Beurteilt Kulte an ihren Früchten

von Alain Woodrow

The Tablet - 29. Januar 2000 - http://www.thetablet.co.uk

Ein scharfes Vorgehen gegen Kulte in Europa könnte die Religionsfreiheit beeinträchtigen, argumentierte letzte Woche unser Warschauer Korrespondent. Eine andere Ansicht hat unser Korrespondent in Paris, der sagt, Kulte sollten beurteilt werden - aber an ihren Taten und nicht an ihrem Glaubensinhalt. Außerdem sollten Gruppen in den Kirchen den selben Überprüfungen unterworfen werden.

Der aktuelle Artikel "Krieg oder Frieden mit Kulten?" in The Tablet der letzten Woche von Jonathan Luxmoore stellt die richtigen Fragen. Wird Europa von gefährlichen religiösen Gruppen überrannt, welche die staatliche Sicherheit und die moralische Gesundheit der Gesellschaft bedrohen? Und sind die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen richtig geplant?

Luxmoore hat kein Problem zu zeigen, daß die Grenze zwischen Sekte und bona fide - Religion unscharf ist und daß in manchen europäischen Ländern evangelikale Christen, protestantische Minderheitskirchen und sogar die anglikanische und die katholische Kirche durch Regierungen verbannt wurden, welche den "nationalen Glauben" in übertriebener Weise schützen wollen. Er brandmarkt auch die Praxis vieler Länder in Osteuropa, willkürlich zwischen "historischen Kirchen" und in neuerer Zeit errichteten, zwischen Mehrheits- und Minderheitsreligionen, zu unterscheiden.

Seine logische Schlußfolgerung lautet: "Daß gefährliche Sekten existieren, kann nicht bezweifelt werden. Aber können Taten einiger weniger betrügerischer dazu benützt werden, um einer gesetzestreuen Mehrheit Zügel anzulegen?" Seine Antwort ist "nein", denn dann gäbe es "nichts, was verhindert, daß durch eifernde säkularisierende Politiker, die unbeirrt jede Religion als antisozial und ungesund betrachten, die gleichen Beschränkungen auch den großen christlichen Gemeinschaften auferlegt würden".

Diesem Punkt kann ich mich nicht anschließen. Verfolgung religiösen Glaubens, ob nun durch eine "historische" Mehrheit oder durch "exotische" Minoritätsgruppen gelehrt, ist tatsächlich abzulehnen. Der Ausspruch Voltaires gilt weiterhin: "Ich bin nicht einverstanden damit, was du sagt, aber ich werde dein Recht, es zu sagen, bis zu meinem Tod verteidigen". Wenn die Anbeter der Zwiebel (ich versichere Ihnen, daß es diese Sekte gibt) es wünschen, die bescheidene Knolle dieser Pflanze zu verehren, dann kann der Staat, als eine neutrale Instanz, sie nicht daran hindern.

Im Kampf gegen die Sekten stehen jedoch nicht ihre Glaubensansichten in Frage, sondern ihre Taten. Wenn sie versuchen, ihre Glaubensansichten anderen durch illegale Mittel aufzudrängen, dann muß der Staat in seiner Rolle als Verteidiger von Freiheit und Demokratie für alle eingreifen.

Kehren wir zur Frage von Luxmoore zurück. Ist Europa durch die neuen Sekten bedroht? Die Gefahr besteht, obwohl sie nicht übertrieben werden sollte. Die meisten religiösen Gruppen machen überhöhte Angaben über ihre Mitgliedschaft und über ihren Einfluß. Die Zahlen sind jedoch irrelevant: Die von diesen Bewegungen benützte Taktik ist tadelnswert und nicht ihre Größe.

