Kardinal Basil Hume: Religion und Gesellschaft (2)

Welche Rolle spielen die Religionen in der Gesellschaft heute an der Schwelle zum dritten Jahrtausend? Und welche Rolle sollten sie spielen? Kardinal Basil Hume, eine führende Gestalt in der katholischen Kirche, setzt in dieser Nummer von St. Olav seine Überlegungen fort.

Im ersten Teil des Artikels (St. Olav 11/12-98) nahm sich Hume die Religion besonders als "die persönliche Antwort des einzelnen Menschen auf Gottes Forderungen" vor und gab unter anderem Einblick in eigene "Lernerfahrungen". In diesem letzten Teil versucht er, "Licht auf einige Implikationen zu werfen, welche die religiöse Perspektive in die Diskussion darüber einbringt, wie Gesellschaft organisiert sein soll". Religion "macht einen wesentlichen Bestandteil der Identität und Seele der Gesellschaft aus", schreibt Hume. Und erinnert daran, daß "den innewohnenden Wert und die Würde des Menschen zu übersehen oder mißzuverstehen den Untergang jedes Systems garantiert, das auf solchen Fehlschlüssen aufgebaut ist".

Der Artikel, ursprünglich ein Vortrag an der Universität Surrey, wird in "St. Olav" mit persönlicher Erlaubnis der Kardinals veröffentlicht.

Moral - nur eine Frage der persönlichen Meinung?

Auch dieser Punkt ist, soviel ich verstehen kann, eng mit einem Phänomen verbunden, das in unserer Zeit stark hervortritt: der Verlust des Glaubens an objektive moralische Normen. Damit meine ich nicht, daß die Leute sich heutzutage schlechter benehmen oder jeder einzelne selbstsüchtiger ist als in der Vergangenheit - darüber kann ich unmöglich etwas wissen. Was jedoch klar zu sein scheint, ist, daß es keine allgemeine Übereinstimmung mehr darüber gibt, worin ein gutes Leben besteht. Es ist dem einzelnen selbst überlassen zu bestimmen, welchen Rechtsnormen und Geboten er folgen will. Moral ist in unserem individualistischen Zeitalter zu einer Frage der persönlichen Meinung geworden. Überraschend ist jedoch, wie oft jene, die darauf hinweisen, sich über den Verlust der gemeinsamer Werte beklagen. Offenbar haben sie eingesehen, daß jetzt etwas Wichtiges fehlt.

Das ist tatsächlich so. Es ist wesentlich für die Zukunft unserer Gesellschaft, daß wir uns von dem moralischen Subjektivismus befreien und wieder entdecken, was unsere Vorväter wußten. Aber wie kann dies in einer Zeit geschehen, die allen Autoritäten auf diesem Gebiet gegenüber skeptisch ist? Eine Möglichkeit besteht in der Wiederentdeckung der Verbindung zwischen der Verwirklichung des Guten, also dem moralischen Leben, und dem Erlebnis der menschlichen Entfaltung und Erfüllung. Moral ist ein Mittel auf dem Wege zum Zweck. Wir müssen die Verbindung aufzeigen zwischen einem moralischen Leben und einem Leben, das lebenswert, erfüllend und menschlich bereichernd ist. Güte ist attraktiv und noch mehr: sie ist zutiefst überzeugend.

Aber ein moralisches Leben beinhaltet unweigerlich Opfer und führt zu einer wachsenden Einsicht dessen, daß "Fülle und Erfüllung" für den Einzelnen nur möglich sind, wenn sie auch dem gemeinsamen Besten der Menschheit dienen. Moralisch zu leben beinhaltet, daß ich mich davon wegbewege, mich selbst als das Zentrum meines kleinen Universums zu sehen, und mich hin zur Einsicht bewege, daß ich zu einer Menschheitsfamilie gehöre, in der jeder einzelne mich etwas angeht. Das Paradox, an das ich gerade erinnerte, ist gültig, nämlich daß der Schlüssel zur menschlichen Freude darin liegt, uns selbst zu verschenken. Es ist nämlich so, daß in letzter Instanz, das heißt auf einem viel tieferen Niveau als dem groben Selbstinteresse, Pflichten und Wünsche am Ende übereinstimmen. Denn es ist nicht so, daß Moral uns Beschränkungen auferlegt, die unserer menschlichen Natur widersprechen, es ist eher so, daß Moral uns hilft, sie zu erfüllen. Dies ist der Zweck der Moral.

