihm hörig zu werden.“ (Singer a.a.O. S. 293f.) Diese Innenwelt der früheren Führer und einstigen Gründer der NAK einschließlich ihres Welt-, Kirchen- und Gottesbildes ist in den gewachsenen Strukturen als überwertige Idee noch heute die bestimmende psychodynamische Grundlage, die im System versteckt die NAK und damit auch den Stammapostel regiert. Sie ist die Grundlage, die nicht aufgegeben werden kann, weil man sonst seine gesamte „neuapostolische“ Identität aufgibt. [34]

 

„Ich möchte in diesem Zusammenhang auf etwas hinweisen, das ich da und dort wahrnehme: Mancher hegt den Gedanken, die Neuapostolische Kirche müsse ein bisschen reformiert werden. Man meint, die eine oder andere Vorstellung hineintragen zu können. – Ich unterstelle, dass das gut gemeint ist. Aber dagegen spricht Grundsätzliches: Wir dienen dem Herrn und nicht den Menschen! Da geht es nicht um menschliche Gedanken und Überlegungen, die man einbringen möchte, sondern da geht es immer darum, sich am Herrn auszurichten.“

Stammapostel Leber im Wort zum Januar 2006

 

Auch die argumentativ gegen den Sektenvorwurf eingewandte neue Freiheit mit der heute bestehenden „Erlaubnis“ bezüglich Kino, Sport, Fernsehen ist als eine Selbstverständlichkeit innerhalb des Grundrechtes auf Selbstbestimmtheit des Menschen anzusehen. Von daher ist eine „Erlaubnis“ dazu völlig unnötig, ein Verbot aber erst recht. Diese Freiheit im Zusammenhang mit der von Stammapostel Urwyler eingeführten „Eigenverantwortlichkeit“ ist auch keine wirkliche, geistliche Entwicklung der Lehre, weil jeder erwachsene Mensch für sein Tun und Lassen genuin eigenverantwortlich ist, sofern er nicht unter einer psychischen Störung leidet. Wenn die Erlaubnis zur „Eigenverantwortlichkeit“ erteilt wird, muss der Mensch vorher unter Zwängen einer äußeren Instanz gelebt haben, die ihm die eigene Verantwortlichkeit  abgenommen hatte. Heute bedeutet Eigenverantwortung nach NAK-Verständnis immer noch, dass die Kirche zunächst ihre Antworten vorgibt, denn „erst, wenn Eltern und Eheleute wissen, wie sie sich verantwortungsvoll entscheiden können, trägt das Prinzip der Eigenverantwortung.“[35] Die Personen bekommen also zunächst von der Kirche die gesetzten Denkmaximen, damit dann das Prinzip der Eigenverantwortung tragen kann? Was immer letzteres heißen soll: Der früher äußerlich ausgeübte Druck wird nun nach innen in den Einzelnen hinein verlagert. So sind die innerkirchlich „neuen Freiheiten“ in keiner Weise Kennzeichen einer Öffnung, sondern einerseits ohnehin grundrechtlich zugesicherte Selbstverständlichkeiten, und andererseits wohl eher eine unvermeidliche Reaktion, bestehende Handlungsweisen von Jugendlichen letztlich kirchenamtlich zu sanktionieren.

Um sich wirklich in Richtung einer christlichen Freikirche zu „entsekten“, müssten alle hier aufgezeigten  Mechanismen und Methoden zuallererst einmal von den neuapostolischen Kirchenführern der NAK und beigeordnet auch von den Beauftragten für Weltanschauungsfragen erkannt und als solche auch anerkannt werden. Nur dann ließe sich vielleicht eine Veränderung bewirken, die den Bestrebungen und Interessen vieler Beobachter, Mitglieder und ihrer bemühten Seelsorger gerecht werden könnte.