Zweitens: Sind die Gegenmaßnahmen, die von den nationalen Regierungen vorgeschlagen werden, richtig geplant? Anders als Luxmoore denke ich, daß Gesetzgebung gegen Sekten, wo sie überhaupt existiert, begrenzt und ängstlich war und zu spät kam. Der Staat hat zu oft die Bedrohung persönlicher Freiheit durch bestimmte totalitäre Kulte ignoriert, entweder aus Unkenntnis, Trägheit oder auf den Rat der großen Kirchen, die entsprechend den Überlegungen von Luxmoore fürchten, ihre berechtigte Handlungsfreiheit würde durch eine solche Gesetzgebung behindert.

In Frankreich kamen die wichtigsten neuen Kulte - die Moonies, Scientology, Hare Krishna, die Kinder Gottes, Soka Gakkai - in den späten Sechziger- und den frühen Siebzigerjahren aus Asien oder den Vereinigten Staaten. Seitdem wurden einige Kultführer durch ihre Opfer mit wenig greifbaren Ergebnissen vor Gericht gestellt. Das Gesetz ist sehr lax und die Kulte haben viele raffinierte Wege gefunden, es zu umgehen.

Im Juni 1997 veröffentlichte ich ein Buch über dieses Phänomen, Les Nouvelles Sectes [Die neuen Sekten] (das erste von vielen, die über dieses Thema erschienen sind) und wurde sofort mit sechs Klagen wegen Verleumdung (drei von der Scientology-Kirche) konfrontiert, von denen ich fünf gewann. Gerichtsverfahren sind die Lieblingswaffe, die von Sekten gegen ihre Verleumder benützt wird. Sie werden zur Drohung und Einschüchterung verwendet, und da die meisten Sekten sehr reich sind, können sie es sich leisten, Verfahren zu verlieren. Auch wenn ein Sektenkritiker seinen Prozeß gewinnt, muß er zahlen, da er nach französischem Recht die Kosten seiner Verteidigung tragen muß, außer wenn er seinerseits die Sekte um Schadenersatz klagt.

Ein anderer Lieblingstrick einer verurteilten Bewegung ist es, unter einem anderen Namen wieder aufzutauchen. Im November 1977 wurden vier Scientology-Führer, einschließlich des Gründers Ron Hubbard, wegen Betrugs durch ein französisches Gericht zu Gefängnis und hohen Geldstrafen verurteilt. Nur einer von ihnen, damals der Chef der Scientologen in Frankreich, erschien zur Verhandlung und wurde später freigesprochen, da er "in gutem Glauben" gehandelt habe. Die Bewegung änderte ihren Namen auf Eglise de la Nouvelle Comprehension (Kirche des neuen Verständnisses) und gründete eine Anzahl von Unterorganisationen.

Während der zahlreichen Konferenzen und Debatten, die der Veröffentlichung meines Buches folgten, war die von allen Zuhörerschaften (Schulen, Pfarren, Krankenhäusern,, Militär, Kulturklubs, Freimaurer, Fernsehdiskussionen) gestellte Frage zweifach: Wie definieren Sie eine Sekte und was ist einerseits der Unterschied zwischen einer Sekte und einer Kirche und was kann andererseits getan werden, um die gefährlichen Sekten zu bekämpfen?

Auf die erste Frage gibt es keine klare Antwort. Das Wort "Sekte" kommt vom lateinischen sequor, folgen, eine Herleitung, die durch secare, abschneiden, beeinflußt ist, und bedeutet eine sich abspaltende Gruppe von Leuten mit einem gemeinsamen Glauben, die einem charismatischen Leiter folgen. Aber das Wort hat eine negative Bedeutung angenommen und wird von den großen Kirchen benützt, um jene zu beschreiben, die sie als häretische Dissidenten betrachten. Dieses belastete Wort sollte mit der größten Vorsicht und nur in seinem streng neutralen soziologischen Sinn benützt werden und man sollte immer klar zwischen der Lehre und den Aktivitäten einer Bewegung unterscheiden. Die erstere ist einzig und allein eine Angelegenheit der gläubigen Gemeinschaft und kann in einer freien Gesellschaft nicht durch den Staat zensiert werden, die letzteren sind Angelegenheit des Staates und müssen mit den Gesetzen übereinstimmen.

