Kapitel 15

Arnold Markowitz, M.S.W., C.S.W.:

Ratschläge für Familien

Eltern, die einen erwachsenen Sohn oder eine Tochter in einem Kult haben, müssen diese(n) oft zu einem Ausstieg aus der Kultgruppe ermutigen und in manchen Fällen dabei unterstützen. Für die meisten Eltern ist dies eine nicht gerade charakteristische Einmischung in das persönliche Leben ihres Kindes; die Intervention der Eltern mag jedoch vertretbar sein, wenn der Kult ihr Kind negativ beeinflußt. Die Entscheidung, eine Tochter oder einen Sohn dazu zu ermutigen, die Mitgliedschaft neu zu überlegen, ist nicht leicht und stellt oft für die Eltern ein Dilemma dar. Zunächst stellt sich einmal die Frage, wieweit sich Eltern in das Leben ihres Kindes einmischen sollen. Wenn die Eltern sich nicht einmischen und nicht ihre Betroffenheit ausdrücken, laufen sie andererseits in Gefahr, als diejenigen dazustehen, welche die Bindung zum Kult akzeptieren oder sogar unterstützen. Sich über die Gruppe zu beklagen wird oft als Bevormundung betrachtet und mag vom Kind als persönliche Kritik empfunden werden.

Um wirksame Argumente gegen den Kult anbieten zu können, müssen sich Eltern oft auf die Unterstützung ehemaliger Kultmitglieder und professioneller Ausstiegsberater verlassen, die in ihren Diskussionen mit dem im Kult befindlichen Kind sehr wirkungsvoll sein können. Freiwillige Ausstiegsberatung hat sich gerade deshalb als wirkungsvoll erwiesen, weil sie ein auf gegenseitiger Achtung und auf die Unterstützung durch betroffene Familienmitglieder und Freunde gegründeter Prozeß ist. Diese haben genügend Prestige, um das Kultmitglied bitten zu können, an einer Ausstiegsberatung teilzunehmen.

Carol Giambalvo ( 1992; Kapitel 7 und 8), eine sehr geachtete Ausstiegsberaterin, bietet hilfreiche Vorschläge für das Verständnis der Rolle des Ausstiegsberaters beim nachkultischen Rehabilitationsprozeß an. Ausstiegsberatung ist oft der erste erzieherische Schritt in diesem Prozeß. Falls das ehemalige Kultmitglied die Absicht hat, sich in einem stationären Rehabilitationszentrum aufzuhalten (vorzugsweise in einem, das auf Fragen der Kult-Rehabilitation spezialisiert ist), dann sollte der Ausstiegsberater es begleiten, um den Übergang vom Kult und den Ausstiegsberatungs-Sitzungen zum Rehabilitationszentrum zu erleichtern. Wichtige Aspekte können dabei dem Personal des Zentrums mitgeteilt werden. Gewisse Fragen bezüglich Konflikte in der Familie mögen sich währen der Ausstiegsberatungs-Sitzungen ergeben haben. Die Aufgabe des Ausstiegsberaters ist es, sich auf kultbezogene Probleme wie Bewußtseinsmanipulation zu konzentrieren, und dabei Familienangelegenheiten beiseite zu lassen, welche die Intervention und ein erfolgreiches Ergebnis gefährden oder verunmöglichen können. Daher kümmern sich Ausstiegsberater normalerweise nicht um Familientherapie, und sie sollten es wahrscheinlich auch nicht tun.

Ausstiegsberatung ist eine intensive und mächtige Erfahrung, welche durch das Transfer-Phänomen, das sich bei therapeutischen Behandlungen oft ereignet, auch Abhängigkeit vom Ausstiegsberater erzeugen kann. Wenn das Kultmitglied einmal die Entscheidung getroffen hat, den Kult zu verlassen - ob er/sie sich nun in ein Rehabilitationszentrum begibt oder nicht -, ist es für ihn/sie nun wünschenswert, die Verbindung mit den anderen Familienmitgliedern wieder herzustellen und eine therapeutische Allianz mit anderen professionellen Helfern zu errichten, welche zum diesem Zeitpunkt in Erscheinung treten können. Kultmitglieder haben oft einen Hang zur Idealisierung; deshalb sollte man Sorge tragen, daß der Ausstiegsberater nicht als der nächste Guru angesehen wird.

Bei jenen, welche ihre Kulte ohne förmliche Intervention verlassen, sind die nachkultischen Symptome ähnlich. Es ist jedoch notwendig, daß diese ehemaligen Kultmitglieder (oft "walkaways" oder "castaways" genannt) zu verstehen lernen, wie der Kult sie manipulierte und ausbeutete, bevor sie völlig wiederhergestellt werden können.

Nachkultische Symptome

Eine frühzeitige Beobachterin von Kultmitgliedern und ehemaligen Kultmitgliedern, die Psychologin Margaret Thaler Singer (1979), war die erste, welche die Type und die Schwere der psychologischen Symptome identifizierte, die sich bei diesen Leuten zeigten. Seitdem haben viele Kliniker, ich eingeschlossen, die Entdeckungen Singers bestätigt und zusätzliche Beobachtungen gemacht (Clark, 1979; Hassan, 1988; Spero, 1983; West & Singer, 1980). Viele ehemaligen Kultmitglieder, vor allem solche mit Erfahrung in langdauernder oder intensiver Meditation, Wiederholungsgebeten oder Chanten, zeigten einige oder aller der folgenden Symptome:

o Dissoziation ("floating"): unfreiwilliges Abgleiten in veränderte Bewußtseinszustände

o Konzentrationsschwierigkeiten: Verlust des kritischen Denkens; verminderte Urteilsfähigkeit

o Abhängigkeit, Unterwürfigkeit, Beeinflußbarkeit

o Gedächtnisverlust

o Ängstlichkeit

o Schuldgefühle: wegen den Verlassens der Freunde in der Gruppe, wegen der Schaffung von Problemen für die Familie

o Furcht: vor der Vergeltung Gottes, vor der Gruppe selbst und vor den Drohungen, welche die Leiter stets gegen Mitglieder ausstoßen, welche die Gruppe verlassen

