Kardinal Basil Hume: Religion und Gesellschaft (1)

Welche Rolle spielen die Religionen in der Gesellschaft heute an der Schwelle zum dritten Jahrtausend? Und welche Rolle sollten sie spielen? Eine führende Gestalt in der katholischen Kirche, Englands Kardinal Basil Hume, der neulich das 75. Lebensjahr vollendete, geht in diesem Artikel der Frage auf den Grund und gibt uns auch Einblick in seinen eigenen geistlichen Weg. Der Artikel, ursprünglich ein Vortrag, der vor einigen Jahren an der Universität Surrey gehalten wurde, wird in "St. Olav" mit persönlicher Erlaubnis der Kardinals veröffentlicht.

Radikale Umwälzungen

Unser Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, und das zweite Jahrtausend des Christentums ebenfalls - es ist gleichzeitig eine Zeit der Möglichkeiten und der Ängste. Wir stehen mitten in radikalen Umwälzungen und Veränderungen der Wertvorstellungen, und während manche nur Tod und Untergang voraussehen, scheint für andere der Tag zu einer neuen und besseren Zukunft anzubrechen. Wer an Gott glaubt, einen Gott, der alles aus Liebe erschafft, ist aus Überzeugung unverbesserlicher Optimist. Das bedeutet nicht, daß wir die Leere, die Niederlagen und die Schmerzen des Menschseins unterschätzen, aber in all diesen Dingen finden wir Botschaften und Anzeichen eines Gottes, der rettet und wieder aufrichtet.

Als ich Religion und Gesellschaft zum Thema meiner Betrachtungen wählte, hatte ich nicht die Absicht anzudeuten, daß dies zwei unvereinbare Größen seien oder daß sie sich in beträchtlichem Abstand voneinander befinden. Religion ist eine grundlegende menschliche Antwort; sie begegnet uns in allen Kulturen und in allen Perioden der Geschichte. Sie gehört zum eigentlichen Kern der menschlichen Gesellschaft, eine Zeichen und ein Zeugnis für die geheimnisvolle, aber dennoch reale Gegenwart des Geistes und des Geistigen im Leben jeder Gesellschaft.

Der Rückzug der Religionen

Im Laufe der letzten zweihundert Jahre wurden viele christliche Werte auf bemerkenswerte Weise Teile des Wesens der Gesellschaft in unserem Teil der Welt, aber in den späteren Jahren erlebten wir eine schrittweise Reduktion der öffentlichen Rolle und des Einflusses der religiösen Institutionen. Die Verbindungen zwischen sozialen und juiridischen Reformen und Fortschritten auf der einen Seite und den religiösen Werten auf der anderen Seite, welche in vielen Fälle jene ursprünglich inspirierten, wurden gelockert. Heute hören wir oft, Religion sei Privatsache und müsse eine solche sein. Das darf sie nicht werden.

Meine Betrachtungen zerfallen in zwei Teile: Zuerst will ich mir jene Seite der Religion vornehmen, die mit der persönlichen Antwort des Menschen auf Gottes Forderungen zu tun hat; danach will ich versuchen, auf die Folgerungen hinzuweisen, die gewisse religiöse Ansprüche für die Art und Weise haben, wie die Gesellschaft organisiert ist und sich verhält

Die persönliche Antwort an Gott

Der Mensch strebt mit all seinen Schwächen und Begrenzungen nach dem Absoluten und Transzendentem. Wir haben einen unersättlichen Hunger nach dem Unendlichen. Chesterton sagte einmal, wenn wir aufhören, an Gott zu glauben, dann beginnen wir, an alles Mögliche zu glauben. Um Gott zu finden, müssen wir ihn suchen, wenn er nicht, wie im Fall des Paulus, auf dramatische Weise in unser Leben eingreift. Die normale Weise, wie er den Weg in unser Leben hinein findet, besteht darin, daß wir aufbrechen, um ihm zu begegnen. Und während wir etwas unsicher und unbeholfen dahinwandern, kommt er uns entgegen. Er offenbart sich auf viele verschiedene Weisen: am klarsten und markantesten durch seinen Sohn, der für uns Mensch wurde. Aber hier bewegen wir uns zu Erfahrungen anderer Art, nämlich solche, die wir Glauben nennen, während ich hier über die Suche spreche, die dem Glauben vorausgeht - über die Erde, die vor dem Säen umgepflügt wird. Der Sämann sät den Samen. Aber er sät vergebens, wenn die Erde die Saat nicht annimmt.