So wie sich das Bild der Neuapostolischen Kirche von innen heraus psychologisch beleuchtet heute noch zeigt, ist und bleibt sie eine destruktiv sich auf die Entwicklung und Psyche der in ihrem Kreis befindlichen Menschen auswirkende Sekte, in der das geglaubt und gedacht wird, was über Gehirnwäschemethoden indoktriniert wird. Deshalb ist die anfangs zitierte Behauptung von Bezirksapostel Wend, neuapostolische Geschwister ließen sich nicht für dumm verkaufen, sondern sie seien davon überzeugt, kein Argument, weil gerade im Prozess der „Überzeugung“ durch die angewandten Zwangsmittel permanent die Würde des freien Menschen verletzt und damit sein eigener Wunsch nach echter und tiefer Spiritualität geradezu verhindert wird.

 

Dass eine wirklich verändernde Kraft zu einer Veränderung der NAK von ihrer Kirchenleitung selbst ausgehen könnte, bleibt auf Grund der dargestellten Zusammenhänge zumindest für die absehbare Zukunft eher unwahrscheinlich. Das System, dem die leitenden Amtsträger unbewusst folgen, dient und erhält in erster Linie sich selbst, und nicht die Menschen, denen es zu dienen vorgibt.



[1] Bezirksapostel Wend 2003 in einer Jugendstunde
   http://www.naktuell.de/0803/0803002.html#fussnoten

 

[2] http://www.agpf.de/Enquete-Kommission.htm        

[3] Die vorliegende Studie an 50 Zeugen Jehovas, die in den Einrichtungen des Mental Health Service von Westaustralien untersucht wurden, legt den Schluß nahe, daß die diesem Bevölkerungsteil Zugehörigen mit größerer Wahrscheinlichkeit in eine psychiatrische Klinik aufgenommen werden als die übrige Bevölkerung. Überdies wird bei den Anhängern dieser Sekte dreimal so häufig eine Schizophrenie und fast viermal so häufig eine Form der Paranoia diagnostiziert wie bei der übrigen Risikogruppe.

Während des Zeitraums von 36 Monaten von Januar 1971 bis Dezember 1973 gab es in den psychiatrischen Krankenhäusern des westaustralischen Mental Health Service 7.546 Einweisungen zu stationärer Behandlung. Von diesen wurden 50 als aktive Mitglieder der Bewegung der Zeugen Jehovas berichtet. Es war nicht bekannt, wie viele von ihnen Bekehrte oder Mitglieder in zweiter Generation waren. Von den 50 Eingewiesenen wurden 22 als schizophren diagnostiziert, 17 als paranoid schizophren, 10 als neurotisch und einer als Alkoholiker.

http://www.sektenausstieg.net/index.php?option=com_content&task=view&id=308&Itemid=54

 

[4] Offener Brief zum zweiten Informationsabend der NAK am 04.12.2007 in Zürich

http://quo-vadis-nak.foren-city.de/topic,1432,-zweiter-informationsabend-der-nak-im-herbst-2007.html

 

[5] http://www.naktuell.de/1004/1004002.html

[6] Was ist eine Sekte? http://www.gemeindedienst.de/weltanschauung/texte/wasistsekte.htm   

[7] http://www.kath.ch/infosekten/text_detail.php?nemeid=101544 

[8] http://www.nak.org/de/news/news-display/article/15790/     und:

http://www.christ-im-dialog.de/index.php?option=com_content&task=view&id=903&Itemid=30 

[9] http://en.wikipedia.org/wiki/Paul_R._Martin 

[10] siehe http://www.ubf-net.de/cts/martin1993.htm

Überarbeitete und erweiterte Version von Kapitel Eins des Buchs Cult-Proofing Your Kids (Wie man seine Kinder sektensicher macht). Dr. Martins Buch wurde 1993 von Zondervan Publishing House veröffentlicht. Es ist zur Zeit vergriffen.

[11] Siehe http://www.religio.de/books/kaufman/teil3.html

[12] siehe http://www.religio.de/synkret/mun/mun1.html  

[13] siehe http://www.religio.de/lex/Daten/B/bhagwan.html

 

[14] siehe http://www.agpf.de/Jonestown.htm 

[15] siehe http://www.watchtower.org/x/rq/index.htm?article=article_11.htm  und

    http://www.watchtower.org/x/rq/index.htm?article=article_11.htm

[16] Wer das ganze religiöse Kaleidoskop Deutschlands wissen möchte, sehe sich hier eine eindrucksvolle Auflistung an: http://www.literaturknoten.de/religion/sekten/auflist.html

Und noch zum Vergleich: Die Katholische und Evangelische Kirche haben in Deutschland jeweils knapp 30 Millionen Mitglieder.