Der Unterschied zwischen "Sekte" und "Kirche" ist ebenso schwer erfaßbar. Jede Kirche begann als Sekte, und jede Sekte strebt danach, eine Kirche zu werden. Die christliche Kirche selbst war im Judentum eine Sekte (Apg 24,14). Wenige religiöse Bewegungen sind ganz gut oder ganz schlecht, die meisten haben ihre Heiligen und ihre Sünder, ihre treuen Gläubigen und ihre Scharlatane. Die Geschichte der katholischen Kirche ist z.B. wechselvoll. Von einer verfolgten Minderheit wurde die Kirche zu einer verfolgenden Mehrheit und erreichte den Gipfel der Intoleranz mit einer gut ausgebildeten geheimen Polizei (der Inquisition), um Abweichler aufzuspüren und zu verurteilen.

Der einzige objektive Weg, heute Kirche von Sekte zu unterscheiden, ist die Anwendung des Lackmus-Tests: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Die meisten dieser totalitären Bewegungen benützen Marketingmethoden, um neue Mitglieder zu rekrutieren: Werbung in den Straßen, Belästigung von Tür zu Tür, Verheimlichung der wahren Natur (oder sogar des Namens) der Sekte. Später bestehen sie im Allgemeinen darauf, daß der Neubekehrte einen klaren Bruch mit seiner Vergangenheit, seiner Familie, seinen Freunden und seinem Job vornimmt. Die neuen Sekten haben perfekte intensive Indoktrinationstechniken, die an Gehirnwäsche grenzen: Nahrungs- und Schlafentzug, intensive Kurse, ständige Überwachung, Furcht und Drohungen für jene, die versucht sind, die Gruppe zu verlassen.

Die strikte Disziplin der meisten Sekten sichert ihnen ein gelehriges und bewegliches Arbeitskräftepotential. Je stärker die Kritik von außen ist, umso größer ist auch der Bedarf für internen Zusammenhalt und quasimilitärischen Gehorsam. Die Bewegung wird zu einer belagerten Zitadelle, die gegen eine feindliche Welt kämpft, welche oft mit Satan identifiziert wird. Dieser blinde Gehorsam, begründet auf Denunziation und einem gefinkelten System von Strafen, kann zu solchen Tragödien führen wie der Massenselbstmord von Jonestown in Guyana oder die neuliche Katastrophe der Sonnentempler-Sekte in der Schweiz. Geldbeschaffung scheint die fixe Idee der extremeren Kulte zu sein. Ihre ganze Aktivität ist offenbar auf dieses Ziel ausgerichtet: Sammlungen in den Straßen, Einziehung aller irdischen Güter neuer Rekruten, das Geldverdienen für die Sekte ohne Bezahlung - Geld, das ausschließlich für das Wachstum und die Ausbreitung der Bewegung benützt wird, die wie eine multinationale Firma geführt wird, und die Finanzierung des luxuriösen Lebensstils ihrer Führer. Meines Wissens gibt keine Sekte einen einzigen Penny für jemanden außerhalb ihrer Grenzen aus, während die Kirchen viele wertvolle Wohlfahrtseinrichtungen finanzieren, um allen zu helfen, die es nötig haben, unabhängig von ihrer Religion.

Das Verhalten von Kultmitgliedern gegenüber ihrem Gründer und charismatischen Leiter, sei es Jim Jones, Moses David, Sun Myung Moon, Ron Hubbard, der Maharishi oder die vielen anderen orientalischen Gurus, welche ihre Faszination auf spirituell ausgehungerte Westler ausüben, ist gewöhnlich fanatisch und beinhaltet völlige Unterwerfung, ungesunde Anbetung und eine Aufgabe der Verantwortlichkeit. Was kann getan werden, um gegen die gefährlichen Sekten zu kämpfen? Das Dilemma ist, daß diese totalitären Bewegungen zynisch die Freiheit benützen, die ihnen eine demokratische Gesellschaft bietet, um ihre eigenen Ziele zu fördern, und die Versuchung ist groß, sie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Der französische Verfasser Roger Ikor, dessen Sohn sich einer makrobiotischen Sekte anschloß und an falscher Ernährung starb, schrieb ein leidenschaftliches "J'accuse" ("Ich klage an"), um zu erklären, warum er bereit sei, das "Prinzip der Freiheit aufzugeben", um "der Verrücktheit der Sekten ein Ende zu bereiten".