Sinn für das Geheimnis

Und es gibt noch eine andere Seite der Angelegenheit. Unsere Zeit muß einen Sinn für das Geheimnis wiedergewinnen. Pascal unterschied zwischen einem Geheimnis und einem Problem, aber wir haben die Tendenz, diesen Unterschied zu vergessen. Ein Problem ist ein Hindernis, ein Rätsel, etwas, was im Prinzip formuliert oder gelöst werden kann. Ein Geheimnis ist etwas völlig anderes: es liegt außerhalb unserer Reichweite; es ist zu groß für unser Verständnis. Man kann in es eintreten, es erforschen, sogar bewohnen: aber es kann nie ausgeschöpft oder ergründet werden.

Unsere Zeit hat einen intensiven Unwillen gegenüber der Idee des Geheimnisses: es stellt nämlich unsere Begrenzung bloß. Der Gedanke, es könne etwas oder jemanden außerhalb des menschlichen Verständnisses oder der menschlichen Phantasie geben, ist natürlich spannend, aber er macht uns auch klein. Er stellt uns auf unseren Platz, und der liegt nicht im Zentrum.

Die Wissenschaft hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle gespielt, indem sie Dinge aufklärte, die geheimnisvoll erschienen, Probleme löste und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis ständig erweiterte. Und ihre Erfolge, vor allem die sichtbaren technologischen Fortschritte, haben viele zu der sehr unwissenschaftlichen Schlußfolgerung geführt, es gäbe nichts anderes als das, was Wissenschaft entdecken und analysieren könne.

Wahr ist, daß all das, was wir Wissenschaft nennen, im Grunde genommen

eine Erforschung einer geordneten Schöpfung ist, einer Erforschung mit innewohnenden Begrenzungen. Das Leben ist viel mehr als Wissenschaft, und das Bild der 'Wirklichkeit', das die physikalischen und biologischen Wissenschaften vermitteln können, ist notwendigerweise begrenzt und bruchstückhaft. Nur bestimmte Arten von Erklärungen sind für das wissenschaftliche Suchen akzeptabel. Die tieferen Fragen nach Sinn und Zweck des Lebens sind genau so wirklich, aber liegen ganz einfach außerhalb des Horizonts der Wissenschaft.

Rituale des Übergangs

Eng verbunden mit der Idee des Geheimnisses ist Verehrung, und Verehrung ist eng verbunden mit Riten und Ritualen. Eine der Kontaktstellen, die noch immer zwischen etablierter Religion und der heutigen Gesellschaft bestehen, sind die Riten des Übergangs: Geburt, Heirat und Tod. Viele Leute, die sich sonst keine Zeit für Religion nehmen, haben dennoch oft einen starken Wunsch, diese Ereignisse durch eine Liturgie, ein Ritual, zu markieren, das versucht, dem Großen, dem Überwältigenden in diesen Ereignissen einigermaßen gerecht zu werden.

Soviel ich sehen kann, stellt dieses Phänomen den schwachen Rest dessen dar, was vom Bewußtsein des menschlichen Lebens als Geheimnis übrig geblieben ist, vom Bewußtsein, daß wir, auch wenn wir unser Schicksal nicht steuern können, Schauspieler in einem größeren Drama sind, in dem jedes menschliche Leben einzigartig und wertvoll ist.

Niederlagen als Fragezeichen

Die Erfahrung des Leides und nicht zuletzt des Versagens konfrontiert uns mit diesem Geheimnis: Solche Erfahrungen belehren uns auf strenge, aber wirkungsvolle Weise über Gottes Wege - außer natürlich wenn sie zu Bitterkeit und Haß verleiten. Sie stellen unsere Prioritäten in Frage, zeigen uns neue Perspektiven, leiten uns manchmal von Verzweiflung weg und dazu, einen anderen und neuen Sinn in unserem Leben zu suchen und zu entdecken. Leiden und Schmerz kommen zu uns als höchst unwillkommene Gäste, aber sie können, wenn wir richtig mit ihnen umgehen, sich als unsere Freunde erweisen.

