Per Anders Øien, Psychiater und Chefarzt in Modum Bad:

Kranke und gesunde Religiosität

Per Anders Øien berichtete über die therapeutische Sitzung mit einer Frau, die in einer Sekte aufgewachsen war: - Es kostete viel Zeit. Viele Schmerzen und viele Tränen, und ich kann nicht sagen, daß nun alles gut, alles vorüber ist. Aber in diesen therapeutischen Raum hineinzukommen und diesem Menschen zu folgen gab mir ein Verständnis darüber, an welchen Schmerzen leidet, wer das Milieu und den Bezugsrahmen der Kindheit verlassen soll. Das kostet so viel.

Mein Auftrag ist es, über kranke und gesunde Religiosität zu sprechen. Das Thema ist schwierig, weil einerseits Religiosität an und für sich ein belasteter Begriff ist, andererseits weil die Grenzziehung zwischen krank und gesund ein Bereich ist, über den es viele geteilte Meinungen gibt.

Meine tägliche Arbeit war viele Jahre hindurch Therapie in verschiedenen Formen auf individueller und Gruppenebene. Es ist eine spannende Arbeit, bei der man Menschen in einem sehr privaten Raum mit starken Gefühlen und "unerlaubten" Gedanken begegnet. Wer innerhalb meines Fachgebietes arbeitet, kann daher eine gewisse berechtigte Scheu davor haben, aus dem relativ intimen Raum der Therapie an die Öffentlichkeit zu gehen. Worüber wir hier sprechen sollen, das sind sehr persönliche Anliegen und befinden sich im Spannungsfeld zwischen einer Beschreibung dessen, wie man die Dinge erlebt, und einer normsetzenden Beurteilung, wie sie sein sollten. Was ist gesund und was ist krank! Wer soll bestimmen, was krank ist?

Begegnung mit einzelnen Menschen

Ich möchte mit einer kleinen Glosse beginnen. Ein Kollege von mir arbeitete vor einigen Jahrzehnten als Psychiater in Nordnorwegen. Das psychiatrische Milieu war damals vielleicht von einigen leichtfertigen Haltungen als Folge unreflektierter politischer "Mainstream"-Bewegungen geprägt.

Eines Tages kam ein Kollege in die Abteilung und bekam zu hören, daß ein Patient, der tags zuvor eingeliefert worden war, behauptete, er habe König Olav, Prinz Charles und den Generalsekretär der Nato getroffen. Der Mann war dem Personal zufolge offenbar psychotisch und wurde aufgenommen. Aber als mein Kollege die Lokalzeitung "Nordlicht" aufschlug, konnte er lesen, daß tags zuvor eine Nato-Übung in Harstad unter Anwesenheit von König Olav, Prinz Charles und dem Nato-Generalsekretär stattgefunden habe. Ein beschämtes Lachen in der Personalgruppe war die Folge.

Das ist nicht nur eine ernste Geschichte, sie ist auch wahr. Es ist eine gute Glosse für das, worüber ich sprechen soll, denn es ist sehr leicht, zu einfache Antworten und zu leichtfertige Lösungen anzubieten.

Mein Ausgangspunkt ist die Begegnung mit einzelnen Menschen, denen ich für eine bestimmte Zeit im Raum der Therapie gefolgt bin - Menschen, die in etwas aufgewachsen sind, was man eine Sekte oder eine isolierte Glaubensgemeinschaft nennen kann, wo viele der Kriterien, die Dag Hareide aufgelistet hat, offenbar vorhanden sind.

Diese Glaubensgemeinschaften haben mehrerer Seiten. Unter anderem enthalten sie einen verständlichen Rahmen für Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Man muß nicht "so viel selbst denken". Man bekommt einen Satz von Meinungen und Gedanken überliefert. Zunächst ist es eigentlich ganz beruhigend.

Gesundheit - was ist das? Gesundheit ist ein Satz von Gedanken und Meinungen, die ausreichend festgezimmert sind. Mit einem anderen Bild: Paranoid zu sein. Eine normale Erklärung ist ja, daß sich der Paranoide verfolgt fühlt. Gleichzeitig ist es ja vernünftig, in bestimmten Situationen skeptisch zu sein, es ist vernünftig, nicht alles zu glauben, was du hörst. Es ist sinnlos, wenn du in jedem Zusammenhang und jederzeit alles akzeptierst. Da kommst du in Schwierigkeiten und die um dich herum kommen auch in Schwierigkeiten.

Viele sprechen darüber, "festen Kurs zu halten". An und für sich ist es "gesund", festen Kurs zu halten. Aber auf die Schiffahrt übertragen ist es idiotisch, festen Kurs zu halten. Man manövriert, man findet heraus, wo die Gefahren sind, wo sich die Schären befinden. Man muß auf die Umgebung Rücksicht nehmen.

