Psychologische und psychiatrische Störungen, welche durch "Destruktive Kulte" häufig verursacht werden.

Michael D. Langone, Ph.D., American Family Foundation

Margaret Thaler Singer, Ph.D., University of California, Berkeley

In historischer Hinsicht werden theoretische Formulierungen über Gruppen, welche wir als Kulte bezeichnen, auf die Erforschung der Gedankenreform (oft populär als "Bewußtseinsmanipulation" oder "Gehirnwäsche" bezeichnet) zurückgeführt. Gedankenreform ist der Begriff, den Robert J. Lifton (1961) benützte, um bestimmte Prozesse der Verhaltensänderung zu beschreiben, welche bei Zivilisten auf dem chinesischen Festland und bei Kriegsgefangenen in Korea angewendet wurden. Ofshe und Singer (1986) unterscheiden Einfluß und Manipulationsverfahren als entweder der ersten oder der zweiten Generation zugehörig. Bei der ersten Generation beziehen sie sich auf die sowjetische und chinesische Gedankenreform und die Verhaltenssteuerungsprogramme, die vor zwanzig oder dreißig Jahren untersucht wurden. Die Beispiele der zweiten Generation stammen aus derzeitigen Programmen oder aus den letzten zehn Jahren... In den älteren Programmen wurden die Angriffe auf die Stabilität und Annehmbarkeit von bestehenden Selbstbewertungen typischerweise auf Elemente des Ich fokusiert, die wir als peripher klassifizieren.

Neuere Programme haben die Tendenz, auf Elemente des Ich zu fokusieren, die wir als zentral klassifizieren (S. 3).

In einer späteren Arbeit (1990) definieren Singer und Ofshe ein Gedankenreformprogramm als "eine Technologie der Verhaltensänderung, welche angewendet wird, um das Erlernen und die Annahme einer Ideologie oder einer Reihe von Verhaltensmustern unter bestimmten Bedingungen zu bewirken" (S. 189). Sie bemerken, daß die folgenden Bedingungen ein Gedankenreformprogramm von anderen Formen sozialen Lernens unterscheiden:

*Die Erlangung von wesentlicher Kontrolle über die Zeit und den Gedankeninhalt eines Individuums, typischerweise durch die Erreichung der Kontrolle wichtiger Elemente der sozialen und physischen Umwelt der betreffenden Person

*Systematisches Erzeugen eines Gefühls der Machtlosigkeit

*Manipulation eines Systems von Belohnungen, Bestrafungen und Erfahrungen auf solche Weise, daß das Erlernen einer neuen Ideologie oder eines Glaubenssystems (oder Verhaltens) gefördert wird, das vom Management (d.h. der Führerschaft) vertreten wird

*Manipulation eines Systems von Belohnungen, Bestrafungen und Erfahrungen auf solche Weise, daß beobachtbares Verhalten, welches den Werten und dem Lebensstil des Individuums vor dem Kontakt mit der Gruppe entspricht, verhindert wird

*Aufrechterhaltung eines geschlossenen Logiksystems und einer autoritären Struktur in der Organisation

*Aufrechterhaltung eines nichtinformierten Zustandes im Individuum (S. 189-190)

Beispiele der Gedankenreformprogramme der ersten Generation sind, außer denen bei Kriegsgefangenen aus dem Koreakrieg, die "revolutionären Universitäten" im China Mao's, andere Programme zur Beeinflussung von Zivilisten in China und die russischen Schauprozesse aus den Dreißigerjahren (Mindszenty, 1974). Beispiele der Gedankenreform der zweiten Generation sind gewisse Großgruppen-Bewußtseinstrainings (manchmal "Transformationstrainings" genannt) und gewisse heutige Gruppen, die gewöhnlich "Kulte" genannt werden.