Es gibt menschliche Tragödien, bei denen die Unschuldigen leiden: Erdbeben, Hungersnöten und Unfälle, an denen niemand schuld ist. Solche Ereignisse scheinen jeder Idee eines Gottes zu widersprechen, der gut und liebevoll ist. Wie solche Kalamitäten mit der christlichen Sicht von Gott vereinbar sind, ist die eine Frage. Aber ebenso schwierig ist es, solche Ereignisse mit einem rein weltlichen Zusammenhang in Übereinstimmung zu bringen.

Sinn im Sinnlosen

Ein Artikel in The Times vor einigen Jahren in Verbindung mit der Flugzeugkatastrophe in Amsterdam, wo ein Flugzeug auf ein Wohnhaus stürzte, ist in dieser Weise aufklärend. Solche Tragödien, schrieb Janet Faley, stellten weltliche Maßstäbe bis zum Äußersten auf die Probe:

"..... ein wirkliches Unglück läßt uns ohnmächtig zurück, nur fähig, unter den Trümmern nach Anhaltspunkten für die am wenigsten wichtige Frage zu suchen - die rein mechanische, die uns erklären kann, warum dieses Unglück geschah, aber nicht, warum die Welt auf diese unerträgliche Weise konstruiert ist.

Wir sind gezwungen, dies zu tun, nicht nur, weil wir durch Erklärungen hoffen, eine Wiederholung dieser besonders verhängnisvollen Reihenfolge von Ereignissen zu verhindern, sondern weil wir - aus Gründen, die zu tief in der menschlichen Seele liegen, um in Frage gestellt zu werden -, ein philosophisches Bedürfnis nach einer Erklärung haben, eine Art, dem Unannehmbaren einen Sinn zugeben.

Aber Schweigen ist das Erbe unseres skeptischen Zeitalters. Ohne Erklärung, ohne Trost wird es uns überlassen, unsere Maschinen zu perfektionieren und vorzugeben, wir seien - abgesehen von gelegentlichen Ausnahmen - nicht die Opfer unseres Schicksals.

Als wir die Schicksalsgläubigkeit ablegten, verloren wir gleichzeitig die Rituale, welche das Schicksal günstig stimmen sollten. Wir haben keine reichhaltigen Symbole, keine kunstfertigen Weisen, mit solchen Ereignissen fertig zu werden. Das technische Vokabular der Vorbeugung ist ein schlechter Ersatz für die erlösende Sprache, zu der die Gesellschaft einmal Zuflucht nehmen konnte, wenn solche Katastrophen sich ereigneten."

Solche Ereignisse enthüllen das tiefe religiöse Bedürfnis, für das die Säkularisierung keine Mittel zur Bewältigung hat. Aber die religiöse Antwort ist auch nicht einfach. Ich selbst habe niemals eine Erklärung für diese Tragödien finden oder geben können, die scheinbar im Widerspruch dazu stehen, daß Gott ein gutes und liebevolles Wesen ist. Die einzige Lösung, die ich gefunden habe, ist es, den Blick auf Jesus am Kreuz zu richten und mit den Augen des Glaubens hinter dem Kreuz die Herrlichkeit der Auferstehung zu sehen.

Religion und Gesellschaft

Bisher habe ich mir die persönliche Antwort des Einzelnen auf Gottes Forderung vorgenommen. Religion ist immer ein persönliches Anliegen, aber nie eine Privatsache: Sie hat gesellschaftliche Konsequenzen, die wir leicht übersehen können. Und damit bin ich beim zweiten Teil meiner Überlegungen angelangt: Ich möchte versuchen, einige der Implikationen zu beleuchten, welche die religiöse Perspektive in die Diskussion darüber einbringt, wie Gesellschaft organisiert werden sollte.

Religion ist selbstverständlich keine "körperlose" Stimme oder Kraft in der Gesellschaft. Sie kommt zum Ausdruck und etabliert ihre Gemeinschaft in der Öffentlichkeit. Die christlichen Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften bilden eine sichtbare und handgreifliche Gegenwart. Sie alle zeigen eine ungewöhnliche Fähigkeit zu überleben und sich wechselnden Umständen anzupassen. Und alle leisten ihren Beitrag zur Manigfaltigkeit und Vitalität in einer pluralistischen Gesellschaft.