Die Reise Gott entgegen

Das Suchen nach Gott ist wie eine Reise. Aber die Entdeckungsreise, um ihn zu finden, hat ihre Grenzen: Wir können nicht über den begrenzten Horizont hinauskommen, für den sich unsere Sinne und die Kenntnisse öffnen, die sie vermitteln. Dennoch versuchen wir, uns gleichsam auf die Zehen zu stellen und zu strecken, um über das Hier und Jetzt hinauszusehen, und das zu ergreifen, was außerhalb unserer Reichweite ist.

Die Religion beginnt, sich in unserem Leben sofort zu melden, wenn wir beginnen, Fragen nach dem Ziel und dem Sinn zu stellen. Das ist eine persönliche Suche: niemand kann diese für jemand anderen unternehmen. "Welchen Sinn hat das Leben für mich?" Dies ist die Frage, mit der wir alle uns plagen, auch wenn wir das ganze für uns behalten. Diese Frage nach einer zufriedenstellenden und erfüllenden Antwort ist eine intellektuelle, gefühlsmäßige und geistliche Reise.

Lernerfahrungen

Hier möchte ich drei Erfahrungen nennen, die wichtig dafür waren, in meinem eigenen Leben die Reflexion und das Wachsen zu fördern. Es sind hauptsächlich Kindheitserinnerungen. Ich habe eine gewisse Scheu, persönliche Erfahrungen da hineinzuziehen, und tue dies nur, weil ich keine bessere Möglichkeit habe, es auf den Punkt zu bringen: nämlich, daß Ereignisse, in die wir verwickelt waren, und Dinge, von denen wir gehört haben, der Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken über Gott sind. Im Lichte späterer Studien und nachdem Jahre vergangen sind, blicke ich jetzt zurück und sehe die Bedeutung von Dingen, die isoliert gesehen nichts anderes als Trivialitäten waren. Aber gerade das ist oft die Weise, wie Gott zu den einzelnen Menschen spricht. So im Nachhinein glaube ich, daß mir Gott durch diese Erfahrungen einen Hinweis gab, über mich selbst und über das weltliche Treiben hinauszusehen, um etwas anderes - oder eher jemand anderen - zu entdecken.

Hat der Tod das letzte Wort ?

Die erste Erfahrung hat mit einem Sarg zu tun. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist ein Sarg, der durch die Straßen von Newcastle zu seiner letzten Ruhestätte getragen wird. Ich kann das Ganze noch immer vor mir sehen. Meine Gedanken waren damals sicher äußerst kindlich und einfach, aber das Erlebnis wurde der Ausgangspunkt für das, was mit den Jahren eine reifere Reflexion und Spekulation wurde. Warum ereignet sich so etwas wie der Tod? Ist er das Ende von allem oder ein neuer Beginn?

Ich konnte nicht glauben, daß der Tod das Ende sein sollte - das endgültige, unumkehrbare Ereignis. Es schien mir ganz einfach nicht richtig. Der Tod schien allem menschlichen Streben zu spotten; seine augenscheinliche Finalität und Zufälligkeit schien allen menschlichen Einsatz und alles Streben zu trivialisieren und zunichte zu machen. Nur als ein Vorspiel zu einer reicheren, dauerhafteren Existenz konnte der Tod einen Sinn haben.

Viele Jahre später fiel mir ein Abschnitt von Bedas Kirchengeschichte in die Hände, welche, im Abstand von Jahrhunderten zu unserer Zeit, gerade über diese tiefe menschliche Frage spricht: Warum gibt es den Tod? Beda berichtet, Edwin, der König von Northumbrien, habe im Jahre 627 seine Häuptlinge zu einer Versammlung einberufen, um sie zu bitten, ihm zu raten, ob er den christlichen Glauben annehmen solle, in dem ihn Paulinus, ein Missionar aus Rom, unterrichtet hatte. Es heißt, Edwin habe lange Zeit geschwankt. Vieles wurde vorgebracht:

