Jehovas Zeugen und Kindererziehung

Von Kjell Totland, Psychologe

1. EINLEITUNG

Das Thema dieses Artikels ist es, sich mit Problemen zu beschäftigen, in die Kinder geraten können, wenn sie in einer Glaubensgemeinschaft wie den Zeugen Jehovas aufwachsen. Die Beurteilung stützt sich hauptsächlich darauf, was die Wachtturmgesellschaft selbst in ihren Zeitschriften (z.B. „Wachtturm“ - VT - und „Erwachet!“) vermittelt, aber aus Platzgründen werde ich ihre Schriften wenig zitieren.

Für den Leser ist es wichtig, folgendes zu beachten: was hier geschrieben wird, ist nicht als Beschreibung dessen gedacht, wie es allen Kindern bei den Zeugen Jehovas geht. Es ist in erster Linie eine Beschreibung davon, welche Art von Leben die Wachtturngesellschaft von den Mitgliedern einschließlich der Kinder erwartet, oder wie sie meint, dass sie leben, wie es aus ihren Veröffentlichungen hervorgeht. Dies ist das Zentrale in diesem Artikel. Das bedeutet also nicht, dass die Kinder notwendiger Weise so leben, wie es in den Zeitschriften dargestellt wird. Es ist daher auch nichts Außergewöhnliches, wenn z.B. aktive Mitglieder der ZJ sich in dieser Beschreibung nicht wieder erkennen sollten und dem, was ich schreibe, mit „Unverständnis gegenüberstehen“ (Furuli, R. 2001) 

2. WAS VERTRETEN DIE  ZEUGEN JEHOVAS

1. Theologie

1.      Im Mittelpunkt der Lehre der ZJ steht die Sicht von den letzten Zeiten: Innerhalb ganz kurzer Zeit rechnet die Wachtturmgesellschaft damit, dass eine allumfassende Katastrophe mit dem darauf folgenden jüngsten Gericht (Harmagedon) eintreten wird. Wer nicht Zeuge Jehovas ist, hat garantiert wenig Ursache, diesem Ereignis optimistisch entgegen zu sehen, denn nur die Zeugen Jehovas werden Harmagedon überleben. Indessen erweist sich, dass auch die Mitgliedschaft selbst nicht ausreicht. Der Eifer des einzelnen Mitglieds hat auch Bedeutung. Mit anderen Worten, keiner (ausgenommen die so genannten 144.000 Auserwählten) kann eigentlich ganz sicher sein, was mit ihm geschehen wird. Ein Problem ist hier, dass die Verkündigung der Wachtturmgesellschaft sehr auf Harmagedon konzentriert ist, auch bezüglich der Kinder. Die Wachtturmgesellschaft hat in ihrer Literatur ein gemeinsames Ziel für alle Zeugen Jehovas formuliert, und für Kinder wird keine Ausnahme gemacht - nämlich für Jehova zu leben, Seinen Geboten zu folgen und andere Menschen vor Harmagedon zu warnen. “The nearness of Armageddon is the overriding concern of many young people. JW kids think about it often, especially in our days when bad news almost seem to be the only news in this world. Wars, famine, pestilence, pollution, etc. are brought to the attention of their young minds as proof we are on the very edge of the End” (“Enjoy Life on Earth Forever” 1982, S. 28).

2.      Das Argument von einem bald bevorstehenden Harmagedon bewirkt, dass man erwartet, auch „kurzzeitigem Genuss“ zu entsagen, der für Menschen in den meisten anderen Kulturen eher als „natürliches Bedürfnis“ für Kinder betrachtet wird, z.B. verschiedene Formen von Zerstreuung. Kindern kann auch erzählt werden, dass sie Gefahr laufen, ihre Liebsten (die Eltern) zu verlieren, wenn nicht die ganze Familie „dabei“ ist und die Kinder ihren Beitrag dazu leisten, um die Loyalität der Familie zu den ZJ zu bewahren und die Zukunft der Familie zu sichern. Es ist ziemlich einleuchtend, dass dies einem Zeugen-Jehovas-Kind Schwierigkeiten bereiten wird. Wer möchte für immer von seinen Eltern getrennt werden oder dafür verantwortlich sein, dass seine Eltern verloren gehen, weil man sie nicht zeitgerecht warnte?

