Marianne Borgen, Redd Barna

Kenntnis, die verpflichtet

Marianne Borgen, die Leiterin von Redd Barnas Rechtszentrum, faßte die Konferenz zusammen, indem sie u.a. sagte, es sei wichtig, daß man imstande sei - und wage -, die unsichtbaren Kinder zu sehen.

Bei der Konferenz fragten viele nach Forschung und neuen Kenntnissen. Das ist wichtig, sagte Marianne Borgen. Aber gleichzeitig: Die Kenntnis, die bereits vorhanden ist, verpflichtet. - Sie verpflichtet uns alle, die wir hier heute anwesend waren. Es liegt eine ethische und moralische Verpflichtung darin, diese Debatte aufzunehmen zu wagen. Wir müssen Mut zeigen, indem wir wagen, über die Rechte des Kindes und die Situation des Kindes im Lichte dessen zu reden, was viele als klare Rechte der Eltern betrachten werden.

Redd Barna arbeitet dafür, die unsichtbaren Kinder sichtbar zu machen. Dieses Projekt fällt in eine solche Arbeit.

Zu allererst möchte ich den jungen Menschen danken, die seinerzeit die Initiative ergriffen haben, um dieses Projekt beginnen zu lassen. Ohne deren Mut würde niemand von uns heute hier sitzen. Ich möchte dafür danken, daß ihr durch das Mitteilen eurer eigenen Geschichte uns neue Kenntnis und neue Einsicht gegeben habt. Ich glaube, daß einige von uns nun - nicht zuletzt nach dem, was wir hier heute gehört haben - wissen, was es kostet, seine Geschichte in voller Öffentlichkeit auszubreiten, und was es kostet, dafür einzustehen. Dank auch an Dag Hareide, der den jungen Menschen in einem schwierigen bürokratischen und ministeriellen Dschungel half und der ihnen auch riet, das Rechtszentrum von Redd Barna aufzusuchen.

Das Augenmerk von Redd Barna in diesem Land waren die Kinder und die Verletzung ihrer Rechte. Das bedeutet nicht, daß nicht auch Erwachsene leiden. Auch Erwachsene, die Probleme haben, sollen ernst genommen werden, aber der Ausgangspunkt von Redd Barna war es nun, die Aufmerksamkeit auf die Kinder und auf die Verletzung ihrer Rechte zu lenken.

Aufsicht nach der Blaulichtmethode

Diese Konferenz hat uns gezeigt, daß wir in der Zeit, die nun kommt, mit großen Herausforderungen zu arbeiten haben. Wir haben eine Reihe von Beispielen grober und ernster Verletzungen und Brüche der Rechte der Kinder gesehen - Bruch der Gedankenfreiheit, der Glaubensfreiheit, der Äußerungsfreiheit. Und nicht zuletzt kann man die Art und Weise, wie wir über unsere Privatschulen Aufsicht führen, in Frage stellen. Oder anders ausgedrückt: Die Art und Weise, wie wir keine Aufsicht führen.

Den Informationen zufolge, die Redd Barna über die Aufsicht über Privatschulen hat, wird Aufsicht heute nach der "Blaulichtmethode" betrieben. Das bedeutet, daß man erst dann Aufsicht führt, wenn jemand eine Warnung ausgesprochen hat oder jemand sagt, daß es ein Problem gibt. Das ist eine Aufsichtsmethode, von der ich glaube, daß viele - auch jene, die in den Bildungsbüros arbeiten - einsehen, daß sie nicht ausreichend ist. Dies ist ein Bereich, um den man sich mehr kümmern muß.

Kinder, die Probleme haben, müssen sich in der Großgesellschaft zurechtfinden - ungeachtet der Ursache ihrer Probleme. Sie haben das Recht und den Anspruch auf Hilfe. Es ist eine Verpflichtung für die Gesellschaft, die nötige Hilfe, Behandlung und Betreuung herbeizuschaffen, wenn Kinder erleben, daß sie Probleme haben oder an Überlastung leiden, gleichgültig was die Ursachen dafür sind. Dies gilt auch für jene Kinder, die das Projekt umfaßt.

Redd Barna ist demütig in der Landschaft, in der wir uns hier bewegen, einer Landschaft, in der starke Gefühle herrschen. Ein Minenfeld. Vielleicht können wir sagen, daß Redd Barnas internationale Arbeit im Minenräumen damit vergleichbar wäre.