Reue ist ein anderes häufig vorkommendes Gefühl. Ehemalige Kultmitglieder, welche psychotherapeutische Behandlung erhalten, drücken schließlich Reue darüber aus, daß sie es zuließen, durch die Kultgruppe oder den Leiter gesteuert und benützt zu werden. Interessanterweise verteidigen viele ehemaligen Kultmitglieder weiterhin den Leiter der Gruppe und richten statt dessen ihren Zorn gegen andere in der Gruppe. Es ist zumindest am Anfang typisch, daß ehemalige Mitglieder den Leiter als gutgesinnt bezeichnen, während ihrer Meinung nach andere Mitglieder die Ideale der Gruppe verraten hätten.

Die Psychotherapie hilft dem Einzelnen, seine vorkultische Persönlichkeit mit der nachkultischen zu integrieren, um das ehemalige Mitglied wieder zu einem Ganzen werden zu lassen. Das Ziel ist, ein stabiles Selbstbewußtsein zu erlangen und sich den Fragen des Erwachsenenlebens zu stellen.

Familienprobleme

Familiendynamiken einschließlich früherer und jetziger Interaktionen, Konflikte und Muster werden sichtbar, wenn die Krise der kultischen Verstrickung eines Kindes die Aufmerksamkeit der Familie in Anspruch nimmt. Die Anspannung, welche Eltern fühlen, und ihre Reaktionen darauf sind in gleicher Weise für den Therapeuten und die Eltern beachtenswert. Verminderung der Anspannung und die Entwicklung eines guten Unterstützungssystems bietet den Eltern die beste Hilfe. Bevor eine Ausstiegsberatung in Erwägung gezogen wird, sollten die Eltern das psychologische Funktionieren der Familie verstehen, um allen Konflikten zuvorzukommen, welche den Ausstiegsberatungsprozeß unterminieren könnten, und um diese Konflikte zu lösen.

Fragen und Dynamiken, die in Familien von Kultmitgliedern häufig sind, beinhalten:

o Die Eltern geben einander die Schuld an der Verstrickung des Sohnes oder der Tochter in den Kult.

o Das Kultproblem verschärft Konflikte zwischen den Eltern oder läßt verborgene Eheprobleme hervorbrechen.

o Ein Elternteil ist mit dem Kultmitglied emotionell zu stark verbunden und entfernt sich emotionell vom Ehepartner.

o Eltern fürchten oft, den Zorn des Kindes hervorzurufen; sie neigen zur Nachgiebigkeit. Z.B. drückten sie nicht ihre Bedenken bezüglich der Gruppe in einem früheren Stadium der Verstrickung des Kindes aus.

o Es gibt einen Anflug von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit; die Eltern fühlen sich dadurch verletzt, daß das Kind die Werte und die religiösen Ansichten der Familie zurückweist.

o Die Eltern sind darüber zornig, daß ihr Sprößling der Gruppe oder dem Leiter gestattet, sein Leben zu steuern.

o Die Eltern zürnen dem Kult, dem Leiter oder anderen Mitgliedern wegen der Rekrutierung ihres Kindes.

o Die Eltern fühlen den Verlust von Freuden, wie zu sehen, daß ihr Kind einen Beruf ergreift, eine Familie gründet und Kinder (also Enkel für sie) bekommt: Eltern sind oft darüber bestürzt, daß ihr Sohn oder ihre Tochter ihr Leben als Erwachsene(r) nicht gut genug eingerichtet hat.

o Eltern fühlen Scham, Schuld und versagt zu haben.

o Das Kind benützt den Kult, um sich von den Eltern zu trennen, emotionelle Distanz zu erzeugen.

o Kultzugehörigkeit mit ihrem alternativen Lebensstil und Glaubensvorstellungen ermöglicht es jungen Erwachsenen, sich als von ihren Eltern völlig verschieden zu definieren.

o "Love bombing" und Bestätigung durch den Kult verschaffen dem Mitglied ein anfängliches Gefühl von Kompetenz und Bejahung außerhalb der Familie.

o Trotz der autoritären und strengen Struktur des Kultes fühlen Kinder oft, daß sie durch den Beitritt zur Gruppe unabhängig wurden.

o Jugendliche Depressionen wegen der Notwendigkeit, sich von den Eltern zu trennen, können zeitweise durch den Beitritt zu einem Kult erleichtert werden, der einen von Selbstverantwortung befreit.

Auf Grund meiner Studien über Familien mit Kultanhängern stellte ich fest (Markowitz, 1983), daß die Familie oft unrealistische und unerreichbare Erwartungen bezüglich dessen hat, was das Kind erreichen sollte, das im Kult ist. Die Annahme und Verinnerlichung dieser Erwartungen durch das Kind machen es verletzlich, wenn es diesen Erwartungen nicht entspricht. Dieses Kind ist nicht in der Lage, persönliche Bestrebungen von den Erwartungen der Familie zu unterscheiden. Während alle Eltern und Familienmitglieder gegenseitige Erwartungen haben und Eltern sicherlich über den Erfolg ihrer Kinder Genugtuung empfinden, ist es für die Eltern wichtig, sich den Fähigkeiten und Wünschen der Kinder anzupassen.