Gedankenreformprogramme sind die Methoden, die oft von Kulten benützt werden, um die Verhaltens-und Einstellungsänderungen zu bewirken, welche die Gruppe wünscht. Ein Gedankenreformprogramm ist eine besondere Art sozialen Lernens, das von kurzer Dauer (z.B. wie in bestimmten Großgruppen-Bewußtseinstrainings) oder von langer Dauer sein kann (z.B. in Programmen, die bei Kriegsgefangenen des Koreakrieges angewendet wurden (Singer, 1987), oder in derzeitigen Kulten).

Ein Kult ist eine besondere Art von sozialem System, d.h., er ist eine Gruppe von Leuten mit einem besonderen und dauerhaften Muster von Beziehungen, Glauben, Wertvorstellungen und Praktiken, welches der Gruppe eine einzigartige Identität gibt. Wir schlagen die folgende Definition von "Kult" vor:

Ein Kult ist eine Gruppe oder Bewegung, welche a) einer Person, einer Idee oder einem Gegenstand große oder übermäßige Verehrung entgegenbringt, b) ein Gedankenreform programm benützt, um die Mitglieder zu überzeugen, zu steuern und zu sozialisieren (d.h. sie in das einzigartige Muster von Beziehungen, Glauben, Wertvorstellungen und Praktiken der Gruppe zu integrieren), c) in den Mitgliedern systematisch Zustände von psychologischer Abhängigkeit erzeugt, d) die Mitglieder ausbeutet, um die Ziele der Führerschaft zu verwirklichen und e) dazu neigt, den Mitgliedern, ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld psychischen Schaden zuzufügen.

Diese Definition bezieht sich nicht auf den Glauben, denn das Glaubenssystem einer Gruppe, obwohl es oft auf die Eigenschaften der Gruppe bezogen ist und die Eigenschaften unterstützt, welche die Gruppe zu einem Kult machen, ist nicht notwendigerweise und nicht direkt auf ihren Status als Kult bezogen. Kulte mögen religiös sein (mit scheinbar orthodoxen oder auch bizarren Glaubensinhalten), sie können aber auch psychotherapeutisch, politisch oder kommerziell sein.

Die Charakteristika eines Kultes neigen dazu, zwischen der Gruppe und der Gesellschaft Konflikte hervorzurufen. Um diese Konflikte zu verkraften, neigen Kulte dazu, sich psychologisch - wenn nicht physisch - zu isolieren, sich von geheimen Anweisungen leiten zu lassen und totalitär zu werden, d.h. sie werden mit manchmal peinlicher Genauigkeit festlegen, wie die Mitglieder denken, fühlen und handeln sollen.

So wie sie hier definiert sind, unterscheiden sich Kulte von "neuen Religionen" oder "neuen politischen Bewegungen", "innovativen Psychotherapien" und anderen "neuen" Gruppen darin, daß Kulte umfassenden Gebrauch von unethischen manipulativen Techniken der Überredung und der Kontrolle machen, um die Ziele der Führer zu verwirklichen. Natürlich können sich Gruppen ändern und mehr oder weniger kultisch werden, wenn die inneren und äußeren Umstände sich ändern.

Kulte unterscheiden sich auch von bloß autoritären Gruppen wie militärischer Grundausbildung oder bestimmten Mönchsorden darin, daß die letzteren ihre Ziele offen darlegen, eher Verträge abschließen als verführen, und gewöhnlich Autoritäten außerhalb der Gruppe gegenüber verantwortlich sind.

Satanische Aktivität, die in den letzten Jahren großes Medieninteresse geweckt hat, mag kultisch sein, ist es aber nicht notwendigerweise. Eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die sich z. Bsp. zu okkulten Ritualen treffen, bilden nicht notwendigerweise einen Kult, auch nicht, wenn sie an destruktiven Handlungen wie dem Opfern von Tieren beteiligt sind. Ob die Gruppe gemäß der hier vorgeschlagenen Definition ein Kult ist oder nicht, hängt von ihrer Struktur und ihrer psychologischen Dynamik ab. Die Gruppe kann jedoch aus anderen Gründen destruktiv sein. Nicht alle destruktiven Gruppen sind Kulte, obwohl Kulte, wie sie hier definiert sind, dazu neigen, destruktiv zu sein.