3.      Die Wachtturmgesellschaft denkt auch schwarz-weiß: Entweder man steht auf der Seite Gottes, indem man ein aktiver Zeuge Jehovas ist, oder man steht auf der Seite Satans, indem man ein kritisches oder überhaupt kein Mitglied ist (eine Ausnahme ist hier eine Gruppe mit passiven oder „schwachen“ Mitgliedern). Mit anderen Worten, man treibt den Gedanken zum Extrem, dass „die, die nicht mit uns sind, gegen uns sind“. Solches Schwarz-Weiß-Denken, auch „kategorisches Denken“ genannt, kann verhindern, dass Kinder ein nuanciertes Denken über sich selbst und über andere Menschen erlangen, und dass sie anderen Menschen begegnen und sie von ihren eigenen Voraussetzungen aus beurteilen können. Dieses Denken kann auch dazu beitragen oder dazu führen, dass die Kinder bei den Zeugen Jehovas „abseits“ von anderen Kindern leben. Gleichzeitig können Glaubensgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas für Personen attraktiv sein, die bereits von Vornherein eine kategorische Einstellung haben, und denen man daher eine „Plattform“ bietet, von der aus sie ein Schwarz-Weiß-Denken weiter vermitteln können. Entsprechendes gilt auch für andere Besonderheiten von Glaubensgemeinschaften, die Menschen mit Persönlichkeitszügen anziehen können, die in die Kultur der Glaubensgemeinschaft hineinpassen. 

2. Familienleben

Die starke Loyalität, die gegenüber der Organisation erwartet wird, bringt es auch mit sich, dass die Organisation die Hauptverantwortung für die Kindererziehung hat und die Pflichten und Rechte der Eltern den Kindern gegenüber in Wirklichkeit beträchtlich reduziert sind. Auch wenn die Wachtturmgesellschaft in ihrer Literatur im Großen und Ganzen darauf hinweist, dass Kindern ihren Eltern gegenüber loyal sein und sich unterordnen sollen, handelt es sich doch um eine von der Wachtturmgesellschaft delegierte Autorität. In dem Augenblick, in dem Kinder merken, dass ihre Eltern der Wachtturmgesellschaft gegenüber nicht loyal sind, sind sie verpflichtet, dies der örtlichen Leitung mitzuteilen. Es wird auch erwartet, dass sie sich von Familienmitgliedern isolieren, die z.B. ausgeschlossen sind.

Für Kinder kann die Pubertät eine schwierige Zeit sein. Ein gewisses Maß an „Aufruhr“ gegen die Eltern im Alter von 14-16 Jahren ist normal und ist außerdem notwendig, um eine erwachsene selbständige Identität zu entwickeln. Über diese Art von „Aufruhr“ wurde, soweit ich feststellen konnte, bisher in der Wachtturmgesellschaft nicht positiv gesprochen. Jugendliche, welche gegenüber ihren Eltern „Aufruhr“ begehen, werden Leuten gleichgestellt, die Aufruhr gegenüber Jehova begehen, da die Eltern eine von der Wachtturmgesellschaft und von Gott delegierte Autorität erhalten haben, sie zu erziehen. Außerdem vermittelt die Wachtturmgesellschaft die Ansicht, alle Eltern bei den Zeugen Jehovas hätten gegenüber ihren Kindern Fürsorge und Selbstaufopferung erwiesen oder hatten dies zumindest beabsichtigt. Auf dieser Grundlage wird die Jugend aufgefordert, ihre Eltern zu respektieren und niemals ihre Motive infrage zu stellen. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Wachtturmgesellschaft so naiv ist zu meinen, dass Eltern gegenüber ihren Kindern niemals etwas falsch machen oder dass sie niemals „zweifelhafte Beweggründe“ haben könnten, zumal ihre Zeitschriften auch Lesestoff für die Eltern darüber enthalten, ihre Kinder liebevoll und respektvoll zu behandeln. Aber die Pointe ist, dass die Wachtturmgesellschaft offenbar der Ansicht ist, man müsse auf die edlen Absichten der Eltern entscheidendes Gewicht legen. Außerdem entstehe nichts Gutes, wenn Kritik von jugendlicher Seite ernst genommen wird. Ihre Organisation und Lehre ist auch nicht imstande, mit den komplexen Problemen umzugehen, die entstünden, wenn man Jugendliche in ihrer Kritik gegenüber den Eltern unterstützen wollte. Das Einfachste (aber der Wachtturmgesellschaft zufolge auch das „biblischeste“) ist also, die Jugendlichen aufzufordern, sich ihren Eltern unterzuordnen, ohne Rücksicht darauf, wie diese sind (VT 15.5.97, S, 28).