Dialog zwischen Kirche und Staat

Auf der einen Seite muß und kann ein ständiger Dialog zwischen Kirche und Staat, zwischen organisierter Religion und Gesellschaft stattfinden. Auf der anderen Seite sollten wir dennoch nicht von Dialog reden, da die Religionen einen wesentlichen Bestandteil der Identität und Seele der Gesellschaft ausmachen. Die religiöse Vision hilft uns, den Kern unserer gegenwärtigen Erfahrung zu sehen.

Die heutigen Beobachter und Kommentatoren vom "Zustand der Welt" sind, verständlich genug, zum Teil unsicher und zum Teil untereinander uneins. Der kalte Krieg zwischen Ost und West und die wirtschaftliche Spaltung zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre gaben feste Bezugspunkte. Wie beklagenswert und zerstörerisch die Konflikte auch gewesen sein mögen, so ließen sich doch Strategien entwickeln, um der Situation Herr zu werden. Der totale Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und der wirtschaftliche Sturmwind, der nun um den Globus rast, haben die wohlbekannten Landmarken zerstört und Unsicherheit und Verwirrung geschaffen. Das Ende des kalten Krieges führte zu übertriebenen Hoffnungen auf eine neue Weltordnung. Nun ist es inzwischen klar, daß Konflikte und Blutvergießen weiterhin ein Teil der Landschaft sein werden. Das Elend früherer Zeiten tritt in neuen Formen wieder zutage.

Kein weltliches Utopia

All dies sollte uns im Grunde nicht überraschen. Die Jagd nach dem weltlichen, diesseitigen Utopia war immer zum Scheitern verurteilt. Wechselnde Systeme und mächtige und überzeugende Ideologien scheinen eine Zeitlang erfolgreich zu sein, aber mißglücken über kurz oder lang wegen Fehler in ihrem Innersten. Die Menschen sind nicht nur Verbraucher und Produzenten in einer Gesellschaft, in welcher die Kräfte des Marktes herrschen. Sie sind auch nicht nur Subjekte für eine dominierende Partei oder ein Staatssystem, bereit, auf ihre Individualität zugunsten des Kollektivs zu verzichten. Einzelmenschen haben einen innewohnenden Wert und eine Würde und diese können nicht einfach dem einen oder anderen Zweck untergeordnet oder dafür geopfert werden, wie hochwertig dieser auch sein mag. Der Kern in jedem menschlichen Wesen birgt ein Geheimnis und eine Größe, in welche darauffolgende Generationen nur teilweise eindringen können. Den innewohnenden Wert und die Würde des Menschen zu übersehen oder mißzuverstehen garantiert den Untergang jedes Systems, das auf solchen Fehlschlüssen aufgebaut ist. Wir müssen ständig nach Lebeweisen und Zusammenarbeitsformen suchen, welche dem ganzen Spektrum menschlicher Anlagen, Fähigkeiten und Bedürfnisse Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Aber ich möchte auch betonen, daß dieses Suchen für die Religion und die Kirchen ebenso notwendig ist wie für die Politik und die Leiter der weltlichen Gesellschaft. Die Wahrheit ist ewig und absolut, aber unsere Auffassung und unser Verständnis für sie ist begrenzt und bedingt. Im Laufe der Geschichte wurden im Namen der Religion viele Verbrechen begangen. Dem müssen wir ins Auge sehen und wir müssen bereit sein, es zu bereuen und dafür um Vergebung zu bitten. Tun wir dies, so kann dies vielleicht Frauen und Männer mit politischer Macht dazu ermuntern, sich eine ungewohnte Ehrlichkeit und Demut anzueignen.

Ein neuer Beginn?

Die heutige Welt ist kopfüber einem Änderungsprozeß unterworfen. Frühere "Wahrheiten" werden unterminiert und in rascher Folge verworfen. Soviel ich sehen kann, leben wir in einer Gesellschaft, die durch die gefallenen Idole des Vergangenheit verunreinigt ist. Wir haben die Niederlage der absoluten Monarchien und Diktaturen erfahren. Wir sehen die Schwächen der Präsidenten- und Parteipolitik. Der Kommunismus und der doktrinäre Sozialismus sind zusammengebrochen. Das unakzeptable Gesicht des Kapitalismus wird gefürchtet und nicht geliebt. In steigendem Maß werden der Rationalismus der Aufklärungszeit und das mechanistische Weltbild in Frage gestellt. Es ist mehr als deutlich, daß unsere Zeit keine Zeit für religiösen Gehorsam ist, aber gleichzeitig finden wir ein Suchen nach neuen Haltepunkten und Wahrheiten in fast allen Bereichen des Lebens. Die Zeit für den traditionellen Glauben ist vorbei, aber auch für vieles andere, was den Sinn und die Herzen der Leute herausforderte.