Sich biegen ohne zu brechen

Die Weltgesundheitsorganisation [WHO] hat eine Definition von Gesundheit, die ziemlich nirvanaartig und unmöglich zu erreichen ist. Sie enthält viele Punkte. Einer dieser Punkte ist die Fähigkeit, entgegengesetzte Tendenzen im eigenen Bewußtsein in Übereinstimmung zu bringen, also die Fähigkeit, einander widersprechende Gedanken und Gefühle in sich zu haben, ohne zu zerbrechen. Auch wenn es in den Definitionen der WHO nicht ausdrücklich enthalten ist, halte ich die Fähigkeit, Frustration auszuhalten, für besonders wichtig. Also die Fähigkeit, mit Widerwärtigkeiten und schweren Tagen fertig zu werden.

Alle tragen in sich einen Wunsch, ihre Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, fast naturgegeben und allgemeinmenschlich. Aber was wirst du an jenem Tag tun, an dem deine Bedürfnisse nicht befriedigt werden? Wie wirst du damit fertig? "Man braucht einen guten Rücken, damit es gute Tage werden", heißt es in einem Sprichwort. Aber den besten Gebrauch für einen guten Rücken hat man, wenn sich die anderen Zeiten melden.

Wenn sich der äußere Rahmen verändert, wie wirst du dann den Begriffsapparat benützen, den du in dir hast? In welchem Grad bist du imstande, dich anzupassen? Dies kann eine entscheidende Gratwanderung sein, einerseits flexibel und anpassungsfähig zu sein, andererseits sich widerspruchslos der jeweiligen Umgebung und den Menschen zu fügen. Man kann auf beiden Seiten in die Grube fallen. Entweder eine graue Maus ohne eigenen Willen und eigenen Standpunkt zu sein, oder das berühmte "Weib gegen den Strom", deren Lebensprojekt darin besteht, immer eine andere Meinung zu haben. Es fragt sich, ob nicht die erstgenannte Grube in einer Gesellschaft wie der unseren am häufigsten verbreitet ist, daß wir viel von der Fähigkeit verlieren, Gegenvorstellungen zu wecken, selbst zu denken und uns eigene Meinungen zu bilden.

Aber ganz entscheidend zum Überleben in Situationen, auf die man nicht vorbereitet ist, ist die Fähigkeit, über die Zeit hinweg durchzuhalten. Nicht bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. Henrik Wergeland [einer der bedeutendsten norwegischen Dichter, Anm.d.Übers.] hat in seinem Buch Der Katechismus des Nordmannes einige treffende Zeilen über diese Eigenschaften geschrieben:

"Ein Sinn so gesund wie ein Birkenzweig,

der sich biegt, jedoch nicht bricht."

Also die Fähigkeit, etwas nachzugeben, ohne zu knicken, ohne sich selbst zu verlieren.

Viele Schmerzen und viele Tränen

Diese Gedanken sind vielleicht nicht so selbstverständlich und allgemein, daß sie banal erscheinen könnten. Aber ich möchte sie jetzt mit dabei haben, wenn ich nun über eine Frau erzählen werde, die in einer Sekte aufgewachsen ist, einer religiösen Sekte mit ihrem besonderen Gepräge und eigenen Regeln dafür, was richtig und was falsch, was drinnen und was draußen ist. Sie hat auch sexuelle Übergriffe erlebt. Ich muß betonen, daß das ein Einzelfall ist und daß man aus der Geschichte keine allgemeinen Schlüsse ziehen kann. Jedoch ist dieser Fall nicht alleinstehend. Er verdient daher heute und hier Aufmerksamkeit.

Ich habe der Frau erzählt, daß ich an dieser Konferenz teilnehmen soll, und sie hat ihr Einverständnis dazu gegeben, daß ich das sage, was ich jetzt sagen werde.

Als sie kein Kind mehr war, kam sie immer mehr in Kontakt mit einer Welt, wo sie entdeckte, daß das, was sie von Kindheit an mit sich bekommen hatte, nicht ausreichte, um das Zusammenspiel der Menschen untereinander zu verstehen. Sie erlebte bedeutende Angst, etwas falsch zu machen oder zu meinen, aus dem Rahmen zu fallen, in Konfliktbereiche zwischen ihrem Hintergrundsmilieu und der umgebenden Kultur zu kommen. Ihr ganzes Leben wurde immer mehr von Angst geprägt. Außerdem hatte sie starke Erlebnisse von etwas, was ich manipulierende Verdammnisvorstellungen nennen möchte: "Du wirst verdammt, wenn ..." Es konnte sich um alles drehen von der Kleidung bis zu der Frage, mit wem man zusammen war, Geburtstagsfeiern u. dgl.. Es kann ziemlich belastend sein, mit einem solchen Begriffsapparat in sich umherzugehen, wenn man der Welt begegnen soll.