[17] Hansjörg Hemminger: Was ist eine Sekte?, 2.Aufl. Mainz/Stuttgart 1996, S. 65

"Folglich sind die Sektierer heute für die Öffentlichkeit nicht mehr diejenigen, die vom religiös Anerkannten abweichen. Sektierer sind diejenigen, die von den noch existierenden gemeinsamen Überzeugungen abweichen - und das sind fast nur noch ethische Überzeugungen, die den Umgang mit Menschen betreffen. Unsere Kultur beruht auf einem nicht religiös, sondern ethisch begründeten Humanismus, auf starken Überzeugungen, die festlegen, wie menschlich mit Menschen umzugehen ist und wie ein "gutes Leben" für einen Menschen aussehen sollte. Begriffe wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung bezeichnen die Orientierungspunkte, an denen akzeptables Handeln gemessen wird. Daher bezieht sich der Begriff "Sekte" in der Umgangssprache immer mehr auf Gruppen, die in Lehre und Praxis systematisch gegen diese Orientierungen verstoßen, die statt Entfaltungsfreiheit Abhängigkeit produzieren, die Menschen entwürdigen und zur Intoleranz anleiten usw."

[18] Aus einem Faltblatt  vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen unter http://www.sekten-sachsen.de/wasistsekte.htm

[19] siehe hierzu zwei Ausarbeitungen von Ulrike Bär: http://www.praxis-ulrike-baer.de/profile.shtml  

* Risiken für die Selbstbildung durch Erziehung und Sozialisation in fundamentalistisch religiösen Gemeinschaften. Ausarbeitung zur Individuation von Kindern und Jugendlichen unter institutionsmanipulierender Beeinflussung am Beispiel der ‘Neuapostolischen Kirche’.

* Heraus aber wie? Psychologische Beratung oder Therapie? Überlegungen zur spezifischen Problematik von Geburt an religiös-fundamentalistisch geprägter Menschen. Eine multifaktorielle Untersuchung zur Begleitung des Ausstiegs und dessen Folgeerscheinungen in Beratung und Therapie

[20] http://www.agpf.de/lifton22.htm

[21] Singer, Margaret Thaler:

Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können / 1. Aufl.- Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, Verl. und Verl.- Buchh., 1997; Rezension: http://www.religio.de/publik/allg/singer.html#11

Die hier vorgenommene Darstellung folgt im weiteren eng Singers Ausführungen.

[22] Es gibt zudem physiologische Methoden der Beeinflussung, wie Hyperventilation, repetitive Bewegung, Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Stressniveau, Körpermanipulationen, enspannungsinduzierte Angst, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll. (vergl. dazu S.157)

[23] Derren Victor Brown, ein englischer Zauberkünstler, Mentalist und Karikaturist, arbeitet z.B. in seiner TV-Serie „Mind Control“ auf dem britischen Sender Channel 4  mit Techniken der Bewusstseinbeein-flussung. „So beeindruckt er eine professionelle Seherin mit seiner Gabe, während er selbst zugibt, dass er in keiner Weise übernatürliche Fähigkeiten besitzt. Mit seinen Demonstrationen „bekehrt“ Brown zudem eine Gruppe Atheisten zum Glauben an Gott. Im Nachhinein klärt dieser sie aber darüber auf, dass dies nichts mit einer höheren Macht zu tun hat.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Derren_Brown