Familien, die in der Lage sind, über ihre gegenseitigen Erwartungen zu diskutieren, und die die Erörterung von Meinungsverschiedenheiten gestatten, wobei jeder die Möglichkeit hat, Familienentscheidungen zu beeinflussen, wird es leichter fallen, über Betroffenheit durch Kulte zu diskutieren. Bei ihrer Arbeit an der vom Jewish Family Service von Los Angeles geführten Kultklinik fand Bathy Gordon (persönliche Mitteilung, 1991), daß in "offenen, ehrlichen und wohlvorbereiteten Familien das Ergebnis eine gesündere Dynamik zwischen allen ist". Gordon bemerkte weiters, daß Familientherapie, welche die Dynamik und die Beziehungen in der Familie untersucht, zu einem "realistischen und positiven Wiederherstellungsprozeß" führt.

Fragen der Rehabilitation

Wenn das Kultmitglied sich einmal entschieden hat, den Kult zu verlassen, dann liegt das Hauptaugenmerk auf der Wiederherstellung aus der Kulterfahrung heraus. Die Wiederherstellung einer bestimmten Person wird von einer Reihe von Faktoren abhängen, einschließlich der Type des Kultes, der Intensität der Kultpraktiken, dem Ausmaß der Beeinflussung und Unterwerfung, der Schmerzen und Leiden, die im Kult erfahren wurden, persönlichen Faktoren und der verfügbaren sozialen Unterstützung.

Flexibilitätsfaktoren

Forscher interessierten sich für die Entwicklung von Kindern, welche mitten in schwerer emotioneller und sozialer Entbehrung aufwuchsen und sich doch offenbar zu einem gesunden und zufriedenstellenden Erwachsenendasein entwickelten. Bei der Studie dieser Überlebenskünstler versuchen Benard und andere (Benard, 1987) die Schutzfaktoren aufzuzeigen, welche dermaßen flexible Kinder hervorbringen.

Flexibilität wird als die Fähigkeit betrachtet, "zurückzuschnellen" oder sich bei widrigen Umständen in positiver Weise anzupassen. Schutzfaktoren, welche sich manchmal mit Flexibilitätsfaktoren überlappen mögen, sind die Mechanismen, durch die jemand die sozialen und emotionellen Gefährdungen in seiner Umgebung vermeiden kann. Beispiele können Kinder von Alkoholikern, Geisteskranken oder solche sein, die von Familienkriminalität oder destruktiven Elementen wie Armut, Drogen, Alkohol und Verbrechen umgeben sind. Die Abschätzung dieser Anpassungsfaktoren kann dabei nützlich sein, wenn man feststellen will, wie flexibel ein ehemaliges Kultmitglied nach seinem Ausstieg aus der Gruppe ist, und sie kann auch hilfreich dabei sein, wenn man die Wiederherstellung des ehemaligen Kultmitgliedes im Laufe der Zeit beobachtet. Die Entwicklung dieser Eigenschaften kann als positives Kennzeichen der Wiederherstellung betrachtet werden, als anzustrebendes Ziel. Während die Literatur darüber reichhaltig ist, wollen wir hier nur einige der Flexibilitätsfaktoren herausstreichen, die für die Beurteilung des nachkultischen Wiederherstellungsprozeses bedeutungsvoll sind.

Autonomie Ein starker Sinn für Unabhängigkeit, ein Sinn für persönliche Stärke, ein Sinn für eine herausfordernde Zukunft, Leistungsorientiertheit, Selbstbestimmung (Anthony, 1987, zitiert in Benard, 1991; Garmexy, Werner & Smith, 1974, 1991, 1992, zitiert in Benard, 1991).

Zweckmäßigkeit Bezogen auf die Begünstigung von Autonomie, beinhaltet Visionen für die Zukunft, Zielstrebigkeit, Erfolgsorientiertheit, Streben nach Ausbildung oder Karriere, Beharrlichkeit, Hoffnung und ein Glaube an eine glänzende Zukunft. Nach Benard "scheinen diese Faktoren die besten Voraussetzungen für ein positives Resultat zu sein" (1991, S. 5).

Selbstachtung/Selbstbewußtsein Ein innerer Schwerpunkt der Kontrolle, Gefühl von persönlichem Wert, der Glaube, daß man Ereignisse eher steuern kann als ein passives Opfer zu sein (Benard, 1987).

Kohärenz Ein Sinn des Vertrauens, daß die äußere Welt und das eigene Innere voraussagbar und voll Hoffnung sind (Benard, 1987).

Soziale Kompetenz Unbefangener Umgang mit sozialen Notwendigkeiten bei der Arbeit und mit Freunden, beinhaltet die Fähigkeit zur Bildung romantischer Beziehungen und Freundschaften; Fähigkeit zu Humor, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind entscheidende Pluspunkte.

Diese eben beschriebenen fünf Faktoren können dazu benützt werden, die Flexibilität zu beurteilen, und können als ein Leitfaden für das wiederherzustellende ehemalige Kultmitglied, für Familienmitglieder, Ausstiegsberater und Psychotherapeuten dienen. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren vorhanden sind oder fehlen, hilft den Prozeß und die Vorhersagen für eine schneller oder langsamere Rehabilitation festzulegen.