Was die Haltung von Teenagern ihren Eltern gegenüber betrifft, so sagt die Wachtturmgesellschaft: (VT 15.5.97, S,. 28): „Einige Jugendliche bezweifeln die Motive, wenn die Eltern ihnen gewisse Begrenzungen auferlegen. Einige der Jugendlichen sagen vielleicht: ‚Warum stellen meine Eltern so viele Regeln auf? Sie wollen wohl nicht, dass ich mich über das Leben freue.’ Aber statt eine solche Schlussfolgerung zu ziehen, sollten die Jugendlichen die Situation objektiv durchdenken. Die Eltern sorgten viele Jahre hindurch für ihre Kinder. In dieser Beziehung haben sie in materieller und anderer Hinsicht viele Opfer gebracht. Ist dies nun ein Grund, den Schluss zu ziehen, sie wollten nun das Dasein ihrer Teenager-Kinder verpesten? Ist es nicht billiger, anzunehmen, dass die Liebe diese Eltern dazu treibt, ihre Kinder zu beschützen und sich für sie zu interessieren? Wird nicht die gleiche Liebe sie dazu bewegen, ihnen gewisse Restriktionen aufzuerlegen, wenn diese im Leben nun vor neuen Herausforderungen stehen? Es wäre wirklich lieblos und undankbar von den Kindern, liebevollen Eltern ungerechte Beweggründe zu unterstellen - Eph 6,13.“

3. Persönlichkeitsentwicklung

1.      Diese geht darauf hinaus, dass Kinder so früh wie möglich zu einem Teil der Kultur werden sollen, die man bei den ZJ findet. Eine Weise, dies zu tun, ist es, sie so zeitlich wie möglich mittels der von den ZJ verfassten Literatur anzuregen. Ein Beispiel dafür ist das folgende Zitat aus Erwachet! Nr. 1/2008. Auf der Rückseite dieses Blattes wird für ein Buch mit dem Titel „Beliebter als Spielzeug“ geworben: „Ist es möglich, dass kleine Kinder ein Buch gegenüber einem Spielzeug bevorzugen? Ja sicher, wenn die Eltern ihnen Bücher gezeigt haben, seitdem sie Säuglinge waren. Mebrathu und Angela, ein Ehepaar in Kalifornien, begannen ihrer Tochter aus dem Buch Höre auf den großen Lehrer schon vorzulesen, als sie aus der Geburtsklinik heimkamen. Die Eltern schreiben: „Dies hat dazu geführt, dass sie dieses Buch liebt. Schon mit zwölf Monaten begann Julianna uns aufzufordern, ihr aus dem Buch vorzulesen, das sie Jesusbuch nannte. Nun ist sie drei Jahre alt und sehnt sich nach den gemütlichen Zeiten, die sie täglich mit Mama oder Papa hat. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass unsere Tochter dieses Buch lieber hat als irgendein Spielzeug.“ Dies ist, so wie ich es sehe, ein gutes Beispiel für eine Seite der Kindererziehung der ZJ, die Außenstehende für negative religiöse Indoktrination halten mögen. Die ZJ selbst fassen dies jedoch als eine natürliche Maßnahme auf, damit das Kind an jener Weltanschauung teilhaben soll, die sie selbst für wertvoll und daher wichtig für andere (und nicht zuletzt für ihre eigenen Kinder!) halten.