Dann sagte ein anderer von den Königs Mannen: "Eure Majestät, wenn wir das menschliche Leben hier auf Erden mit der Zeit vergleichen, von der wir keine Kenntnis haben, so scheint es mir wie ein rascher Sperlingsflug durch die Halle, wo du an diesem Wintertag mit deinen Lehensleuten und Ratgebern sitzt. Dieser Sperling fliegt rasch durch das eine Tor herein und durch das andere wieder hinaus. Während er herinnen ist, ist er vor dem Wintersturm sicher, aber nach einigen Augenblicken herinnen in der Wärme verschwindet er in die Winterkälte hinaus, aus der er kam. Ebenso ist der Mensch nur kurze Zeit hier auf Erden, aber über die Zeit, die seinem Leben vorausging und über die, da danach kommt, wissen wir nichts. Wenn deshalb diese neue Lehre uns sichere neue Kenntnisse gebracht hat, scheint es recht und richtig zu sein, ihr zu folgen." Die anderen Ältesten und Ratgeber gaben mit Gottes Beistand den gleichen Rat.

Die tiefste Intuition des menschlichen Geistes flüstert, daß am Menschenleben mehr ist als die Jahre, die ihm zugeteilt sind. Und ich begann nach etwas zu suchen, das einer anderen Seite der Wirklichkeit angehörte und das mit dieser tiefen Intuition zusammenfallen könnte, die ich darüber hatte, daß der Tod nicht das letzte Wort haben könne.

Was ist Glück?

Die zweite Erfahrung knüpft an einen "Essay", den ich schreiben sollte. In der Zeit, da ich mich auf das Studium an der Universität vorbereitete, war es in gewissen Fächern üblich, daß man eine zwei- oder dreistündige Arbeit über ein Thema schreiben sollte, oft nur über ein Wort oder über einen Begriff. Je abstrakter das Wort oder der Begriff war, desto schwieriger war es natürlich. Das Wort wurde uns zugeteilt, und somit wurde der Ausgangspunkt für mein Suchen nach Gott das Wort "Glück". Ich glaube, daß ich in der Tat vorher nicht wirklich ernstlich darüber nachgedacht hatte, und was ich schrieb, spiegelte den ersten Versuch eines Siebzehnjährigen zu denken wider. Was ist Glück? Sind die Leute im allgemeinen glücklich? Warum sind wir in einem Augenblick glücklich und nicht im nächsten? Es traf mich, daß das Glück etwas Flüchtiges war: es wurde heftig begehrt, aber es war unmöglich, seiner habhaft zu werden.

Viele Zeit später fand ich in diesem Punkt wie in so vielen anderen einen Lehrer in Thomas von Aquin. In Übereinstimmung mit Aristoteles behauptete er, wir seien in der Tat für das Glück erschaffen, aber die Art von Glück, die wir zutiefst gesehen benötigen, muß die beiden folgenden Eigenschaften haben, um uns zufrieden stellen zu können: Es muß ganz und vollständig sein. Genauer: Es muß alle unsere Wünsche erfüllen können, und es muß dauerhaft sein.

Aber das Glück, das wir Menschen erfahren, ist im allgemeinen unvollkommen. Wir sind und bleiben unruhig, suchen an einem Tag das eine und am nächsten etwas anderes. George Herbert verstand die Unruhe gut, die mitspielt, wenn es gilt, einen Menschen zu Gott zu führen, und im Gedicht The Pulley (Die Rolle) erklärt Gott, warum er, der dem Menschen so viele Geschenke gab, vergaß, ihm das 'Geschenk der Ruhe' zu geben:

'For if I should', said he
Bestow this jewel also on my creature,
he would adore my gifts instead of me.
And rest is nature, not the God of nature:
so both should losers be.

'Yet let him keep the rest,
But keep them with repining restlessness;
Let him be rich and weary, that at least,
If goodness lead him not, yet weariness
May toss him to my breast'.

Etwas tief drinnen im Menschenherzen wird in diesem Leben niemals zufriedengestellt, und wenn wir nicht in Frustration enden sollen, dann werden wir an einem anderen Ort und in einer anderen Form von Existenz eine Freude finden, die vollständig und endlos ist.