Schutzfaktoren

Schutzfaktoren, die für die Wiederherstellung nützlich sein mögen, sind:

Bindung an einen Erwachsenen Zumindest eine warmherzige, unterstützende Beziehung zu haben, die einen niedrigen Grad von Kritizismus aufweist, kann einen heilenden Effekt haben. Viele neigen dazu, sich einem Kult anzuschließen, nachdem sie eine Enttäuschung im Leben oder den Bruch einer wichtigen Beziehung erfahren hatten. Es wird dem ehemalige Mitglied bei der Wiederherstellung förderlich sein, eine gute nachkultische Beziehung anzuknüpfen.

Fähigkeiten zur Problemlösung Entscheidungen fällen und Ambivalenz dulden zu lernen sind dem ehemaligen Kultmitglied hilfreich bei der Überwindung der Abhängigkeit von anderen, der Unterwürfigkeit und der Beeinflußbarkeit. Das ehemalige Mitglied muß lernen, ohne die vereinfachenden Antworten zu leben, die der Kult bietet.

Sinn für das Zweckmäßige Fühlen, daß das Leben einen Sinn hat, und daß Ziele angestrebt werden können, ist ein anderes Zeichen von Gesundung. Fast alle ehemaligen Mitglieder sagen, daß sie durch den stärkeren Sinn für Ziele angezogen wurden, den der Kult zu bieten schien. Der Sinn für Richtungen und Ziele wird sie davor bewahren helfen, zur kultischen Beziehung zurückzukehren.

Kontrolle über das eigenen Schicksal Einen Sinn für die Kontrolle über das eigene Leben zu haben ist ein Zeichen von Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl. Kultmitglieder schließen sich oft Kulten an, wenn sie verwirrt sind, wenn sie keine Hoffnung für ihr Leben fühlen und wenn sie keinen Sinn für die Kontrolle ihrer Zukunft haben.

Teilnahme an positiven Strukturen Das Finden von geordneten Tätigkeiten, die das Leben des ehemaligen Kultmitgliedes organisieren, ist für den Wiederherstellungsprozeß hilfreich. Kultmitglieder werden oft in Perioden den Überganges rekrutiert, z.B. während Ferien, nach Vollendung des Studiums, beim Eintritt in eine neue Schule oder in einen neuen Beruf, weil bei diesen Anlässen der Sinn für Strukturen fehlt.

Streß Management Die Fähigkeit, Streß und Enttäuschungen zu verkraften, ist ein wichtiger Beitrag zur Wiederherstellung. Reflexion, Humor, das Annehmen der eigenen Fehler und Grenzen sind Aspekte der Entwicklung eines Erwachsenen, die ehemalige Kultmitglieder anstelle eines rigiden Perfektionismus benützen können.

Nach dem Kult: Familienprobleme

Nachkultische Familienprobleme müssen untersucht werden, um Konflikte zu minimieren und dem ehemaligen Kultmitglied eine Wiederherstellung ohne die emotionelle Belastung zu ermöglichen, die wir oft bei der Behandlung ehemaliger Kultmitglieder und ihrer Familien beobachten können. Minuchins Beschreibung (Minuchin, Rosman & Barber, 1978) der Probleme, die sich bei der Behandlung betroffener Familien zeigen, können nützlich sein, wobei besonders auf die Aspekte der Individuation, der Kompetenz und der Zudringlichkeit hingewiesen wird (Markowitz, 1983).

Individuation

Familien mit rigiden und unflexiblen Erwartungen laufen in Gefahr, die Autonomie des Einzelnen durch Festhalten an rigiden Erwartungen zu untergraben. Wenn die Erwartungen unerreichbar, unrealistisch oder ohne Interesse für den Sohn oder die Tochter sind, so müssen sie geändert werden. Familienmitglieder und insbesondere Eltern müssen ihre Hoffnungen an die Realität der Fähigkeiten und Interessen ihrer Kinder anpassen. Oft wollen junge und sogar ältere Erwachsene ihre Eltern nicht enttäuschen, da sie eine Mißbilligung durch die Eltern vermeiden wollen. Es ist jedoch konstruktiver, wenn Eltern ihre unrealistischen Hoffnungen zugestehen können, was ein Vater z.B. seine "MittelklasseErwartungen" nannte.

Ehemalige Kultmitglieder müssen Autonomie entwickeln, indem sie lernen, die Enttäuschungen des Erwachsenenlebens mit seinen Unklarheiten, mehrdeutigen Aussagen und den Erprobungen der Selbstsicherheit zu ertragen. Nach dem Ende der Ausstiegsberatung oder nach einem Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum ist die Teilnahme an Familientherapie-Sitzungen sehr hilfreich bei der Unterstützung zur Individuation und Autonomie. Bei der Familientherapie wird jedes Familienmitglied ermuntert, über persönliche Gefühle und darüber zu sprechen, wie es die Periode der kultischen Verstrickung des Betreffenden erlebt hat; gleichzeitig wird die Familie ermutigt, nicht in der Beschäftigung mit der Kulterfahrung steckenzubleiben.

Eltern von jungen Erwachsenen werden den Übergang von der Bemutterung eines jüngeren Kindes, bei dem die Eltern die Entscheidungen trafen, sich um alles kümmerten, für Nahrung, Obdach, Geld, ein Auto und andere Annehmlichkeiten sorgten, zu einer Erwachsenen-Beziehung zu ihrem Kind durchmachen müssen. Die Verantwortung der Eltern für die Zurverfügungstellung von finanzieller Unterstützung sollte abnehmen, ausgenommen in Sonderfällen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und in der Zeit unmittelbar nach dem Austritt aus dem Kult. Emotionelle Unterstützung und Ermutigung sollte der Hauptinhalt der elterlichen Beziehungen zu einem jungen erwachsenen Sohn oder einer Tochter sein.