2.      Den höchsten Status erhält ein Kind bei den ZJ, wenn es sich dazu entwickelt, ein „Pionier“ zu werden. Das beinhaltet, dass das Kind von ganz klein an die Erwachsenen bei Hausbesuchen begleitet und diese nach und nach selbständig fortsetzt (oft bis zu 15 Stunden wöchentlich). Außerdem wird erwartet, dass das Kind an der standardisierten Tätigkeit mit fünf Versammlungen, verteilt auf drei Abende in der Woche, teilnimmt. Diese Versammlungen sind nicht speziell auf Kinder abgestimmt. Von ganz klein an müssen sie auf dem Schoß ihrer Eltern stillsitzen und unzensuriert das aufnehmen, was eigentlich für Erwachsene bestimmt ist. Aber der Ordnung halber: Die Wachtturmgesellschaft hat zusätzlich ein etwas „freundlicheres“ Material ausgearbeitet, das auf Kinder abgestimmt ist und von dem erwartet wird, dass die Eltern es bei ihrer Unterweisung der Kinder benützen (Beispiel: „My Book of Bible Stories“).

3.      Die Kultur der Versammlungen beinhaltet auch, dass das Kind vielem anderen Wichtigem entsagen muss: Für Hobbys und Freiheitsinteressen bleibt wenig Zeit. Auch wenn den Kindern nicht direkt abgeraten wird, dort mitzutun, wird ausdrücklich auf die Gefahren dabei aufmerksam gemacht: In dem Augenblick, in dem man Hobbys und Interessen pflegt, die gleichwertiges Zusammensein mit „anderen“ Kindern auf gleichwertigen Voraussetzungen bedeuten, begibt man sich auf „dünnes Eis“. Man könnte nämlich auf die „Welt“ neugierig werden und durch den Umgang mit denen „außerhalb“ könnte man durch sie zu stark geprägt werden. „Es darf keine Gemeinschaft ..... mit den Irrgläubigen geben. Man darf mit anderen Worten keine Gemeinschaft mit ihnen haben, wenn man Gemeinschaft mit Gott haben will. - Jemand, der regelmäßig mit ihnen verkehrt, wird bald so denken, wie sie denken. Wenn man sein Bewusstsein mit ihren Gedanken beschäftigt, wird der Glaube an die neue Welt geschwächt, der Eifer wird abkühlen, die Untadeligkeit wird zerbrechen und das Gewissen abstumpfen, sodass man Jehovas Forderung nach Studium und Dienst nicht mehr ernst nimmt“ (VT 1.6.60, S. 299, auch berichtet in WT 15.2.60, S. 112-113). “The ideal situation is for parents to have such a fine program outlined for their children that little or no time remains for outside associations. Being with the family or other Christians becomes so interesting and absorbing that other associations do not become a temptation. But if they do, then parents should take time to make clear to the child the Bible’s viewpoint on the matter; at the same time they should firmly exercise needed control” (WT 1.2.74).

4.      Kinder bei den ZJ, welche fühlen, dass es gut ist, mit Kindern außerhalb beisammen zu sein, werden daher zusätzlich belastet: Dies muss vor der lokalen Leitung und eventuell auch vor den Eltern geheim gehalten werden. Denn offiziell müssen sie die Haltung haben, dass ihre „Freunde“ in erster Linie „Missionsobjekte“ sein müssen. „Wie würde Jehova es sehen, wenn du Menschen, die ihn nicht lieben, als Freunde wähltest?“ („Unterredungen anhand der Schriften“ , S. 417).

5.      Früher wurde auch vor höherer Ausbildung gewarnt, denn man musste dabei damit rechnen, „in eigenen Gedanken klug zu werden“ und „von der Welt eingefangen zu werden“. Später wurde diese Ansicht revidiert (siehe z.B. „Erwachet!“ vom 8.3.98, S. 19-21), u. a. mit dem Argument, nicht anderen Leuten wirtschaftlich zur Last zu fallen und die Fähigkeiten zu benützen, die man hat.