Unsere Zeit ist post-säkular, post-humanistisch und, das ist meine Ansicht, eine Zeit für manchen Neubeginn. Aber ist es möglich, inmitten so vieler gebrochener Versprechungen und zerschlagener Träume Werte und Überzeugungen zu finden, die unserer Welt neues Leben und neue Hoffnung bringen können? Ich glaube es. Der Schlüssel zu weiteren Fortschritten liegt, wie früher angedeutet, in einem tieferen Verständnis der gemeinsamen Menschlichkeit, an der wir alle teilhaben.

Christ sein heißt menschlich sein

Dazu braucht es eine Erforschung der jüdisch-christlichen Tradition und der religiösen Erfahrung der Jahrhunderte. Im Buch Grundkurs des Glaubens schreibt Karl Rahner: "Die wirkliche und ganze und umfassende Aufgabe für einen Christen als Christen ist es, ein menschliches Wesen zu sein, genauer bestimmt ein menschliches Wesen, dessen Tiefen göttlich sind. Diese Tiefen sind unentrinnbar in seiner / ihrer Existenz gegenwärtig und öffnen sie nach oben hin. Und in dieser Perspektive besteht das christliche Leben darin, die menschliche Existenz als menschliche Existenz zu akzeptieren und nicht ein letzter Protest dagegen zu sein".

Hier finden wir eine Wahrheit klar ausgedrückt, die zum Kern der jüdisch-christlichen Tradition gehört. Im ersten Kapitel der Genesis lesen wir: "Und Gott sprach: Laßt uns den Menschen erschaffen nach unserem Bilde". Erschaffen nach diesem Bilde, mit dieser Gleichheit, wird dem Menschen Herrschaft über die ganze andere Schöpfung gegeben. Dies war des Menschen höchste Würde und sicherte Respekt für sein Leben und seine Rechte. Dieser religiösen Vision zufolge ist die grundlegende menschliche Natur für immer kostbar und soll als geheiligt und unverletzbar verteidigt werden. Unter aller Schöpfung ist der Mensch allein mit der Macht des rationalen Denkens, der schöpferischen Phantasie, des künstlerischen Empfindens und des freien Willens ausgestattet. All dies übersteigt das Physische und Materielle: es kann nur von einer geistigen Gegenwart her erklärt werden. In jeder anderen Hinsicht sind menschliche Wesen aus dem selben Stoff gemacht wie der Rest des Universums. Es ist dieser Funke des Geistes - Rahner nennt es die "göttliche Tiefe" -, der fordert, daß wir uns dem Menschen auf solche Weise nähern.

Menschenrechte

Die Welt hat in unserer Zeit große Schritte nach vorne unternommen, wenn es darum geht, einen zufriedenstellenden Rahmen für menschliche Entwicklung zu sichern. Ein markanter Zug in dieser Verbindung ist das wachsende Bewußtsein über und der Einsatz für die Menschenrechte. Im Buch International Law and Human Rights schrieb der verstorbene Paul Sieghart: "Zwei Hauptzüge unterscheiden die Menschenrechte von anderen Rechten: Erstens sind sie nicht erworben; man kann sie auch nicht übertragen, zurückziehen oder durch eine Handlung oder ein Ereignis löschen. Der klassischen Theorie zufolge, die sich nun im internationalen Standard widerspiegelt, sind sie universell und unlöslich damit verbunden, Mensch zu sein; sie kommen jedem das ganze Leben hindurch zu, einzig und allein wegen der Eigenschaft, Mensch zu sein, und sie sind unabhängig. Zweitens fallen die ihnen entsprechenden Pflichten in erster Linie den Staaten und öffentlichen Behörden zu, nicht Individuen."