Kompetenz

Eltern neigen dazu, den Beitritt ihres Kindes zu einem Kult als ein Anzeichen von mangelnder Urteilskraft, von Unreife und Inkompetenz zu sehen. Das Kultleben fordert jedoch Disziplin und Geduld, zusammen mit zusätzlichen Herausforderungen wie anstrengende Yoga-Übungen, Fasten, Schlafentzug und lange Arbeitstage. Die Leistungen des ehemaligen Mitgliedes in der Gruppe müssen von den Eltern anerkannt werden, auch wenn diese Aktivitäten unter dem Einfluß der Bewußtseinsmanipulation ausgeführt wurden. Tatsache ist, daß das Mitglied im Kult neue Fähigkeiten und Kenntnisse erlangte, welche nachher dem persönlichen Kompetenzbestand hinzugerechnet werden können. Eltern müssen diese Erfahrungen akzeptieren, welche das ehemalige Kultmitglied während seiner Kultzugehörigkeit als positiv empfand. Einige Erfahrungen waren positiv, bei anderen wird Zeit benötigt, bis das ehemalige Mitglied ihre Bedeutung richtig einschätzen kann. Eltern müssen ihrem Kind Zeit geben und müssen seinem angeborenen Sinn für Kompetenz und Meisterschaft vertrauen.

Die Möglichkeit, sinnvolle Beiträge zum Familienleben oder zu einer größeren Gemeinschaft zu leisten, ist sehr hilfreich, um ehemaligen Kultmitgliedern einen Sinn für Kompetenz zu geben. Daher sollte zum Einkaufen oder zu anderen häuslichen Tätigkeiten ermutigt werden, sowie zu einer Wiederaufnahme des Schulbesuches oder der Arbeit, wenn der oder die Betreffende dazu bereit sind.

Eltern fürchten sich verständlicherweise davor, wenn ihr Kind mit Mitgliedern Kontakt hat, die noch im Kult sind. Wenn auch diese Befürchtungen realistisch sein mögen, so müssen Eltern doch vorsichtig sein und dürfen die Autonomie des ehemaligen Mitgliedes nicht unterminieren und nicht jeden noch vorhandenen Sinn für Kompetenz auslöschen. Es ist hilfreich, über dieses Befürchtungen offen zu sprechen, z.B. offen zu sagen, daß dieser Kontakt den Eltern Unbehagen bereite, obwohl sie wüßten, daß ihre Tochter fühle, sie könne diesen Kontakt bewältigen. Beratung mit einem Therapeuten oder einem Ausstiegsberater, welcher mit der Situation vertraut ist, kann dazu beitragen, die Spannung bezüglich dieser Frage zu lösen.

Zudringlichkeit

Das ehemalige Mitglied hat möglicherweise nach dem Verlassen des Kultes starke emotionelle Reaktionen. Gefühle des Verlustes und des Zorns im Verein mit einigen früher erwähnten Symptomen können den Beobachter erschrecken. Familienmitglieder, besonders Eltern, können bei einem Versuch zu helfen übermäßig zudringlich sein, indem sie fragen, was passiert sei. Hier ist ein wohlausgewogenes Gleichgewicht notwendig: Eltern, die sich bereit erklären, zuzuhören und die nicht übermäßig zudringlich sind bei der Verfolgungen von Fragen, über welche das Kind sich nicht mitteilen möchte.

Es sollte darauf geachtet werden, daß der Einzelne das Recht auf eine Privatsphäre hat, ein Recht, das im Kult nicht respektiert wurde. Der menschliche Organismus ist ein selbstkorrigierendes System, das, wenn Zeit und eine Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, einem Prozeß folgt, der zur kompetentesten Anpassung des Individuums führt, wenn das Individuum nun einmal frei ist, neue Möglichkeiten zu erproben.

 

 

Andere Vorschläge

Einige zusätzliche Möglichkeiten, welche Familienmitgliedern beim Wiederherstellungsprozeß helfen können. sind:

o Sei ein guter Zuhörer; wenn das ehemalige Mitglied spricht, unterbrich nicht; laß es reden. Antworte mit einer offenen Frage, wenn du das Gespräch anregen willst.

o Hilf, wenn du um Vorschläge gefragt wirst, oder frage, ob du einen Vorschlag machen sollst. Sei vorsichtig und versuche nicht, zuviel Information, Ratschläge und Hilfe anzubieten, wenn das ehemalige Mitglied nicht darum bittet.

o Vermeide es, zuviel Schutz zu gewähren; laß die Person auch Fehler machen.

o Ermögliche eine vollständige ärztliche Untersuchung.

o Wenn du die Erscheinung des Floating beobachtest, sprich klar und direkt.; das Berühren einer Hand oder Schulter kann vielleicht helfen, ihn /sie aus dem Abgleiten in einen veränderten Bewußtseinszustand zurückzuholen. Wenn man jemand in die Augen schaut, dann hilft man ihm, seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, aber blinzle natürlich und wende von Zeit zu Zeit deinen Blick ab. Blinzeln und Wegschauen hilft, die Neigung des ehemaligen Mitgliedes zu vermindern, den mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts starrenden Blick zu entwickeln, einen prähypnotischen Zustand.