4. Soziale Entwicklung:

1.      Kinder bei den ZJ haben den Vorteil, dass sie lernen können, innerhalb ihres eigenen Wertesystems zu funktionieren, aber es wird dem wenig Beachtung geschenkt, wie sie in anderen Zusammenhängen funktionieren sollen, speziell von den Voraussetzungen dieser Zusammenhänge aus, darüber hinaus, dass sie trotz allem in die „Welt“ hinausgehen, dort einen Beruf ausüben und Geld verdienen sollen, und dass sie eine Reihe von taktischen Maßnahmen lernen müssen, wenn sie in der „Welt“ sein sollen. Das kann man fast mit Menschen vergleichen, die in einem Staat leben sollen, der von einer fremden Macht okkupiert und kontrolliert wird, deren Widersacher sie sind. So erhalten sie wenig Lebenserfahrung, um mit anders denkenden Menschen auf gleichwertige Weise umzugehen. Sollten sie sich später als Erwachsene dazu entschließen, die Glaubensgemeinschaft zu verlassen, so können sie in Schwierigkeiten kommen. Wenn sie Glück haben, finden sie eine andere Zugehörigkeit, wo sie eine neue Identität etablieren können. Haben sie kein Glück, dann bleiben sie isoliert, werden etablierte „Outsider“ und können unter psychischen Problemen zu leiden haben (z.B. eine unbearbeitete Trauer darüber mit sich zu tragen, sie hätten etwas Wertvolles verloren).

2.      Es ist eine andere Denkweise als die sonst in unserer Kultur übliche, nämlich dass die Kindererziehung eine Grundlage für eine eigene selbständige Wertewahl als Erwachsene bilden soll, gleichgültig ob es die der Eltern ist oder nicht. Bei den Zeugen Jehovas riskiert man, ausgeschlossen zu werden, wenn man einen anderen Kurs wählt als den, den man gelernt hat, und die Zeugen Jehovas werden von der Wachtturmgesellschaft sogar aufgefordert, die Ausbrecher zu hassen, unabhängig von früheren Freundschaften und Familienbanden. Man kann hier auch erwähnen, dass die Wachtturmgesellschaft ein eigenes „geschlossenes“ System haben, das sowohl „Polizeinachforschung“ als auch „Urteilsfällung“ bezüglich unmoralischer Handlungen handhabt, eine Erscheinung, die man auch in totalitären Regimen findet.

3.      Die Wachtturmgesellschaft hat übrigens keine Perspektive darüber, dass Anpassung an die Gesellschaft ein Ziel an sich ist. Sie hat jedoch eine positive Sicht bezüglich Seiten der „Welt“, die als „Obrigkeit“ aufgefasst werden, z.B. das öffentliche Schulwesen (das Allgemeinwissen vermittelt), die Polizei und das Rechtswesen, welche „das Böse in Schach halten“, und in einem gewissen Maß auch die öffentlichen Hilfseinrichtungen. Andere Seiten sehen sie eher negativ. Von Zeugen Jehovas wird niemals erwartet, an politischer Arbeit teilzunehmen oder bei Wahlen abzustimmen. Auch Kinder und Jugendlichen ist nicht erlaubt, z.B. an Wahlen zu Schülerräten teilzunehmen (Ringnes 1997, S. 73).

5. Setzung von Grenzen

1.      Die Wachtturmgesellschaft hat früher die physische Bestrafung in der Kindererziehung empfohlen (VT 12.1.64 S. 13). Nachdem diese Frage neulich von der Kinderombudschaft in Norwegen zur Sprache gebracht wurde, hat sich die Wachtturmgesellschaft (in Norwegen) bereit erklärt, den Begriff „Züchtigung“ zu „Rüge“ zu mildern und sich dadurch der physischen Bestrafung zu enthalten.

2.      Es wird erwartet, dass Minderjährige disziplinären Maßnahmen wie Erwachsene unterworfen werden, wenn es sich um schwerwiegende Übertretungen handelt: „Wenn minderjährige getaufte Mitglieder der Versammlung ernste Sünden begehen, soll man dies den Ältesten mitteilen. Wenn die Ältesten Fälle von ernsten Sünden Minderjähriger untersuchen und behandeln, wird es gut sein, wenn die eingeweihten Eltern der Minderjährigen zur Stelle sind und mit den Ältesten zusammenarbeiten, die die Angelegenheit beurteilen sollen. Die Eltern sollen nicht versuchen, das sündige Kind vor notwendigen disziplinären Maßnahmen zu ‚beschützen’. Die Ältesten, die im Urteilsausschuss während der Behandlung von Angelegenheiten, die Minderjährige betreffen, Dienst tun, werden auf gleiche Weise vorgehen, wie wenn sie es mit erwachsenen Übertretern zu tun haben, nämlich bestrebt sein, den Betreffenden wieder aufzurichten. Wenn aber der Minderjährige keine Reue zeigt, wird er ausgeschlossen“ („Organisiert, um unseren Dienst zu erfüllen“ 1983, S. 151-152). Übrigens wird erwartet, dass die Eltern der Kinder bei der Offenlegung der Ursachen und bei den Maßnahmen für Minderjährige eine aktive Rolle spielen: „Wenn der ungetaufte Verkünder als Übertreter minderjährig ist, sollten die Ältesten mit seinen christlichen Eltern sprechen, um darüber ins Reine zu kommen, was sie tun sollen, um den Übertreter zu korrigieren“ (Gebt acht auf euch selbst und die ganze Herde, S. 100).