Warum schließen sich Leute Kulten an ?

Laien und Fachleute neigen zu einem fundamentalen Mißverständnis darüber, warum Leute sich Kulten anschließen. Laien neigen dazu zu denken, daß Kulte sonderbare Gruppen sind, welche verrückte Leute anziehen. Fachleute, besonders solche mit einiger Kenntnis von Psychoanalyse, sind raffinierter, sagen aber im Grunde dasselbe, etwa: Leute schließen sich Kulten an, weil Kulte die Glaubens- und Zugehörigkeitsbedürfnisse ihre Mitglieder erfüllen und ihnen helfen, unbewußte Konflikte in ihrer Beziehung zu den Eltern zu lösen.

Diese Ansicht ist aus mehreren Gründen falsch. Erstens nimmt sie an, daß Leute aktiv danach suchen, sich Kulten anzuschließen, während in Wirklichkeit die meisten Kultmitglieder, falls sie überhaupt etwas suchten, dies nicht etwas war, das so beherrschend und betrügerisch war wie der Kult, dem sie sich anschlossen. Zweitens nimmt sie an, daß Kulte tatsächlich die Bedürfnisse ihrer Mitglieder erfüllen, während sie in Wirklichkeit Bedürfnisse ausnützen, um die Übereinstimmung mit den Wünschen der Führerschaft zu fördern. Drittens nimmt sie an, daß Leute, welche Kulten beitreten, dies wegen fundamentaler Persönlichkeitsdefizite wie unbewußter Konflikte tun. Obwohl diese Behauptung für einige Kultmitglieder zutrifft, stimmt sie in den meisten Fällen nicht. Die meisten Kultmitglieder waren relativ normale Leute, die sich jedoch in einem ungewöhnlichen Maß von Streß befanden, als sie mit dem Kult zusammentrafen. Die, welche langdauernde psychologische Probleme hatten, wurden nicht notwendigerweise wegen ihrer Probleme durch den Kult angezogen, obwohl ihre Probleme sie vielleicht gegenüber den "Verkaufsmethoden" und Manipulationstaktiken des Kultes leichter verwundbar machten.

Der Prozeß des Beitritts zu einem Kult kann in Kürze durch eine Abwandlung des DDD-Syndroms beschrieben werden (Farber und andere, 1956), eine der Erklärungen für das, was gewöhnlich "Gehirnwäsche" genannt wird. Farber und seine Kollegen stellten fest, daß es den Chinesen im Koreakrieg gelang, die amerikanischen Kriegsgefangenen in einem hohen Grad durch einen Prozeß von Schwächung, Abhängigkeit und Furcht (englisch; debility, dependency and dread) zu manipulieren. Heutige Kulte, die in einer offenen Gesellschaft arbeiten und denen nicht die Staatsgewalt zur Verfügung steht, können ihre Opfer nicht festhalten und sie durch ein schwächendes System laufen lassen. In dieser Hinsicht haben heutige Kulte mehr mit dem Gedankenreformprogramm gemeinsam, das bei chinesischen Zivilisten angewendet wurde (Lifton, 1961). Kulte müssen zu Vorwänden greifen. Sie müssen ihre möglichen Opfer davon überzeugen, daß die Gruppe auf eine Weise für sie Vorteile bringt, welche die betreffenden Leute anspricht. Als Ergebnis dieser Täuschung und des systematischen Gebrauchs von stark manipulierenden Beeinflussungstechniken erklären sich die zu Werbenden zu den von der Gruppe vorgeschriebenen Weisen des Denkens, Fühlens und Handelns bereit; mit anderen Worten, sie werden Mitglieder oder Bekehrte. Durch die schrittweise Isolierung der Mitglieder von äußeren Einflüssen, der Erzeugung von unrealistisch hohen Erwartungen, die zugleich Schuldgefühle auslösen, der Bestrafung von jeglichem Ausdruck von "Negativität" und dem Verunglimpfen von unabhängigem kritischen Denken macht die Gruppe die Mitglieder extrem von ihren willfährigkeitsorientierten Ausdrücken von Liebe und Unterstützung abhängig . Wenn einmal der Zustand der Abhängigkeit fest etabliert ist, wird die Beherrschung der Gedanken, der Gefühle und des Verhaltens der Mitglieder durch die Gruppe noch verstärkt durch die wachsende Angst der Mitglieder, die psychologische Unterstützung der Gruppe zu verlieren (in manchen Gruppen kommt auch physische Bedrohung vor), wieviel es auch kosten mag, ihre Willfährigkeit gegenüber den oft erschöpfenden Forderungen der Führerschaft zu versichern. So ist das neue DDD-Syndrom von Täuschung, Abhängigkeit und Furcht (englisch: deception, dependency and dread) geprägt.