o Sei ein informierter Kult-Beobachter, indem du Bücher liest wie Cults: What Parents Should Know (Kulte: Was Eltern wissen sollten) (Ross & Langone, 1989), Exit Counceling: A Family Intervention (Ausstiegsberatung: Eine Familien-Intervention) (Giambalvo, 1992), und Combatting Cult Mind Control (Ausbruch aus dem Bann der Sekten) (Hassan, 1988) sowie andere Bücher und Artikel, die von den Kultberatungsstellen empfohlen werden.

o Überprüfe die Vorgangsweise, die du mit Familienmitgliedern und Freunden bezüglich sozialer Kontakte mit dem ehemaligen Kultmitglied vereinbart hattest. Obwohl die Eltern vielleicht über jeden Kontakt mit entfernten Verwandten und Freunden verfügen wollen, so sollten sie dies doch mit dem ehemaligen Kultmitglied absprechen.

o Wenn die Kultmitgliedschaft vor einigen oder allen Familienmitgliedern geheimgehalten wurde, frage dein Kind, was es sich wünscht. Es sollte ihm überlassen bleiben zu entscheiden, wem von der Kultmitgliedschaft erzählt wird. Fall die Eltern es geheim hielten, dann sollte das ehemalige Mitglied nicht damit belastet werden, es ebenfalls geheim halten zu müssen, außer wenn dies einer Notwendigkeit entspricht. Im allgemeinen kann man annehmen, daß die Leute ringsum diese "Geheimnisse" kennen und meist zu Unterstützung bereit sind. Ziel sollte es sein, dem ehemaligen Mitglied zu überlassen, mit wem es diese Erfahrungen diskutieren möchte.

o Wenn sich herausstellt, daß das ehemalige Mitglied keine raschen Fortschritte macht,

lerne die Langsamkeit der Wiederherstellung zu ertragen. Die Entwicklung neuer Interessen, Ziele und eines Lebenszieles braucht Zeit. Auch ehemalige Mitglieder können ungeduldig sein. Sie und ihre Familien werden ermutigt, die derzeitige Situation mit der letzten zu vergleichen und nicht mit der von Altersgenossen. Es ist nützlicher zu sagen "Vor sechs Monaten war ich in einem destruktiven Kult und jetzt bin ich frei", als sich mit früheren Klassenkameraden oder Kollegen in verschiedenen Stellungen oder Karrieren zu vergleichen. Der Fortschritt kann an den Veränderungen in Abständen von drei Monaten im Leben des ehemaligen Mitgliedes festgestellt werden. (Anderson, Reiss & Hogarty, 1986).

o Respektiere die Privatsphäre des ehemaligen Kultmitgliedes und sein Bedürfnis, ab und zu allein zu sein. Erwarte und ermutige Ausruhen und erholendes Zurückziehen aus dem gesellschaftlichen Leben, vor allem in den frühen Stadien der Wiederherstellung. Biete Möglichkeiten, an Aktivitäten teilzunehmen, aber akzeptiere es, wenn das ehemalige Mitglied die Einladung ablehnt.

o Schaffe eine Umgebung mit wenig Spannungen, Konflikten und Überreizung. Intensive Affekte und Spannungen in der Familie können beim ehemaligen Kultmitglied inneren Streß hervorrufen. Konflikte, Gruppendiskussionen, verbale Unterbrechungen und Argumente können schwer zu verkraften sein. Vermindere den Streß durch Reduzierung der Emotionalität und Intensität des Familienlebens.

Z.B. verbrachte ein 20-jähriges ehemaliges Mitglied der Vereinigungskirche das Wochenende im Hause seiner Eltern, nachdem es mit seiner ersten Freundin nach dem Verlassen der Gruppe gebrochen hatte. Seine Eltern regten sich über seinen Kummer - eine verständliche Reaktion auf die Enttäuschung in der Liebe - so auf, daß er kurz in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußte, um die Anspannung und schwere Verängstigung der Eltern zu reduzieren.

Reduzierung von Streß beinhaltet das Vermeiden der folgenden Verhaltensweisen.

o Kritik von Familienmitgliedern

o Kritik von seiten des ehemaligen Kultmitgliedes

o Extrem intensive Befassung mit dem ehemaligen Mitglied

o Ausdruck von intensivem Zorn

o Nörgelei

o Zurückweisung

o Drohungen, die Unterstützung und Hilfe zu entziehen

o Extreme Ermutigungen und Enthusiasmus, die nicht ursprünglich sind, z.B. enthusiastische Komplimente an das ehemalige Mitglied für das Waschen der eigenen Wäsche oder sonstige haushaltliche Tätigkeiten.

Während manche dieser Vorschläge erfunden erscheinen mögen, ist es doch hilfreich, zu versuchen, die Familienatmosphäre in einer Weise zu gestalten, welche der Wiederherstellung und der Annäherung des ehemaligen Kultmitgliedes förderlich ist. Die Achtung guter zwischenmenschlicher Grenzen und Familiengrenzen ist das Ziel der obigen Vorschläge. Gute Grenzen werden zu Autonomie und heilsamer Trennung führen, wenn die junge Frau oder der junge Mann ein unabhängiger Erwachsener wird.

Stufen der nachkultischen Anpassung

Im nachkultischen Wiederherstellungsprozeß gibt es drei grundlegende Stufen: Rückkehr, Wiedereintritt und Integration. Im allgemeinen vollendet das ehemalige Mitglied diese drei Stufen in einer Zeit von drei Jahren nach dem Austritt aus dem Kult. Man möge aber bedenken, daß jedes Individuum und daher jede Wiederherstellung verschieden sind. Eltern sollten nicht erwarten, daß ihr Sohn oder ihre Tochter wie ein Uhrwerk laufen.