Wir sind für die Liebe erschaffen

Die dritte Erfahrung, die ich erwähnen will, ist sehr persönlich, aber gleichzeitig etwas, was uns allen gemeinsam ist. Es war die Erfahrung der Liebe. Es ist berauschend, einen anderen zu entdecken, der unser Herz gefangen nehmen und in dessen leeren Raum einziehen möchte. Es ist spannend, zu entdecken, daß wir im Herz und im Leben eines anderen einen privilegierten Platz einnehmen. Es sollte nicht nötig sein, bei dieser Erfahrung stehenzubleiben. Wir erleben, daß die Liebe uns in die Höhe heben, aber auch, daß sie uns in die Verzweiflung stürzen kann. Wir erfahren, daß menschliche Liebe launisch sein kann. Aber als Teenager lernte ich, daß wir auf die eine oder andere Weise für die Liebe erschaffen sind, und daß alle menschliche Liebe, mag sie auch vergänglich und unvollkommen sein, etwas von der unendlichen und ewigen Liebe in sich hat.

Einer der bewegendsten Berichte über menschliche Liebe, die ich gelesen habe, gibt es bei Viktor Frankl, der in Auschwitz interniert war. Seine Frau war in einem Lager in der Nähe, aber sie konnten einander nicht sehen. Er erzählt von einem Erlebnis an diesem grausamen Ort. Es ist vor dem Morgengrauen, und er stolpert im eiskalten Morgenwind mit einer Gruppe Mitgefangener zur Arbeit davon - die Wächter jagen sie mit den Gewehrkolben. Plötzlich taucht seine Frau in den Gedanken auf:

Ob es Wirklichkeit war oder nicht: Ihr Blick war leuchtender als die aufgehende Sonne. Ein Gedanke durchzuckt mich: zum ersten Mal in meinem Leben sah ich die Wahrheit so, wie viele Dichter sie besungen und viele Weise sie als die endgültige Weisheit beschrieben haben: daß die Liebe das äußerste und höchste Ziel ist, nach dem die Menschen streben können. Ich erfaßte den Sinn des tiefsten Geheimnisses, das menschliche Poesie und menschliches Denken zu vermitteln hat: das Heil des Menschen erfolgt durch die Liebe und mit der Liebe...

Ich verstand, wie ein Mensch, der in dieser Welt nichts mehr besitzt, sich trotzdem glückselig fühlen kann .... In der äußersten Verzweiflung, wenn der Mensch sich durch keine positive Handlung mehr ausdrücken kann, wenn das einzige, was er tun kann, ist, seine Leiden auf rechte Weise zu ertragen, er dennoch die Fülle erleben kann. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich die Bedeutung der Worte "the angles are lost in perpetual contemplation of an infinite glory."

(Viktor Frankl im Observer Magazine, 21. Juni 1992)

"Das Heil des Menschen durch die Liebe und mit der Liebe" - wenige Gedanken sind erhebender als die Entdeckung. daß "Gott die Liebe ist" und daß er eine so intensive Liebe für jeden einzelnen von uns hat, daß dies jenseits der Erfahrung der menschlichen Liebe liegt. Aber die menschliche Erfahrung ist dennoch ein wunderbares Mittel, das wir dazu benützen können, zu erforschen, was "Liebe in Gott" bedeutet. Das "äußerste und höchste Gut", offen für alle, ist es, in den Dialog der Liebe einzutreten, über den die Heiligen und die Mystiker schreiben.

Eine einfache Lebensphilosophie

Diese drei Kindheitserfahrungen - der Gedanke an den Tod, das Streben nach Glück, die Wirklichkeit der Liebe - begannen in mir eine einfache Lebensphilosophie zu formen. Eine Lebensphilosophie, die beinhaltete, daß ich keine bleibende Statt in dieser Welt habe, daß ich wünsche und es nötig habe, glücklich zu sein, und daß das Glück offenbar darin besteht, zu lieben und geliebt zu werden. Keine dieser Erfahrungen lieferte einen überzeugenden Beweis für die Existenz Gottes, aber jede einzelne war gleichwohl und ist noch immer ein Hinweis auf eine andere Form von Leben, das nach dem Tod fortdauert.

Jede einzelne Erfahrung trug in sich einen Schimmer und eine Zusage von einer Existenz, die durch ein ewiges "Jetzt" charakterisiert ist, von einer ekstatischen Freude, verbunden mit der Einheit mit Einem, der unter allen Liebenswürdigen der Liebenswürdigste ist.