Die Anpassung an einen Kult erfordert die Fähigkeit, ganz ähnlich der Trance-Logik unter Hypnose, sich selbst und andere zu täuschen, um zu glauben, daß die Gruppe immer recht hat, auch wenn sie sich selbst widerspricht. Wachsende Isolation von der äußeren Welt, erschöpfende Aktivität im Dienste der Gruppe und Stunden der Praktizierung von Übungen, die dissoziative Zustände hervorrufen (z.Bsp. Meditation, Chanten, Zungenreden, "Kritiksitzungen") erleichtern eine psychologische Spaltung, welche die Anpassung an die widersprüchlichen Aufgaben der Gruppe und an die Forderung nach Unterwürfigkeit erlaubt. Die Mitglieder finden sich in einem "Loyalitäts/ Verrats-Konflikt" (MacDonald, 1988): wenn sie ihren eigenen Wahrnehmungen gegenüber über sich selbst und die Welt loyal bleiben, so verraten sie die Gruppe, von der sie außerordentlich abhängig geworden sind; wenn sie der Gruppe gegenüber loyal bleiben, so verraten sie ihre eigene Wahrnehmung darüber, was wirklich, gut und wahr ist. Eine abweichende Meinung versetzt die Mitglieder in einen Konflikt, aus dem es kein Entkommen gibt und der unausweichlich zum Verrat entweder an einem selbst oder an der Gruppe führt.

Das Ergebnis dieses Prozesses, wenn er ausgeführt wird, ist eine Pseudo-Persönlichkeit (West, 1992), ein Zustand von Dissoziation, in welchem die Mitglieder "gespalten" sind, aber nicht "multipel", und in welchem sie ihr großes Glück verkünden, aber dabei großes Leid verbergen.

Warum verlassen Leute die Kulte ?

Offensichtlich ist die Kontrolle, welche Kultführer erlangen, nicht absolut, denn schließlich verlassen die meisten Leute kultische Gruppen (Barker, 1984), obwohl eine beträchtliche Anzahl für viele Jahre dortbleibt. In einer der wenigen Studien, welche untersuchten, warum Leute Kulte verlassen, identifizierte Wright (1983a; 1983b) in seinem strukturierten Interview mit 90 Personen vier Hauptgründe für das Verlassen. Der erste Grund ist ein Bruch in der sozialen Isolation des Kultes. Nur vier von zwölf Personen, die von der Gruppe während drei oder mehr Wochen getrennt waren (z.Bsp. durch einen verlängerten Besuch bei ihrer Familie), kehrten zu der Gruppe zurück. Der zweite Grund ist nichtregulierte zwischenmenschliche Vertraulichkeit, welche es Mitgliedern erlauben kann, ihre Zweifel miteinander zu besprechen, die sie normalerweise unterdrücken würden. In "jedem Fall, wo ein (Ehe-)Partner ausstieg, verließ auch der andere die Bewegung" (Wright, 1983b, S. 112). Drittens werden Kultmitglieder öfters die Gruppe verlassen, wenn sie über die mangelnden Erfolge oder die wiederholten