3.      Es ist auch normale Haltung unter ZJ-Mitgliedern, dass Kleinkinder so bald wie möglich reinlich sein müssen, auch wenn die physischen Voraussetzungen dafür noch nicht ganz vorhanden sind. “If anything, they would try to toilet train before the child is ready” (Bergman 1992, S. 230). In diesem Zusammenhang kann man erwähnen, dass man in der psychoanalytischen Tradition gewöhnlich zu frühes Reinlichkeitstraining als einen Risikofaktor für spätere psychische Probleme, auch im Erwachsenenalter, betrachtet hat.

4.      Gleichzeitig zeigt es sich, dass auch die Wachtturmgesellschaft dafür Verständnis zeigt, dass manche Kinder Schwierigkeiten haben, „für die sie nichts können“. Z.B. schreiben sie im Themenheft von „Erwachet!“ (2.2.97, S. 10) über Kinder mit Lernproblemen und Kinder mit AD/HD[1]-Schwierigkeiten (Kinder, die durch ihre Unruhe und Impulsivität viel Aufmerksamkeit beanspruchen): „Die Mitglieder der christlichen Gemeinde können viel tun, um sowohl Kindern als auch Eltern zu helfen und sie zu unterstützen. Wie: Indem sie angemessene Erwartungen haben (Phil 4.5). Es kann wohl geschehen, dass ein Kind mit AD/HD ziemlich aufsässig wird. Statt herzlos zu sagen: „Warum kannst du deinem Kind nicht Benehmen beibringen?“ oder „Warum packst du es nicht härter an?“, wird ein aufmerksamer Glaubensgenosse verstehen, dass die Eltern vielleicht schon mehr als genug mit der herausfordernden Aufgabe belastet sind, ein AD/HD-Kind zu erziehen. Die Eltern sollten natürlich tun, was sie können, um des Kindes unruhiges Benehmen zu besänftigen. Dessen ungeachtet sollten jene, die im Glauben verwandt sind, sich bemühen, ‚Mitgefühl zu zeigen’ und ‚Segen zu bringen’, statt gereizt etwas Scharfes zu sagen.“

5.      Dasselbe Themenheft befasst sich auch ganz allgemein mit der Frage der Lernprobleme auf eine Weise, die damit übereinstimmt, wie Fachleute gewöhnlich denken, die sich mit solchen Problemen gut auskennen. Die Wachtturmgesellschaft ist auch darauf aufmerksam, dass Erwachsene Leseprobleme haben können: „Manche christliche Männer, die gut reden können, haben Schwierigkeiten, laut zu lesen“ (VT 15.3.99. S.20).

6.      Es ist auch wert sich zu merken, dass die Wachtturmgesellschaft eine wachsende positive Haltung gegenüber den Möglichkeiten einnimmt, die in den öffentlichen Hilfseinrichtungen liegen. In einem Artikel in „Erwachet!“ (22.3.99, S. 11) steht z.B. in Verbindung mit den Großeltern als Stütze bei der Kindererziehung: „Übersieh nicht die Hilfe, die du von der öffentlichen Hand erhalten kannst ..... Sozialarbeiter und örtliche Einrichtungen, die Älteren helfen, können dich vielleicht an jemanden verweisen, der gewisse Dienste leisten kann.“

6. Feste

Es ist bekannt, dass die Zeugen Jehovas keine Feste wie Weihnacht, Ostern oder Geburtstag feiern. Hier ist ein Beispiel dafür, wie der Wachtturm in einem Artikel mit der Überschrift Weihnacht - Kostet es mehr als du glaubst? über Weihnachtsfeiern schreibt („Erwachet!“ 22.11.93 S. 5).