Wir sehen mit aller möglichen Deutlichkeit, daß wir hier in ein Spannungsverhältnis geraten sind zwischen dem, was Eltern mit ihren Kindern tun können, und was die Rechte der Kinder sind. Magne Raundalen sagte, unserer Gesellschaft wünsche, daß Eltern ihren Kindern Grenzen setzen und sie begleiten sollten, aber die Frage ist, wo die Grenzen verlaufen. Und wer soll bestimmen, wo sie verlaufen?

Dies ist eine schrecklich schwierige Debatte, an der viele von uns in den kommenden Zeiten teilnehmen werden müssen.

Kenntnis, die verpflichtet.

Es wurde auch gesagt, daß wir mehr Kenntnis und mehr Forschung benötigen, daß wir klare Definitionen brauchen. Klares Verständnis davon, worüber wir sprechen, kann auch eine bessere Grundlage für besseren Dialog und bessere Gespräche über die Problemstellungen bieten.

Aber das ist Kenntnis, die verpflichtet. Sie verpflichtet uns alle, die wir hier heute anwesend waren. Es liegt eine große ethische und moralische Verpflichtung darin, diese Debatte aufzunehmen zu wagen. Wir müssen Mut zeigen, indem wir wagen, über die Rechte des Kindes und die Situation des Kindes im Lichte dessen zu reden, was viele als klare Rechte der Eltern betrachten werden.

Wir sind hier heute viele, die Demut dem gegenüber erlebt haben, was heute zum Vorschein kam, gegenüber den Erfahrungen, welche jene, die sie erlebt haben, mit uns teilten. Es ist eine große Herausforderung, sich den Kindern zu nähern, die Hilfe und Beistand benötigen. Es ist wichtig, daß man imstande ist - und es wagt -, die unsichtbaren Kinder zu sehen.

Wir benötigen Kenntnis. Aber wir wissen auch genug, daß wir handeln können. Alle, die heute hier waren, alle, die Kindern begegnen, alle, die sich mit Kindern beschäftigen, alle Fachleute, Eltern, Großeltern, Verwandten, Freunde, Nachbarn - alle haben wir eine besondere Verpflichtung, die Kinder zu sehen, auf sie zu hören und ihre Geschichte ernst zu nehmen.

Redd Barnas Rechtszentrum hat auch eine besondere Verantwortung, die Kenntnis, die heute vorgestellt wurde, weiter zu verfolgen. Das schulden wir den jungen Menschen, die die Last auf sich genommen haben, an die Öffentlichkeit zu treten und uns ihre Geschichte mitzuteilen, um eben mit dem vor Augen eine bessere Situation für uns alle herzustellen.

Der Name des Kindes ist "heute"

Wichtig an diesem Tag ist auch, daß so viele mit so verschiedenen Erfahrungen hierher gekommen sind - vielleicht auch mit verschiedener Zielsetzung. Die Vielfalt, welche diese Versammlung repräsentiert, ist meiner Meinung nach ein gutes Zeichen, daß wir hier in Norwegen vielleicht offen und bereit sind, die Debatte weiterzuführen.

Redd Barna arbeitet sowohl national als auch international. Ich glaube, daß ein Teil unserer Erfahrungen, auch der internationalen - an Dialog, Diplomatie, Offenheit zu glauben - ein nützliches Fundament für die Weiterarbeit sind, wenn wir alle gemeinsam auf verschiedene Weise die Kenntnis mit uns nehmen sollen, die hier offenbar wurde, und dazu beitragen sollen, viele der Dilemmas und Probleme in den kommenden Jahren zu beleuchten.

Ganz zum Schluß: Viele von euch erinnern sich sicher an Pål André Grinderud, der seinerzeit Kindern, die in Familien mit Narkotika- bzw. Alkoholmißbrauch aufwuchsen, ihr Gesicht gab. Er sagte:

- Die Kindheit währt das ganze Leben.

Auf viele Weise kann man sagen, daß die Kindheit nicht nur das ganze Leben währt, es währt Generationen hindurch. Die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral drückte dies in einem Gedicht so aus:

Wir sind schuld an vielen Irrtümern,
und vielen Fehlern.
Unser schwerstes Verbrechen ist dennoch
die Kinder im Stich zu lassen,
die Quelle des Lebens zu versäumen.
Vieles von dem , was wir brauchen, kann warten.
Das Kind kann es nicht.
Denn gerade jetzt
werden die Knochen geformt,
das Blut entsteht
und die Sinne werden entwickelt.
Zum Kind können wir nicht sagen
"morgen".

Der Name des Kindes ist "heute".