Fehler der Gruppe bei "Vorhersagen" enttäuscht sind, z.B. wenn die Welt wieder einmal nicht untergeht. Viertens mögen Mitglieder aus Enttäuschung aussteigen, wenn sie über die Scheinheiligkeit oder das unmoralische Verhalten der Kultführer informiert werden.

Daß Mitglieder einen enormen Druck fühlen, in der Gruppe zu bleiben, wird ferner durch Wright's Erkenntnisse gestützt, daß 42 % der Aussteiger den Kult heimlich verlassen (sie stehlen sich zum Beispiel mitten in der Nacht davon), während 47 % dies zwar öffentlich tun, aber ohne es hinauszuposaunen (Wright, 1983a S. 186), daß daher nur 11 % "der Gruppe eine öffentliche Ankündigung oder Erklärung abgeben, daß sie aussteigen" (Wright 1983a, S. 187). In einer neueren Analyse dieser Daten (1987) fand Wright, daß Mitglieder, welche weniger als ein Jahr in der Gruppe waren, eher öffentlich austraten als solche, die zwischen 1 und 3 Jahren (92 % gegen 22 %) oder mehr als drei Jahre (92 % gegen 21 %) dabeiwaren.

Bedürfnisse und Probleme nach dem Austritt

Leute, die in einen Kult gelockt wurden, haben erheblich verschiedenen Background. Einige scheinen ein Idealbild psychologischer Gesundheit zu sein, andere sind schwer gestört. Wenn sie sich einem Kult anschließen, treten eine Reihe bedeutender Änderungen ein. Sie werden ausgenützt und mißbraucht, einige fürchterlich, andere weniger arg. Gewöhnlich fehlen ihnen wichtige Lebenserfahrungen, z.B. verlassen viele das College, wenn sie beitreten, oder verzichten auf berufliche oder künstlerische Laufbahnen oder bleiben entgegen ihren vorkultischen Absichten unverheiratet. Man indoktriniert sie zu glauben, daß Widerspruch zu oder Zweifel an den Lehren der Gruppe immer i h r Fehler ist, ebenso wie irgendwelche persönlichen Probleme (z.B. du bist nicht deshalb deprimiert, weil die Meditation, die wir vorschreiben, nicht passend ist, sondern weil du nicht genug meditierst). Das eigentliche Herzstück ihres Selbstgefühls wird als fehlerhaft angegriffen (Ofshe & Singer, 1986). Sie werden von der Leitung der Gruppe extrem abhängig, oft bei lächerlich geringfügigen Entscheidungen. Sie werden hohen und manchmal unmöglichen und widersprüchlichen Forderungen unterworfen, die dazu führen, daß sie sich wie Versager fühlen. Dennoch wird ihnen befohlen, keine Negativität auszudrücken, die sich auf die Gruppe ungünstig auswirken könnte.

Wenn sie aussteigen, aus welchem Grund auch immer, so werden sie wie die Opfer anderer Formen von Mißbrauch (Boulette & Andersen, 1986) dazu neigen zu glauben, sie hätten die Gruppe deshalb verlassen, weil mit ihnen etwas nicht stimmte. Sie sehen die Gruppe gewöhnlich nicht als einen Kult an, wenigstens nicht am Anfang. Indem sie die Meinung der Laien über Kulte teilen, denken sie, daß Kulte sonderbare Gruppen für verrückte Leute sind, und da sie nicht verrückt waren und die Gruppe nicht sonderbar, war es eben kein Kult. Daher werden sie nicht bei Aufklärungsorganisationen über "Kulte", wie die American Family Foundation, Hilfe suchen. Deshalb müssen Kult-Aussteiger über die Dynamik der Kult-Manipulation und -Ausbeutung aufgeklärt werden, nicht nur, damit sie sich von den schädlichen Auswirkungen ihrer Kulterfahrung erholen können, sondern auch, damit sie wissen, welche Art von Hilfe sie brauchen. Sonst könnten sie viel Zeit und Geld vergeuden und unnötige Anstrengungen und Leiden auf sich nehmen, wenn sie falschen Erklärungen ihres Problemes Glauben schenken, z.B. bei einem Psychotherapeuten, der die Macht und den Einfluß der Kultumgebung nicht anerkennt.