„Die Zeugen Jehovas werden manchmal kritisiert, weil sie nicht Weihnachten oder andere Feste gemeinsam mit ihrer Familie feiern. Andere können den Eindruck erhalten, den Kindern der Zeugen Jehovas entginge etwas ... Und diese Kinder entwickeln eine starke moralische Haltung, die bewirkt, dass sie den Druck Gleichaltriger widerstehen können, die den Willen anderer brechen. Eine wachsende Flutwelle von Bosheit untergräbt moralische Haltungen. Sexuelle Unmoral, Narkotika, Gewalt, Alkohol, Satanismus und Kindesmisshandlung - es gibt so viele Gefahren, welche verletzliche junge Menschen bedrohen.“

Wie erleben es Kinder bei den Zeugen Jehovas, die gelernt haben, das Feiern solcher Feste sei als Unmoral und Sünde aufzufassen? Wie erlebt es ein Kind, das sieht, dass „alle anderen“ sich darüber freuen? Wie erlebt man es, wenn man selbst Bedarf dafür hat, sich gemeinsam mit anderen auf natürliche Weise zu freuen, aber gleichzeitig von den eigenen Leuten vor der Unmoral und Sünde gewarnt wird? Schafft es da ein Kind, sich in Gehorsam gegenüber der Organisation Jehovas zu „stählen“? Stärkt dies den Zusammenhalt innerhalb der Familie des Kindes? Schafft es das Kind, auf natürliche Weise auf seinen eigenen Lebensstil stolz zu sein? Oder: Muss das Kind seine gefühlsmäßigen Bedürfnisse verdrängen? Kann das Kind Schamgefühle und Schuldgefühle für etwas entwickeln, was die Kultur ansonsten als ganz natürliche Sache erlebt? Muss das Kind ein Doppelleben führen, in dem es sich weder gemeinsam mit seiner Familie noch mit seinen Kameraden natürlich verhalten kann? Kann mit anderen Worten eine solche Verkündigung einem Kind bei den Zeugen Jehovas psychische Probleme bereiten? Wenn ja: Wie umfassend sind diese Probleme?

7. Ergebnis

Selbstverständlich besteht eine Gefahr darin, kategorisch und bombastisch zu sein. Aber nachdem ich die Literatur der Wachtturmgesellschaft studiert habe, meine ich, diese sei eine Grundlage dafür, zu behaupten, gewisse Seiten der Verkündigung der Wachtturmgesellschaft und gewisse Seiten dessen, was die Zeugen Jehovas als Eltern praktizieren, könne zu psychischen Problemen bei Kindern führen oder dazu beitragen. Aber die Zusammenhänge sind kompliziert, von Kind zu Kind verschieden, und können sich auch auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeitpunkten auswirken. Von den folgenden Problembereichen glaube ich, dass sie besonders wichtig sind:

1.      Konzentration auf „die letzten Zeiten“ und die Lehre über Harmagedon.

2.      Soziale Angst wegen mangelnder sozialer Fähigkeiten..

3.      Loyalitätskonflikt in Verbindung mit der Forderung nach Angeberei.

4.      Übertriebene Konzentration auf die Erfüllung der Forderungen der Eltern und der Wachtturmgesellschaft.

5.      Verdrängung von „verbotenen“ Gedanken und Haltungen.

6.      Entwicklung von Leistungsangst, denn die Beherrschung gewisser Fertigkeiten wird zur Basis für Anerkennung durch andere und dann auch für die Selbstakzeptanz.

7.      Die Beschäftigung mit dem „Aufsteigen“ und das daraus folgende unsichere Selbstbild.

8.      Die Entwicklung einer allgemeinen Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen.

9.      Die Furcht vor Ausschluss und Isolation.

Bisher habe ich mich hauptsächlich auf die „problematischen“ Seiten des Aufwachsens als Kind bei den Zeugen Jehovas konzentriert. Aber es gibt auch eine Anzahl Vorteile:

1.      Das Kind wächst in einem Milieu auf, in dem man Sicherheit und Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft erleben kann und wo man Bestätigung und positive Anerkennung von Gleichgesinnten erhält.