Wir haben heute ein umfassendes internationales Gesetzeswerk, welches die Menschenrechte auf vielen Gebieten definiert und anerkennt. Diese umfassen bürgerliche Rechte und Freiheiten wie das Recht auf Leben, Äußerungs- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf gerechte und öffentliche Rechtsprechung, das Recht auf freie Wahl basierend auf dem allgemeinen Stimmrecht. Sie umfassen auch die sozialen und wirtschaftlichen Rechte, die in den letzten hundert Jahren anerkannt wurden: Freiheit von Not, gleiche soziale und wirtschaftliche Möglichkeiten, das Recht auf Gesundheitspflege und Erziehung und die Ansprüche und den Schutz, die unter den Begriff "soziale Sicherheit" fallen. Die Etablierung von Organisationen wie der Völkerbund vor dem 1. Weltkrieg und die Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg haben zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung eines internationalen Gesetzeswerkes über die Menschenrechte beigetragen. In Europa waren die Europäische Union und der Europarat positive Faktoren, wenn es darum ging, den Frieden zu sichern und den Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenrechte zu fördern.

In unserem Jahrhundert hat die Weltgemeinschaft, trotz Kriegen und Konflikten von unübertroffener Grausamkeit, Normen geschaffen, die weit über den grundlegenden Bedarf zur Sicherung des menschlichen Überlebens hinausgehen. Wenn diese Normen ehrlich und unermüdlich gehandhabt werden, dann können sie international eine stärkere Verwirklichung des menschlichen Potentials ermöglichen. Die Grundlage für die Menschenrechtserklärung ist die Anerkennung einer grundlegenden Gleichheit, Solidarität und Sorge, die alle umfaßt. Organisationen wie Amnesty International überwachen regelmäßig, wie sich die einzelnen Staaten benehmen, und die Berichte der Organisation sind oft beunruhigend. Aber der Umstand, daß sie existieren, ist in sich selbst ein Beweis für geänderte Haltungen und eine empfindlichere Weltmeinung.

Die Schnelligkeit und Verfügbarkeit der modernen Transport- und Kommunikationsmittel hat unzweifelhaft dazu beigetragen, einen besseren Sinn für Einheit und gegenseitige Abhängigkeit der Menschen zu entwickeln. Abnehmender Analphabetismus und das Setzen auf Massenbildungsprogramme haben allgemein das Verständnisniveau erhöht und in einer wachsenden Anzahl von Ländern zivilisiertere Umgangsformen gefördert. Die Befreiung der Frau, die in den westlichen Ländern am weitesten fortgeschritten ist, ist eine globale Bewegung neueren Datums, aber von enormer Bedeutung für die menschliche Familie. Es gibt in vielen Ländern auch ein wachsendes Bewußtsein unserer gemeinsamen Verantwortung für die Umwelt und für die Zukunft unserer Welt und für ihre begrenzten Mengen nicht erneuerbarer Ressourcen.

Ich möchte diese Entwicklung als Saat des Evangeliums sehen, als eine Bearbeitung des Erdbodens für das Reich Gottes. Es ist unzweifelhaft falsch, die Geschichte einzig und allein als Aneinanderreihung fehlgeschlagener und vergeblicher menschlicher Anstrengungen zu sehen, als Beweis für das unversöhnliche Böse. Unserem christlichen Glauben zufolge ist die Geschichte und das Menschengeschlecht in und mit Jesus Christus erlöst und gerettet. Deshalb sollte es uns nicht überraschen, in der Geschichte Beweise der Heilung und des Wachstums auf nationaler und internationaler Ebene sowie in Bezug auf die Seelen einzelner zu sehen.

Auch wenn es sich so verhält, daß jeder einzelne persönlich für das Reich Gottes gewonnen werden muß, so ist doch Fortschritt möglich und ereignet sich auch, wenn es darum geht, einzelne Menschen darauf vorzubereiten, auf das Evangelium Antwort zu geben. Wer in eine christliche Familie hineingeboren wird und Jahrhunderte des Glaubens, des Gebets und der religiösen Praxis erbt, ist unzweifelhaft mehr dazu disponiert, Jesus Christus als Erlöser und Herrn anzunehmen, als z.B. ein chinesischer Kommunist oder ein indischer Buddhist, deren Kultur vom Evangelium unberührt ist. Menschen werden durch ihre Aufwuchsbedingungen, durch ihre Erziehung und durch ihr genetisches Erbe geformt.