Außer daß sie sich selbst die Schuld geben, werden frühere Kultmitglieder auch zu Schwierigkeiten neigen, festzulegen, wer sie eigentlich sind. Sie hatten vor dem Kult eine bestimmte Persönlichkeit. Im Kult entwickelten sie eine adaptive Pseudopersönlichkeit. Aspekte der vorkultischen Persönlichkeit mögen pathologisch gewesen sein. Aspekte der kultischen Pseudopersönlichkeit mögen nützlich und unverfälscht gewesen sein. Die Kult-Indoktrination, von der immer ein wesentlicher Teil auch nach dem Ausstieg zurückbleibt, ließ sie glauben, daß ihre vorkultische Persönlichkeit völlig schlecht und ihre kultische Persönlichkeit völlig gut waren. Wenn sie aussteigen, fühlen sie sich oft so, als ob sie zwei Persönlichkeiten hätten. Wie sollen sie all das bewältigen ?

Während sie versuchen, eine innere Integration und einen Sinn für Zusammenhänge zu entwickeln, müssen frühere Kultanhänger gleichzeitig mit einer Unzahl von Herausforderungen des Lebens fertig werden, für welche sie sehr wenig vorbereitet sein mögen: Anstellung, Wohnung, das Finden von Freunden, die Wiederherstellung von alten Beziehungen mit Freunden und Verwandten, die Schule und sogar das Lernen, wie man sich in sozialen Situationen richtig verhält. Ist es ein Wunder, daß viele frühere Kultanhänger ihre nachkultische Erfahrung als emotionelle Berg- und Talfahrt beschreiben ?

Die Herausforderung für ehemalige Kultanhänger ist entmutigend. Es überrascht nicht, daß viele eine teilweise Anpassung vornehmen, indem sie die Kulterfahrung unterdrücken und ein Netz aus Korrekturen und Vergessenheit um die Pseudopersönlichkeit des Kultes herumlegen. Ob sie nun jedoch die Kulterfahrung unterdrücken oder sich ihr stellen, sie durchdringt unweigerlich ihr Leben. Man kann ihren Auswirkungen nicht entrinnen. Wenn sie nicht ordentlich verstanden wird, dann kann man sie daher auch nicht effektiv managen.

Hunderttausende ehemalige Kultmitglieder kämpfen jedes für sich allein. Viele suchen zweifellos Psychotherapie oder pastorale Beratung auf, um für ihren emotionellen Aufruhr und ihre Verwirrung Hilfe zu finden. Ich fürchte, daß in zu vielen Fällen diese Hilfe die kultische Indoktrination nur verstärkt, indem sie nach "unbewußten Motiven", "dysfunktionaler Familiendynamik" oder was immer sucht - auf der Jagd nach einer Erklärung, warum ehemalige Kultmitglieder solch einer fürchterlichen Gruppe beitreten "wollten". Diese Leute sind nicht einfach fehlgeleitete oder geplagte Sucher. Sie sind Opfer. Wenn man die schädliche Rolle der kultischen Umgebung übersieht oder herunterspielt, ganz gleich wie hoch das Ausmaß und von welcher Art die vorkultische Psychopathologie war, so wird man das Opfer bloßstellen, statt ihm zu helfen.