Gott als eine Notwendigkeit

Eine vierte Erfahrung war für mich ein gutes Beispiel für den Übergang von einer spekulativen zu einer wirklichen Zustimmung, um Kardinal Newmans Worte über diesen Prozeß zu benützen. Aus meinem Philosophiestudium kannte ich das Argument für Gottes Existenz aus der "Abhängigkeit" und "Zugehörigkeit" (engl. "contingency") heraus. Die Philosophen benützen das Wort "contingent", um auf die radikale Abhängigkeit zwischen einem Geschöpf und einem anderen hinzuweisen. Nichts in unserer Erfahrung ist selbsterklärend oder völlig unabhängig. Wir leben in einer Welt, in der alles "abhängig" ist. Und diese Welt bleibt unerklärt, wenn nicht ein Wesen existiert, das voll und ganz es selbst ist, d.h. ein Wesen, das nicht durch etwas oder jemanden bedingt ist. Erst später kam ich dazu, zu verstehen, was Bedingtheit bedeutet, und war imstande, dem Argument wirklich zuzustimmen.

Ich möchte bezüglich dieses philosophischen Argumentes nicht weiter ins Detail gehen, aber meine Reflexionen über diesen Punkt haben mich dazu gebracht, den Schluß zu ziehen, man könne aus der Wiederentdeckung der Metaphysik und besonders von Thomas von Aquin viel gewinnen. Das primäre Objekt der Untersuchungen der Metaphysik ist das "Sein" als solches, und durch seine Reflexionen darüber arbeitete Thomas die fünf "Wege" heraus, die für ihn auf die Schlußfolgerung hinweisen, daß Gott existiert.

Vieles in der Philosophie unseres Jahrhunderts, auf jeden Fall hier in England, hatte eine Tendenz, den Gedanken an die metaphysische Spekulation lächerlich zu machen. Aber ich habe den Eindruck, daß wir nun einem erneuerten und wachsenden Interesse für solche philosophische Fragen gegenüberstehen. Und einer Anerkennung dessen, daß sie nicht einfach sinnlos sind oder sich auf Fragen der Sprache reduzieren lassen, sondern daß sie ganz im Gegenteil tiefe und echte Anliegen enthalten - etwas, was scholastische Philosophen immer wußten.

Wie glaubwürdig ist religiöser Glaube?

Es ist ungeheuer wichtig, religiösen Glauben als intellektuell glaubwürdig anzusehen, und ich meine, er ist es. Aber unser Glaube wird nicht durch die Vernunft erzwungen. Das Argument für die Existenz Gottes aus der 'contingency' heraus war für mich anziehend und persönlich überzeugend, und dennoch ist es nicht überwältigend genug, um bei allen Zustimmung hervorzubringen. Während ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, fiel mir ein Zitat von George Bracque auf dem Umschlag von Georges Steinbecks Buch Real Presences in die Hände. "Les preuves fatiguent la verité", las ich. Wie übersetzt man das? Beweise oder Argumente verdunkeln die Wahrheit. Oder vielleicht eher so: Beweise können selbst die Wahrheit langweilig machen. Als ich Bracques Wort las, begann ich darüber nachzudenken, wie man sich der Wahrheit durch Intuition und nicht durch etablierte Vernunftsargumente annähern könnte. Dies ist in diesem Zusammenhang wichtig.

Intuition

Intuition ist die Kenntnis oder Zustimmung zu einer Wahrheit, die nicht von dem mühsamen Prozeß abhängt, der logisches Denken heißt. Statt dessen dreht es sich um die Wirkung, die ein Gegenstand oder eine Wahrheit auf den Intellekt ausübt; das plötzliche und spontane Erkennen des Gedankens von etwas oder eher jemandem außerhalb seiner selbst. Ich vergleiche dies manchmal damit, wie Dinge in einem Raum hervortreten, wenn das Licht aufgedreht wird. Sie waren in ihrer ganzen Wirklichkeit da, als alles finster war, aber dem Auge wurde erst klar, daß sie da sind, als das Licht kam. Die Gegenstände werden augenblicklich so erkannt, wie sie sind. Einige ihrer Eigenschaften offenbaren sich auch sofort, ohne daß darauf hingewiesen oder besonders argumentiert werden muß. Vielleicht bedeutet Intuition ganz einfach, ein Licht einzuschalten, einen Schleier zu lüften oder ein Tor zu öffnen, welches bewirkt, daß der menschliche Geist hineingehen und seinen eigentlichen Raum in Besitz nehmen kann.