2.      Kinder bei den ZJ werden vor einer Anzahl Seiten unserer Kultur verschont, von denen wir wissen, dass sie für Kinder und Jugendliche schädlich sind.

3.      Sie entgehen auch dem Problem, dass sie in einer Kultur aufwachsen, die vom „Weltanschauungs-Pluralismus“ geprägt ist, und es werden ihnen klare und eindeutige Antworten auf Fragen der Weltanschauung gegeben.

4.      Wenn die Eltern nicht zu den „Eifrigsten“ zählen, sie viel als Familie beisammen sind und sich gegenseitig zu stützen vermögen, so muss es nicht notwendigerweise „pathologisch“ sein, als Zeuge Jehovas aufzuwachsen. Ganz im Gegenteil: Die Familie kann in der Tat von vielen der Qualitäten geprägt sein, die gesunde und funktionelle Familien kennzeichnen. Ich denke da zum Beispiel an Qualitäten, wie dass man viel beisammen ist und gemeinsam unternimmt, dass de Eltern inspirieren und einen Enthusiasmus für ein gemeinsames Ziel erzeugen, dass man ein regelmäßiges Leben und eine vorhersehbare Struktur hat und dass es eindeutige Signale dafür gibt, was richtig und was falsch ist.

5.      Auf etwas in die Zukunft zu blicken, das eine Hoffnung für bessere Zeiten gewährt, muß auch nicht so falsch sein, wenn es auf positive Weise dargestellt wird. Und viele Kinder bei den ZJ entwickeln einen Enthusiasmus für die Sache Jehovas und sind stolz darauf, Jehova und ihre Eltern zufrieden stellen zu können, und sehen mit großer Erwartung dem irdischen Paradies entgegen.

Referenzen:

Bergman, J. (Ph.D.) (1992): “Jehova’s Witnesses and the Problem of Mental Illness”.
Witness Inc.,
P.O. Box 597 Clayton, CA 94517, USA.

Bronfenbrenner, U. (1970): Two Worlds of Childhood: US and USSR. Russel Sage Foundation, New York, USA.

Furili, R., et al (2001): Studiet av nye religiøse bevegelser med vekt på jehovas vitners psyksike helse. Tidskrift for Norsk Psykologieforening (Studie neuer religiöser Bewegungen mit Schwergewicht auf der psychischen Gesundheit der Zeugen Jehovas. Zeitschrift der Norwegischen Vereinigung für Psychologie), S. 124

Lash, C (1982): Den Narsisstiske Kultur (Die narzisstische Kultur). Pax Forlag A/S, Oslo.

Ringnes, H.K. (1997): Hvordan kom du i sannheten? En studie av omvendelse til Jehovas vitner. Hovedoppave i Psykologi. Psykologisk Institutt. Norges teknisk-vitenskaplige universitet. (Wie kamst du in die Wahrheit? Eine Studie der Bekehrung zu den Zeugen Jehovas. Diplomarbeit aus Psychologie. Psychologisches Institut. Norwegens technisch-wissenschaftliche Universität.)

Wachtturmgesellschaft (1983): Organisert for å fullføre vår tjeneste (Organisiert, um unseren Dienst zu vollführen. Enebakk

Wachtturmgesellschaft (1985): Resonner ut fra skriftene (Unterredungen anhand der Schriften)
Enebakk

Wachtturmgesellschaft: Der Wachtturm und Erwache!t (Zeitschriften)

Wachtturmgesellschaft: Gi akt på dere selv og på hjorden (Gebt acht auf euch selbst und die ganze Herde).Enebakk

Watch Tower Bible and Tract Society (1982): Enjoy Life on Earth Forever. Brooklyn, USA.

Wilting, J. (1993): Riket som inte kom. Den kristna Bokringen, S-10536 Stockholm, Schweden
Übersetzung: Das Reich, das nicht kam (2000) Verlag Garamond, Jena

Anmerkung:
VT bezieht sich auf die norwegische, WT auf die englische Ausgabe des „Wachtturm“.

Copyright © 2008 Kjell Totland

Übersetzung: Friedrich Griess

 



[1] Attention Deficit and Hyperactivity Disorder