Lorna Goldberg und William Goldberg (1988) haben ausgezeichnete Einblicke in die verschiedenen Stufen geboten, welche ehemalige Kultmitglieder auf dem Weg der Wiederherstellung passieren. Unter Verwendung der Goldberg'schen Beobachtungen habe ich einige Vorschläge für Eltern ausgearbeitet, die den Kummer ihrer Kinder lindern helfen können.

1. bis 3. Monat: Rückkehr

Die ersten drei Monate nach dem Austritt aus dem Kult sind gewöhnlich die schwierigsten für alle. Die Kulterfahrung ist regressiv und mag kindhaftes Verhalten und Erscheinungen hervorrufen. Während dieser ersten Stufe der Wiederherstellung beginnt das ehemalige Kultmitglied, die kultischen Charakterzüge und Verhaltensweisen abzulegen. Die Abhängigkeit, Beeinflußbarkeit und das hochtrabende Denken, die durch den Kult gefördert wurden, machen langsam einem realistischeren Denken Platz.

Abhängigkeit Oft entwickelt sich in dieser Periode eine neue Eltern-Kind-Beziehung. Schließlich sollte diese Beziehung mehr die von Erwachsenen zu Erwachsenen werden; aber im Augenblick wird das ehemalige Kultmitglied etwas mehr von den Eltern abhängig sein, als man von einem erwachsenen Kind erwarten sollte. Eltern und andere Familienmitglieder sollten darauf vorbereitet sein, dem ehemaligen Mitglied Zeit zu widmen - Zeit zum Üben, wenn er oder sie dazu aufgelegt ist, oder an neuen Interessen teilzunehmen, wie an einem Koch- oder Malkurs. Kurze Besuche durch Freunde oder Verwandte sollten kontrolliert werden und dem ehemaligen Kultmitglied nicht Unbehagen bereiten. Eltern, andere Familienmitglieder und Freunde müssen ein Gleichgewicht zwischen ihrer eigenen Teilnahme und dem Respekt vor den Grenzen des ehemaligen Kultmitgliedes einhalten.

Diese Periode der Abhängigkeit kann ein schwieriges Dilemma sowohl für die Eltern als auch für das Kind sein. Rabbi Yehuda Fine (1988) fand bei seinen Beratungen, daß die Rolle der Eltern an diesem Punkt manchmal verwirrend ist: es gibt ständig das Risiko, daß Eltern das ehemalige Kultmitglied mit zu großer Nähe überwältigen oder zuviel Distanz zwischen sich und dem Kind lassen. Emotionale Nähe gegenüber Distanz ist ein typisches Dilemma für alle Beteiligten - sowohl die Eltern als auch das ehemalige Kultmitglied.

Zwei kleine Beispiele von vor kurzem ausgetretenen Mitgliedern mögen hilfreich sein. Im ersten Fall kehrte eine 21-Jährige mit College-Abschluß nach einer kurzen Zugehörigkeit zur Vereinigungskirche zögernd in das Haus ihrer Eltern in einer kleinen Stadt im Westen zurück. Das gemeinsame Verbringen dieser Zeit miteinander erlaubte der Familie, wieder in Kontakt zu kommen, an Familientherapie-Sitzungen teilzunehmen und der jungen Frau zu helfen, eine Richtung für ihr Leben zu finden. Im zweiten Fall empfand es eine 45-jährige Frau als Hilfe, einige Zeit mit ihren Eltern in ihrem Ferienhaus zu verbringen, um einiges der verlorenen Zeit während ihrer 20 Jahre dauernden Kultmitgliedschaft wieder aufzuholen.

Die Periode der anfänglichen Abhängigkeit kann dazu benützt werden, eine neue Bindung zu den Eltern zu ermöglichen, welche heilsam, offen und hilfreich sein wird. Hier gibt es keinen Platz für elterliche Kritik oder negative Beurteilung wie "Ich habe dir doch gesagt, daß diese Gruppe nicht gut ist". Durch die einfache Anwesenheit und die Unterstützung ersetzen die Eltern den Kultführer, der früher als idealisierter Elternersatz diente.

Andere charakteristische Symptome Floating, Schuldgefühle und Einsamkeit sind auch in dieser Periode der Rückkehr häufig (Goldberg & Goldberg, 1988). Vorschläge, wie man mit Floating (Dissoziation) umgeht, wurden oben gemacht.

Viele ehemalige Mitglieder fühlen sich schuldig, weil sie den Kult verlassen haben, weil sie die Leute, die ihnen anvertraut waren, verlassen haben, und wegen ihres eigenen unehrenhaften oder mangelhaften Verhaltens, während sie in der Gruppe waren, als auch wegen der Aufwendungen, Schwierigkeiten und Herzschmerzen, die sie ihren Eltern verursachten. Andauernde Schuldgefühle können Anzeichen einer Depression sein und sollten von einem Spezialisten untersucht werden. Die Eltern und andere mögen helfen, die Schuldgefühle zu besänftigen, indem sie sie akzeptieren und sich dahingehend äußern, daß das ehemalige Kultmitglied sich nicht schuldig fühlen sollte. Selbstvorwürfe, Scham und Schuldgefühle sind für den Wiederherstellungsprozeß nicht förderlich. Trotz den Einsatzes der Eltern wird das ehemalige Kultmitglied Zeit, Geduld und wiederholte Diskussionen benötigen, um die Schuldgefühle zu überwinden.

