Kinderpsychologe Magne Raundalen:

Das Kind forscht - die Erwachsenen sind die Forschungsberater

In seinem Vortrag erinnerte Magne Raundalen daran, daß Kinder nicht passiv dasitzen und sich mit dem füllen lassen, was ihnen die Erwachsenen anbieten. Kinder sind Forscher. Da ist es wichtig, daß die Forschungsumgebung gut ist. Forschungsberater sind die Erwachsenen, die die Kinder umgeben - in erster Linie die Eltern.

Der wichtigste und kritischste Brennpunkt dieser Konferenz ist das Wort "isolierte", sagte Magne Raundalen.

- In der ganzen Nachkriegszeit haben wir gesagt, das Wichtigste sei, die Bedürfnisse des Kindes zufriedenzustellen. Wir haben das Bedürfniskind über alle Grenzen lanciert. Wir dachten, Kinder seien leer und wir sollten sie füllen. Wir haben das Bedürfniskind als das passive Kind, das empfangende Kind betrachtet. Daran sind wir Kinderpsychologen mitschuldig.

Das forschende Kind

Aber Kinder sind nicht passiv, sie forschen die ganze Zeit über. Forschen und forschen, studieren und systematisieren. Das bedeutet, daß die Rolle der Erwachsenen, der Eltern, eine andere Dimension erhält. Da werden wir nicht nur Servierer, da werden wir Forschungsberater. Wir - die Erwachsenen - haben die Verantwortung für das Forschungsmilieu. Hierin liegt das Drama der Kindererziehung, hierin liegt auch das Drama der isolierten Milieus.

Das Kind forscht. Aber wir wissen nicht, woran zu forschen gefährlich ist. Sind sie krank, dann betreiben sie Krankenhausforschung; herrscht Krieg, dann betreiben sie Kriegsforschung. Sie betreiben Scheidungsforschung, sie forschen an Mamma und Pappa und Gott und am Tag des Weltgerichts. In der Forschung haben sie niemanden anderen, an den sie sich halten können, als uns. Wie gesagt: Wir sind Forschungsberater.

So bekommen sie vielleicht zu hören, daß es in dieser Forschung einander widersprechende Gesichtspunkte gibt. Vielleicht wird es verboten, auf einem Gebiet zu forschen. Aber die Kinder setzen fort. Sie forschen und forschen.

Ein Volksschullehrer erzählte mir einmal, daß ein Mädchen in der Vorschule sagte, sie habe eine[n] Geliebte[n] [Anm.d.Übers.: Ist in der norwegischen Sprache nicht unterscheidbar].

- Ja, wie heißt er denn?

- Sie heißt Beate.

- Aber ich glaubte, es sei so, daß Buben Mädchen als Geliebte haben und Mädchen Buben.

- So ist es auch. Aber wir haben uns entschlossen, Lesben zu werden.

Wie man sieht: Kinder forschen an ziemlich komplizierten Dingen.

Das Forschungsmilieu der Kinder wird "die kleine Tradition" genannt. Zunächst besteht diese aus Eltern, Geschwistern, Großeltern, Nachbarn. Dann wird sie um den Kindergarten und die Schule erweitert. In diesem Forschungsmilieu soll das Kind nicht nur seine Kenntnisse und seine Kompetenz erhalten, sondern auch seine Weltanschauung.

Für Forscher ist es wichtig, daß sie ein vielfältiges und nuanciertes Forschungsmilieu zur Verfügung haben. Für Kinder ist es wichtig, daß sie kompetente Kinder werden, so daß sie kompetente, konstruktive und lebensgesunde Mitglieder der großen Tradition, der großen Gesellschaft werden. Ihr Milieu ist ihr Miniforschungsmilieu für das erwachsene Leben. Selbstverständlich ist es wichtig, daß wir als Erwachsene dafür sorgen, daß dieses Forschungsmilieu vielfältig und nuanciert ist.

Das Dramatische in diesem Zusammenhang ist, daß, während das Kind forscht und sich als offenes System entwickelt, es wichtig ist, daß die Hauptzentrale selbst, das Gehirn des Kindes. offen sein muß. Gleichzeitig damit, daß das Kind sieht, lernt und erlebt, werden im Gehirn Strukturen und Rezepte gebildet. Nicht nur das; jene Gehirnbahnen, die verwendet werden, werden dick und stark; die, welche unterstimuliert werden - um diesen Ausdruck zu gebrauchen - werden dünn und schwach. Verschiedene Teile des Gehirns werden verschieden entwickelt.

Ich denke an das, was ich heute vormittag gehört habe. Wir haben von wiederholter Stimulierung mit Furcht, Schrecken, Tag des Weltgerichts und traumatischen Erlebnissen gehört. Dies kann dazu führen, daß ein Teil des Gehirns überstimuliert, überbelastet wird. Da wird dieser Teil auch tatsächlich dicker und schlagkräftiger als andere Teile des Gehirns. Das führt zu einem Ungleichgewicht.