In der heutigen Welt gibt es Zeichen, die darauf hindeuten, daß die Menschen Fortschritte auf dem Weg zu größerer menschlicher Entwicklung und Entfaltung machen. Dies zeigt sich u.a. im größeren Maß von Ehrlichkeit und Freiheit, welches das Verhältnis zwischen den Menschen charakterisiert. Wir sehen dies auch in der Anerkennung der grundlegenden Gleichheit und individuellen Wertigkeit "der anderen" trotz Verschiedenheiten und Behinderungen. Wachsendes Selbstbewußtsein und Selbsteinsicht sind ein Ergebnis von Fortschritten in Psychologie und Psychiatrie. Der Grad der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung ist größer als früher. All dies sind Anzeichen persönlicher Entwicklung und Fähigkeit zu menschlichem Wachstum, einer Entwicklung, die man als Stadium in der Erforschung des Geheimnisses Mensch betrachten kann.

Religion als einigende Kraft

Ich habe nun versucht, einige Züge in der Geschichte unserer Gesellschaft zu identifizieren, die Andeutungen und Hinweise auf eine Anerkennung des Geheimnisses und der Tiefe enthalten, welche das Herz jedes menschlichen Wesens sind. Wenn aber meine Diagnose richtig ist, befinden wir uns heute an einem kritischen Scheideweg. Es ist von vitaler Bedeutung für unsere Zukunft, daß wir ein gemeinsames Verständnis der menschlichen Natur wieder entdecken. Die Religion kann hierbei eine Hilfe sein, wenn man sie eher als einigende Kraft denn als etwas Trennendes betrachtet, und wenn sie die Wahrheit über den Menschen in einer Sprache vermitteln kann, die an Erfahrungen einer Generation anknüpft, die weithin traditionellen Glaubensformulierungen und Symbolen fremd gegenübersteht.

Ich habe die Entwicklung der Menschenrechte bereits als einen positiven Faktor bezeichnet. Aber diese Rechte werden nicht aus eigener Kraft aufrecht erhalten, und sie sind verletzlich, wenn sie nicht auf einem gemeinsamen Bewußtsein von menschlicher Würde und menschlichem Wert begründet sind. Einer der Beiträge, den Religion in diesem Zusammenhang leisten kann, ist es, die Menschenrechte mit der Verkündigung einer Vision vom Menschen als "geschaffen nach dem Bilde Gottes" zu verbinden. Eine solche Vision ist von entscheidender Bedeutung, wenn eine Gesellschaft überhaupt die Menschenrechte achten und nicht in den Sumpf des Nützlichkeitsdenkens zurückfallen soll, wo die Menschenrechte der Alten, der Notleidenden und der Obdachlosen unterhalb der Rechte derer rangieren, von denen man meint, sie lebten ein nützlicheres und daher wertvolleres Leben. Die Verbindung zwischen Menschenwert und Menschenrecht aufrecht zu erhalten ist von entscheidender Bedeutung.

Ständige Suche nach dem Reiche Gottes

Wie wir gesehen haben, ist die Gesellschaft auf dem Weg zur Anerkennung der Würde und der Rechte des einzelnen Menschen bereits ein Stück weiter gekommen. Nur schrittweise werden wir mehr von der Wahrheit begreifen. Unser Verständnis der Gesellschaft selbst wächst, das Verständnis der Dynamik innerhalb der Familie und innerhalb der größeren Gemeinschaften, der radikalen Gleichheit unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Glaube. Heute befinden wir uns, soweit ich sehen kann, erst in frühen Stadien des Verständnisses von der vollen intellektuellen und geistigen Kapazität des Menschen. Die göttlichen Tiefen des Menschen werden niemals ihren Reichtum völlig enthüllen. Der Mensch ist ein Geheimnis - auch darin ist er Gott ähnlich. Strukturen, juridische Systeme, Konstitutionen und Gemeinschaften zu schaffen, die in genügendem Maß auf dieses Geheimnis Rücksicht nehmen, ist eine ständige Aufgabe, eine konstante Herausforderung, der wir gleichzeitig mit der Erforschung des Geheimnisses gerecht werden müssen. Dies ist der Weg, den wir bei der unaufhörlichen Suche nach dem, was Christus das Reich Gottes nannte, gehen müssen,

Aus: St. Olav, katholische Zeitschrift für Religion und Kultur, 1-2/99

Übersetzung: Friedrich Griess