Schönheit - ein Weg zu Gott

Dies führt mich zu der letzten der fünf Erfahrungen, die ich beschreiben will. Und diese war - vermittelt durch Wordworths Poesie - meine eigene persönliche Erfahrung der Rolle der Schönheit als eine Weise, Gott zu schauen. Ich saß immer noch auf der Schulbank. Ein Teil des Pensums hatte mit englischer Literatur zu tun. Damals war es Mode für die helleren Köpfe unter den Knaben der letzten Gymnasialklasse, T.S. Eliot nicht nur zu lesen, sondern sich auch darüber zu freuen. Es war weniger Mode, zu bekennen, daß man Wordsworth liebte. Dies tat jedoch ich. Die Entdeckung, daß er Gottes Gegenwart in der Natur erleben konnte, formte recht und schlecht meine Einstellung zu allem Geschaffenen um. Im Gedicht Lines composed above Tintern Abbey beschreibt er in hinreißenden Worten seine Erkenntnis, daß die Natur Gottes Gegenwart enthüllen kann:

And I have felt
A presence that disturbs me with the joy
Of elevatetd thoughts; a sense sublime
Of something far more deeply interfused,
Whose dwelling is the light of setting suns,
And the round ocean and the living air,
And the blue sky, and in the mind of man;
A motion and a spirit, that impels
All thinking things, all objects of all thought,
And rolls through all things.

Es begann mir langsam zu dämmern, daß Gott natürlich nicht ein Teil seiner Schöpfung ist, aber daß alles, was existierte, ihm gleichsam seine Existenz verdankte und ihn auch auf eine Weise widerspiegelt, so wie ein Kunstwerk über den Künstler spricht, der es schuf. In allem, was gut und schön ist, ist eine Schimmer dieser göttlichen Eigenschaften - auf verschiedene, aber 'analoge' Weise, wie die Theologen es ausdrücken. Wir ahnen etwas von seiner Herrlichkeit, wir erfassen nur einen Schimmer, aber einen kostbaren Schimmer.

Im Brief an Macolm kommt C.S. Lewis auf dasselbe zu sprechen, auf eine Weise, die ausdrucksvoll und voller Konsequenzen ist. Er schreibt:

Ich war dabei, die weitaus geheimere Lehre zu lernen, daß Freude die Strahlen der Herrlichkeit sind, die unsere Empfindung treffen. Wenn sie unseren Willen oder unser Verstehen treffen, geben wir ihnen andere Namen - Güte oder Wahrheit oder ähnliche. Aber ihre Lichtschimmer, die unsere Sinne treffen, sind Freude.

Aber gibt es nicht schlechte, verbotene Freuden? Bestimmt. Aber indem wir sie "schlechte Freuden" nennen, sind wir da nicht etwas zu voreilig? Was wir meinen, sind "Freuden, die durch verbotene Handlungen erlangt wurden". Äpfel zu stehlen ist schlecht, an den Äpfeln selbst ist nichts Schlechtes. Der süße Geschmack hat immer noch etwas von der Herrlichkeit in sich. Aber das entschuldigt natürlich nicht den Diebstahl. Das macht ihn eher noch schlimmer. Wir haben eine heilige Sache mißbraucht.

Durch Verlieren finden wir

Meine Reflexionen über diese fünf Erfahrungen könnten meine Leser sehr wohl dazu geführt haben, den Schluß zu ziehen, ich beschriebe eine Spiritualität, eine Geistigkeit, die selbstbeschauend, vielleicht sogar egoistisch ist. Dies wäre richtig, hääte es nicht dem Paradoxon gedient, das der eigentliche Kern in der menschlichen Freude ist, nämlich daß wir im Geben die tiefste Befriedigung finden.

Christen werden sich daran erinnern, was der Meister darüber sagte, man müsse sein Leben verlieren, um es wirklich zu finden. Ich glaube, daß uns der Herr durch diese Worte nicht ein Ideal vorgab, das unserer menschlichen Natur widerstreitet; er gab dadurch ganz im Gegenteil Ausdruck für eines seiner grundlegenden Gesetze. Wenn wir dem Wort und dem Gebot des Herrn nicht Raum in unserem täglichen Leben geben, dann erhalten alle häßlichen Seiten unserer Seinsweise freie Zügel - all das, was anderen Schmerzen bereitet und uns selbst unglücklich macht.

(Wird fortgesetzt).

Aus: St. Olav, katholische Zeitschrift für Religion und Kultur, 11-12/98

Übersetzung: Friedrich Griess