Typen von psychologischen Reaktionen unter ehemaligen Kultmitgliedern

Die Gedankenreformprogramme der zweiten Generation neigen dazu, das psychologische Abwehrsystem der Mitglieder zu zerstören, indem sie diese Übungen und Erfahrungen aussetzen, welche sie mit Emotionen überfluten oder welche ihr Bewußtsein dissoziieren oder Teile dessen abspalten. Die intensive und schnelle Berieselung mit Unlustgefühlen und Übungen, welche zu Dissoziationen führen, können manchmal zu psychologischer Dekompensation und häufig zu einer Reihe von psychiatrischen Syndromen führen.

Unfälle in Kulten und anderen Gedankenreformprogrammen fallen gewöhnlich in eine von sechs Gruppen. Die erste und größte Gruppe ist die, welche von Singer und Ofshe (1990) die "Reaktion der Mehrheit" genannt wird. Sie ist offenbar davon unabhängig, wielange man schon in der Gruppe war. Sie ist charakertisiert durch "ein Gefühl der Entfremdung und Verwirrung, bedingt durch den Verlust oder die Schwächung von früher für wertvoll gehaltenen Normen, Idealen und Zielen" (S. 191). Das Verlassen der Gruppe und die Rückkehr zur normalen Gesellschaft erzeugt eine Art Kulturschock. Um sich wirkungsvoll anzupassen, müssen ehemalige Mitglieder ihr vorkultisches Ich mit dem "gespaltenen" Ich in der Gruppe und mit dem jetzt entstehenden nachkultischen Ich versöhnen.

Die anderen fünf Typen von psychologischen Reaktionen sind verschiedene Formen von induzierter Psychopathologie. Obwohl vorher bestehende Psychopathologie manchmal durch das Gedankenreformprogramm verstärkt wird, hatten die weitaus meisten Individuen vorkultische psychologische Vorgeschichten, die im normalen Bereich lagen.

Reaktive schizoaffektiv-ähnliche Psychosen. Gemäß DSM-III (APA, 1987) werden schizoaffektive Störungen entweder als Major Depression oder als Manisches Syndrom mit gleichzeitigen psychotischen Symptomen (Wahnvorstellungen, Halluzinationen, .....) mit einer Dauer von mindestens zwei Wochen charakterisiert, ohne daß auffallende affektive Symptome vorhanden sind. Außerdem wurden Schizophrenie und organische Ursachen ausgeschlossen.

Soweit es Gedankenreformprogramme betrifft, werden diese und verwandte psychotische Erscheinungen typischerweise durch streßerzeugende Erfahrungen ausgelöst, wie sie in Großgruppen-Bewußtseinstrainings auftreten (Glass, Kirsch & Parris, 1977; Higgett & Murray, 1983). Affektive Komponenten, gewöhnlich von hypomanischer oder manischer Qualität und offenbar auf Verhalten und Einstellungen bezogen, die von der Gruppe vertreten werden, werden oft kurz vor oder nach der Dekompensation entfaltet. Bei einigen Individuen scheinen depressive Reaktionen das Ergebnis der Interaktion zwischen der persönlichen psychologischen Geschichte und den situationsbedingten Eigenheiten der Gruppe zu sein.

Posttraumatische Belastungsstörungen. Gemäß DSM-III haben posttraumatische Belastungsstörungen fünf Kennzeichen: a) die Person hat ein Ereignis erlebt, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt und für fast jeden stark belastend wäre; b) das traumatische Ereignis wird ständig auf verschiedene Weise wiedererlebt, z. Bsp. durch Träume und sich aufdrängende Erinnerungen; c) anhaltende Vermeidung von Stimuli, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, oder eine Einschränkung der allgemeinen Reagibilität; d) andauernde Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus, einschließlich mindestens zwei der folgenden Merkmale: Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktionen, physiologische Reaktionen bei Ereignissen, die dem Trauma ähneln oder es symbolisieren; und e) Dauer von mindestens einem Monat.