Traumatische Kinder - die, welche dauerhafte Traumata haben - haben außerordentliche Probleme, ihre Gefühle zu leiten und zu kontrollieren. Sie bekommen Todesangst, sie verfallen in Panik. Sie werden zornig, sie werden traurig - dann stürzen sie ab. Rein physisch gelingt es ihnen nicht, diesen Teil des Gehirns zu beherrschen - denn der ist überbelastet, überstimuliert, durch die Kindheit. Es gibt dort tatsächlich zu viele Nervenfasern.

Dann kommt die Angst. Sie versuchen, Worte für das zu finden, was geschieht, sie versuchen, die richtigen Gedanken zu finden. Da ist es schön, wenn sie sich auf ein Projekt wie Go-On stützen können. Sie hätten solche Hilfe schon weit früher benötigt.

In der Risikozone

Es ist aber auch möglich, daß man so einseitig wird, daß man diesen Teil des Gehirns dazu benützt, um Gefühle zu steuern und Haltungen und Handlungen zu rechtfertigen. Die einseitigen Glaubensrichtungen können imstande sein, Gefühle auszulösen und zu formen, die wiederum - innerhalb einer Ideologie - sehr gefährlich werden können. Es sind dann jene in der Gefahrenzone, die Aggression, Gewalt oder Traumata erlebt haben, die in Furcht und Unsicherheit gelebt haben - und die dadurch eine hohe emotionelle Spannung erhalten haben -, wenn sie gleichzeitig verminderte kognitive Kontrolle und rein sprachbasiertes Verständnis der Situation besitzen, in der sie sich befinden. Diese Kinder sind definitiv in der Risikozone. Wir haben ihnen geschadet.

Der Weg von einer schmerzlichen Kindheit zu einem gesunden Erwachsenenleben.

Der finnische Autor Ben Furman hat das Buch Es ist niemals zu spät, eine glückliche Kindheit zu erleben geschrieben, welches das Pädagogische Forum in Norwegen herausgegeben hat.

Furman schaltete eine Anzeige in einem Hauptstadtblatt, in der er schrieb, er wolle mit Personen in Kontakt treten, die mit ihren eigenen Augen gesehen eine schmerzliche, schwierige und traumatisierte Kindheit hatten, die aber meinten, nun ein gutes Erwachsenenleben zu führen. Er bekam in der ersten Woche 300 bis 400 Briefe. Das Interesse war sehr groß: Wo geht der Weg vom Schatten zum Licht? Wo geht der Weg von einer schmerzlichen Kindheit zu einem guten Erwachsenenleben?

Furman systematisierte die Antworten, dachte darüber nach und schrieb das Buch. Er fand drei Hauptfaktoren auf dem Weg von einer schmerzlichen Kindheit zum guten Erwachsenenleben:

· Faktor Nummer eins: Die gute Person. Jemand, mit dem man reden konnte. Jemand, der von einem wußte, der verstand, wie es einem ging. Ich sehe, wie das Go-On-Projekt eine solche Person für jemanden sein kann, der es benötigt.

· Faktor Nummer zwei: Es gab eine sehr gute Sprache. Es wurde geschrieben und geschrieben. Sie hatten unter anderem Briefe geschrieben - Briefe, die sie absandten, und Briefe, die sie nicht absandten -, Erzählungen, Tagebücher, romantische Geschichten.

· Faktor Nummer drei: Die Einsicht, daß das Problem das Problem ist. Daß nicht du das Problem bist.

Die Isolation ist am gefährlichsten

Starke Beeinflussung war stets in Verruf. Tatsächlich wurde nach ihr in der modernen Kindererziehung gefahndet.

Es wird als positiv und natürlich angesehen, daß das Kind sich für den Beruf der Eltern entscheidet, sogar gegen die Warnung der Eltern. Beispiele: Politische Dynastien, Arztfamilien, Künstler, Mediendynastien und Sportkarrieren wie die des Boxers Ole Lukkeøye. Wir können daher nicht davon ausgehen, daß etwas daran falsch sein sollte, im religiösen Glauben Einfluß auszuüben. Es dreht sich um eine Glaubensrichtung, die nicht schlechter als Boxen ist.

Deshalb gilt diese Debatte einem weiteren Ziel: Sie gilt dem Elternrecht - oder Nicht-Recht -, alles Beliebige mit seinen Kindern zu machen. Wir müssen darüber reden - das Recht der Eltern, alles Beliebige mit ihren Kindern zu machen. Dies gilt für alle Eltern, aber es ist äußerst wichtig, daß wir die Diskussion über jene Gruppe aufnehmen, über die wir hier heute sprechen.

Das Gefährlichste, das sie tun, tun sie in der Isolation. Niemand bekommt richtig zu wissen, was geschieht; niemand kommt in die Lage, einem ausgesetzten Kind ein ausgestreckte Hand reichen zu können.