Die Intensität der Kulterfahrung mit ihrer Konzentration auf die Gruppenerfahrung läßt möglicherweise das ehemalige Kultmitglied als der Stimulation und Gemeinschaft von Gleichgesinnten beraubt zurück. Anfangs wird ausreichend Ruhe benötigt, aber auch die gute Gemeinschaft von Leuten, die interessiert und fähig sind, den Berichten über die Kulterfahrung zuzuhören, kann hilfreich sein.

6. bis 18. Monat: Wiedereintritt

In dieser zweiten Stufe sollten ehemalige Kultmitglieder fähig sein, zur Schule oder zur Arbeit zurückzukehren. Dem Alter entsprechende Entwicklungsaufgaben sollten wieder aufgenommen werden, ausgenommen Verabredungen und Sozialisierung in größerem Maßstab. Dies ist eine Zeit, in der für das ehemalige Mitglied viel emotionales Aussortieren nötig ist, um Identitätsfragen zu konsolidieren, eingeschlossen Sexualität und romantische Beziehungen, die in dieser Gruppe verspätet sein mögen. Einige ehemalige Kultmitglieder begeben sich auf eine Mission, um andere vor destruktiven Kulten zu warnen, oder arbeiten mit Ausstiegsberatungsteams, um auf diese Weise ihren Zorn darüber auszudrücken, daß sie durch den Kult oder seinen Leiter manipuliert wurden. In dieser Periode müssen sich Eltern zurückziehen und dürfen nicht allzu sehr versuchen, Schutzfunktionen ausüben.

Die Furcht der Eltern, daß ihr Kind in den Kult zurückkehren könnte, ist realistisch, vor allem dann, wenn Eltern beobachten, daß Frustrationen und Unangenehmes sich ergibt, wenn ihr Kind darum kämpft, sein Leben außerhalb der Gruppe zu etablieren. Eltern, die verständlicherweise wachsam sind und versuchen, Rückschläge zu verhindern, könnten in Wirklichkeit die Abhängigkeit ihres Kindes hinauszögern und autonomes Wachstum unterminieren. Emotionelle Unterstützung wird benötigt und sollte freimütig gewährt werden, während überreichliche finanzielle Unterstützung zu Rückschlägen führen könnte. In manchen Fällen bezahlen dankbare Eltern teure Renten und unterstützen ihr arbeitsloses erwachsenes Kind mit wenig Hoffnung, daß es einen Beruf ergreifen oder sich um seine eigenen Bedürfnisse in entscheidender Weise kümmern könnte.

In einem Fall arbeitete z.B. ein 25 Jahre alter Mann mit einer Ivy-League-Ausbildung im Kult als Tischler. Nach seinem Austritt aus der Gruppe versorgten ihn seine Eltern fortwährend mit bezahlten Projekten, statt ihm zu erlauben, als ausgebildeter Handwerker auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren. Sie fürchteten, daß er, wenn er sich nicht allein behaupten könnte, in den "Schutz" des Kultes zurückkehren würde. Diese Eltern müßten Vertrauen auf die Fähigkeiten ihres Sohnes haben, die Frustrationen des täglichen Lebens zu ertragen. Ihre wohlgemeinten Bemühungen dienten nur dazu, ihrem Sohn die Möglichkeit vorzuenthalten, seine inneren Kräfte zu benutzen, um seine Kompetenz als Erwachsener zu entwickeln.

In dieser Stufe kann auch die Frage wichtig werden, ob man anderen über Kulterfahrungen erzählen soll. Das ehemalige Kultmitglied muß auch entscheiden, was es zukünftigen Arbeitgebern sagen soll und wie die Schlußfolgerungen über die im Kult verbrachte Zeit zu revidieren sind.

18. - 36. Monat: Integration

Während dieser Stufe der Wiederherstellung findet einen Integration der vorkultischen, kultischen und nachkultischen Persönlichkeit statt. Die für eine vollständige Integration und weitere Fortschritte benötige Zeit kann sehr verschieden sein, aber idealerweise sollte dies innerhalb von drei Jahren geschafft sein. Das Leben dreht sich nun nicht mehr um kultbezogene Fragen; andere Aufgaben wie berufliche Ziele, Freundschaften und romantische Beziehungen sollten im Vordergrund stehen. Im allgemeinen zeigt der oder die Betreffende nun einen festeren Stand im Leben und beginnt, sich weiterzuentwickeln. Vielen von uns ist klar, daß nachkultische Psychotherapie den Wiederherstellungsprozeß erleichtert.

Schlußfolgerung

Die Mitgliedschaft eines Kindes in einem Kult mitzuerleben kann für die Eltern eine schreckliche Prüfung sein. Eltern, welche beängstigende Veränderungen an ihrem Kind beobachten, werden mit der Frage kämpfen, ob sie eine Intervention durchführen sollten oder nicht. Wenn sie sich für eine Intervention entschließen, dann müssen sie sich mit den manchmal erschreckenden Forderungen einer erfolgreichen Ausstiegsberatung auseinandersetzen. Wenn die Intervention Erfolg hat oder wenn das erwachsene Kind die Gruppe von selbst verläßt, dann müssen die Eltern versuchen, ihr Kind, das nun ein ehemaliges Kultmitglied ist, zu unterstützen. Eltern müssen das Gleichgewicht zwischen zu viel Schutz und zu großer Distanz bewahren.

Es passiert, daß Leute aus Kulten wiederhergestellt werden. Und ihre Familien können trotz aller Schwierigkeiten ein Instrument bei dieser Wiederherstellung sein.

Aus: Recovery from Cults, herausgegeben von Michael D. Langone, Ph.D., W.W. Norton & Co, New York, London, 1993. Übersetzung: Friedrich Griess

Referenzen siehe Original