Solche Störungen mögen bei Opfern eines Gedankenreformprogrammes beobachtet werden als Ergebnis von z.B. sexuellem Mißbrauch, durch den Gruppenleiter verursachtem völligem finanziellem Ruin, Tod eines Kindes infolge der nachlässigen Kinderbetreuungspraktiken und schwerem und langdauerndem psychologischem Mißbrauch, der die Selbstachtung der Person im wesentlichen zerstört.

Nicht Näher Bezeichnete Dissoziative Störungen. DSM-III bezeichnet als solche Störungen "mit dem vorherrschenden Merkmal eines dissoziativen Symptoms (d.h. eine Beeinträchtigung oder ein Wechsel der normalen integrativen Funktionen, der Identität, des Gedächtnisses oder des Bewußtseins), das nicht die Kriterien für eine spezielle Dissoziative Störung erfüllt" (S. 158; deutsche Ausgabe DSM-III-R: S. 338). Unter den angeführten Beispielen befindet sich das von Personen, welche einem langen und intensiven Prozeß von Zwangsmaßnahmen zu Veränderung von Einstellungen ausgesetzt waren (lt. DSM-III-R z.B. Gehirnwäsche oder Indoktrination während einer Gefangennahme durch Terroristen oder Anhänger eines Kults, Anm.d.Übers.). Wegen der Neigung der Gedankenreform der zweiten Generation, tranceerzeugende Praktiken zu verwenden (z.B. Meditation, Zungenreden, Chanten) und Kernaspekte des Selbst anzugreifen, ist die Nicht Näher Bezeichnete Dissoziative Störung eine der am häufigsten gestellten Diagnosen für ehemalige Kultmitglieder und Opfer anderer Gedankenreformprogramme.

Durch Entspannung herbeigeführte Angst. Die Forschung (Heide & Borkovec, 1983; Heide & Borkovec, 1984; Heide, 1985) hat gezeigt, daß einige Personen insofern atypische Reaktionen auf Entspannungs- und Meditationsprogramme aufweisen, als sie ängstlicher werden und manchmal sogar in psychotische Zustände verfallen. Im Augenblick wissen wir nicht, warum das geschieht, obwohl einige vermuten, daß die Entspannungsübungen oder die Meditation, indem sie das Bewußtsein im allgemeinen beruhigen, auch die Fähigkeit schwachen psychologischen Widerstandes gegen schwere unbewußte Konflikte verringern. Andere Individuen mit einer speziellen Verwundbarkeit gegenüber dem Verlust von Grenzen des Ich können auf hypnotische Übungen negativ reagieren, welche in einem Versuch, mystische Erfahrungen zu induzieren, im wesentlichen das Ich auflösen.

Verschiedene Reaktionen. Verschiedene Reaktionen beinhalten folgendes: a) eine Kombination von Furcht und kognitivem Versagen, d.h. Konzentrationsschwierigkeiten, Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses (besonders des Kurzzeit-Gedächtnisses); b) Selbstverstümmelung; c) Phobien; d) Selbstmord und Mord; und e) psychologische Faktoren, welche körperliche Leiden wie Schlaganfälle, Magengeschwüre und Herzinfarkte begünstigen.

Referenzen: siehe Original.

Bemerkung: Teile dieses Beitrages sind 1994 in einem Buch mit dem englischer Titel "Recovery from Cults" erschienen, herausgegeben von Dr.phil. Michael D. Langone.

(Übersetzung nach einem Manuskript der Autoren, eingereicht zum Internationalen Kongreß über Totalitäre Gruppen und Kulte, 23.-24.4.1993 in Barcelona, unter Zuhilfenahme von: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, DSM-III-R, 3. korrigierte Auflage 1991, Beltz-Verlag, Weinheim und Basel, sowie fachlicher Beratung durch Dr. German Müller).

6. Dezember 1994
Friedrich Griess