Sie erlebte sich auch von Sanktionen gebunden: "Du gehörst zu uns. Du mußt dich so und so verhalten. Wenn nicht, dann geschieht das und das."

Sie kam zu mir, um Hilfe zu erhalten, denn sie erlebte sich als gequält. Sie hatte Probleme am Arbeitsplatz, sie hatte ausgesprochene Angstsymptome, war die meiste Zeit angespannt und unruhig. Ich hörte ihre Geschichte und wir begannen, miteinander zu reden.

Meine Aufgabe als Therapeut ist nicht, auf den Patienten in einer bestimmten Richtung einzuwirken. Der Therapeut soll danach streben, abstinent zu sein, in der Bedeutung, seine Eigenes zurückzuhalten, aber gleichzeitig zu versuchen, dem Patienten zu helfen, selbst die ersehnten Fragen zu finden. In therapeutischer Sprache reden wir über die sokratische Methode, also mit Hilfe von eröffnenden Fragen die Fähigkeit des Patienten - Patient bedeutet ein Leidender! - zu vermehren, Fragen selbst zu suchen.

Es war herausfordernd, einige Jahre hindurch ihrem Kampf zu folgen. Dies erregte in mir als Therapeut eine Form von Verärgerung, eine Form von Aufgewühltsein über das, was sie erlebt hatte. Ich glaube, es war wichtig für ihre Entwicklung und ihre Therapie, daß ich Hilfe erhielt, um meine Reaktionen auf das, was ich hörte, auf solche Weise im Zaum zu halten, daß ich mich nicht als Richter über das aufschwang, was sie sagte und was ihr Bezugsrahmen war. Es war ja ihr geistiger und "kultureller" Hintergrund. Eine radikale und brutale Aufruhr gegen die Eltern zu unternehmen beinhaltet ziemlich viel für den, den es betrifft. Man soll nie "tiefer schneiden als das, wofür man Tränen hat", das heißt: Man dient einem Leidenden kaum, indem man radikale Änderungen vorschlägt, dessen Konsequenzen der andere nicht ertragen kann. Es war nicht mein Projekt, das durchgeführt werden sollte; es war ihr Lebensprojekt in der Richtung, Freiheit im Sinne von Selbstentfaltung zu erlangen, ohne daß es über andere hinwegging. Sie sah ja, daß viel von dem, worauf sie so kräftig reagierte, so tief in ihr selbst lag, daß es dazu führte, daß sie das Muster in ihren eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen wiederholte - zum Beispiel bezüglich Sexualität.

Es kostete viel Zeit, viele Schmerzen und viele Tränen, und ich kann nicht sagen, daß jetzt alles in Ordnung ist, daß alles vorüber ist. Aber in diesen therapeutischen Raum hineinzukommen und diesem Menschen zu folgen gab mir ein Verständnis darüber, an welchen Schmerzen leidet, wer das Milieu und den Bezugsrahmen der Kindheit verlassen soll. Das kostet so viel.

Sie kam in einen inneren Konflikt bezüglich der Bewahrung ihres Glaubens - ihres eigenen Glaubens an Gott, ihres eigenen Glaubens an Jesus - und gleichzeitig des Abstandnehmens von dem, was in dem Milieu, aus dem sie kam, so krank war. Einiges mußte verworfen werden, einiges mußte man behalten. Das war schwierig - sowohl für sie als auch für mich.

Weitere Gespräche und Debatten

Mein Hauptwunsch mit dieser Einleitung ist es, zu weiteren Gesprächen und Debatten einzuladen, wo es meiner Ansicht nach darum geht, die leichtfertigen "Schwarz-Weiß"-Lösungen zu vermeiden und unsere vorhandenen Fähigkeiten zu gebrauchen, zwischen dem Kranken und dem Gesunden zu unterscheiden, in diesem Fall innerhalb von religiösen Milieus und Zusammenhängen. Meine tägliche Arbeit geht an einer Institution vor sich, an der wir wegen besonderer Voraussetzungen so oft diese Problemstellungen antreffen. Wir treffen dort jene, die es erlebt haben, durch mißverstandene religiöse "Zwangsjacken" unterdrückt und geschädigt zu werden und wohl natürlicher Weise darum kämpfen, davon loszukommen. Aber auch jene, die erlebt haben, daß ihr Glaube an Gott die wichtigste Quelle dafür darstellt, das persönliche Wachstum zu erreichen, nach dem sie sich gesehnt haben.

Es ist meine Hoffnung, daß diese Konferenz vielen zu Hilfe kommen kann, indem sie die Themen auf die Tagesordnung setzt!