[24] „Billy“ Eduard Albert Meier (1937) ist ein Schweizer Autor mit UFO-Kontakten. Er behauptet in seinem Buch  „Die Wahrheit über die Plejaden“, dass er die letzte Inkarnation der Propheten Henoch , Elija , Jesaja , Jeremia , Immanuel und Mohammed sei, die weltweit einzige Person ist, die die spirituelle Reife für den Kontakt mit den "Plejariern" habe und bei einer Zeitreise mit Jesus zusammentraf, der ihm bescheinigte, eine spirituell höhere Entwicklung als er selbst zu haben. Zum zitierten Text: Am 26. März 1975, während des 10. Kontaktes mit "Billy" Eduard Albert Meier, sprach die Außerirdische Semjase (von Erra/Plejaren) den auf dieser CD enthaltenen Text. Es handelt sich um den ersten Teil eines für die Menschen der Erde bestimmtes Referates. http://shop.figu.org/product_info.php?products_id=331

 

 

[25] So z.B. Was ist eine Sekte? – Checkliste von EKiR 8/2005, PROtestant 7/2008, Andrew Schäfer, EV

Pfarrer und Sektenbeauftragter unter:

http://www.christ-im-dialog.de/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=826

Oder: Evangelische Informationsstelle http://www.relinfo.ch/sekten/kriterientxt.html

[26] Auswahl aus: Ist das eine Sekte?

Checkliste zur Beurteilung unbekannter Gruppen http://www.sekten-sachsen.de/checkliste.htm

Oder auch: http://www.blja.bayern.de/Aufgaben/Jugendschutz/Sekten/Sekten.Checkliste.htm

[27] http://www.naktuell.de/0803/0803002.html#fussnoten 

[28] Siehe ausführlich meinen Aufsatz „Konstitutive Merkmale der NAK“:http://griess.st1.at/streich/default.htm

[29] Vortrag über die Neuapostolische Kirche  unter http://www.nak.org/nc/de/news/berichte-aus-aller-welt/article/12918/?cHash=834090ed11&sword_list%5B0%5D=kiefer

[30] siehe http://www.naktuell.de/0503/0503001.html

[31] So auch im September 2006: „Ein weiteres Kennzeichen der Stärke ist, dass man freudig ist. Selbst dann, wenn sich Probleme auftun, Not und Sorge drücken, wir in äußere Bedrängnis geraten sind, soll die Freude nicht geschwächt werden.“ Eine unmögliche, überfordernde Forderung!

[32] „Abraham zögerte nicht. Als er aufgefordert wurde, seinen eigenen Sohn zu opfern, den Sohn der Verheißung, hätte er menschlich gesehen zögern können. Denn es war gegen alle Vernunft ... Abraham tat ohne Bedenken das, was der Herr von ihm erwartete.

Am Beispiel Abrahams wird deutlich: Nichts auf die lange Bank schieben.“  Handeln gegen alle Vernunft und ohne Bedenken wird hier als erstrebenswerte, ja notwendige Lebenseinstellung gefordert!

[33] Fassung vom 03.04.2008: http://www.nak.org/de/glaube-kirche/leitbild-dienen-und-fuehren/

[34] Tiefergehend und tiefenpsychologisch orientiert beschäftigt sich mit diesem Thema meine Arbeit „Zur Psychodynamik religiös fundamentalistischer Bewegungen“ mit den Folgen bei Menschen, die in solch enge Gemeinschaft hineingeboren wurden und unter großen Mühen um den Ausstieg bemüht sind. Woher kommt diese ungeheure und durchaus auch noch nachträgliche Bindungskraft dieser Sekten, was sind eigentlich die innersten Beweggründe zum Bleiben, welche Spätfolgen leiten sich aus der Bewusstseinsmanipulation ab? Wer oder was bestimmt eigentlich, was innerhalb der NAK geschieht? Diese und weitere Fragen werden aufgegriffen und in einem Modell auf der Basis der psychodynamischen Prozesse durchschaubar gemacht. http://griess.st1.at/streich/default.htm 

[35] Apostel Kühnle, Leiter der Projektgruppe Gegenwartsfragen Ende 2004: "Die Kirche muss eigene Antworten zur Kindererziehung oder zur Partnerschaft und Ehe geben. Erst, wenn Eltern und Eheleute wissen, wie sie sich verantwortungsvoll entscheiden können, trägt das Prinzip der Eigenverantwortung.http://www.nak.org/nc/de/news/berichte-aus-aller-welt/article/12687/?cHash=6063667eee&sword_list%5B0%5D=eigenverantwortung