So geht es offenbar nicht. Der Zweck kann nie die Mittel rechtfertigen, wenn auch die traditionelle thomistische katholische Theologie den Gebrauch extremer Methoden in extremen Fällen zuläßt, wie die Anwendung der Revolution und von Kriegen, um eine ungerechte Tyrannei niederzuwerfen. Es gibt wenig vorhandene Waffen, aber sie sind nicht unwirksam. Ersten gibt es einen schreienden Bedarf an Information. Sekten gedeihen durch Geheimnistuerei und Tatsachenverdrehungen. Sie müssen bloßgestellt werden. Die Presse hat eine vitale Rolle zu spielen und in Frankreich wird die Öffentlichkeit ständig über die neuen Kulte informiert. Dies bedeutet keine Hexenjagd oder verdeckte Verurteilung religiöser Bewegungen, wie Luxmoore fürchtet, sondern eine detaillierte Abrechnung mit Einzelfällen.

Zweitens müssen bestehende Gesetze vollständig angewendet werden. Das Gesetz verurteilt Betrug, obwohl dieser oft schwer zu beweisen ist, besonders wenn die zu verkaufenden Güter spiritueller Natur sind. Artikel 405 des französischen Strafgesetzes definiert Betrug als "Abnötigen von Geld durch falsche Versprechungen, Lügen und betrügerische Praktiken". Aber es gibt auch bestehende Gesetze gegen Steuerhinterziehung und Kapitalexport (die Sekten behaupten, Non-Profit-Vereinigungen zu sein, senden aber oft große Geldbeträge an ihre auswärtigen Muttergesellschaften) oder zugunsten begrenzter Arbeitszeit (die gegenwärtige französische Regierung hat soeben für eine Verminderung auf 35 Wochenstunden gestimmt), für einen Mindestlohn, anständige Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit - all dies könnte die Aktivität der gewissenloseren Sekten zügeln.

Wenn eine Organisation die Grenze überschreitet, indem sie zu illegalen Praktiken Zuflucht nimmt, dann hat der Staat die Pflicht, einzugreifen. Und die neuen Kulte machen sich oft schuldig durch Praktiken wie die Beschäftigung ihrer Mitglieder ohne Lohn oder Sozialversicherung, Isolation von der Außenwelt, Absonderung von Kindern, die in der Sekte geboren sind, Belästigung oder Bestechung von Gegnern, Täuschung über die wahre Natur der Sekte und Unterwanderung öffentlicher Körperschaften unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Mitglieder von Kirchen und religiösen Gruppen eigener Gnaden, die Opfer solcher Praktiken wurden, haben die gleichen Rechte wie jeder andere Bürger, vor Ausbeutung geschützt zu werden, auch wenn sie großjährig sind und der Gruppe freiwillig beitraten. Alle sind vor dem Gesetz gleich.

Und es gibt keinen Grund, gegenüber etablierten Kirchen mehr Nachsicht zu zeigen als gegenüber neuen Sekten. Es besteht die Gefahr, daß einige der neuen konservativen Bewegungen in der katholischen Kirche versucht sein könnten, zu denselben Methoden Zuflucht zu nehmen, die von Sekten benützt werden - Geheimnistuerei, Personenkult, exzessive Autonomie bezüglich der Hierarchie - und solche Mißbräuche sollten bloßgestellt und bereinigt werden. Es ist die Praxis einer religiösen Gruppe, die geprüft werden muß, nicht die Lehre, die sie predigt.

Übersetzt aus FAIR NEWS ISSUE 2 - 2000 von Friedrich Griess