18 Geschichten

Bei der Konferenz wurden Texte abgespielt, die von Kim Haugen gelesen wurden. Die Texte gehen von Geschichten aus, die junge Menschen im Go-On-Projekt erzählt hatten. Zusätzlich beruhen sie auf aktueller Literatur.

- Die Geschichten sind deshalb ganz einzigartig, betonten die Konferenzleiter. - Es handelt sich um einige Geschichten und sie sind selbstverständlich anonymisiert.

Aber sie sind aus diesem Grund nicht weniger wahr.

1.
Nun habe ich wieder gesündigt. Ich habe Mamma und Pappa angelogen. Aber ich hatte so große Lust, mit den anderen zusammen zu sein und Fußball zu spielen, auch wenn heute abend Versammlung war. Ich sagte, es wäre mir schlecht, nachdem ich etwas in der Schulküche gegessen hatte. Wenn nun die Welt gerade dann untergeht, wenn sie bei der Versammlung sind und ich am Fußballplatz? Dann kann ich mich nicht an Pappa oder Mamma anhängen, damit auch ich in den Himmel komme. Dann bleibe ich allein auf der Welt und werde wie die anderen abgeschlachtet. Lieber Gott, wenn du damit wartest, die Welt untergehen zu lassen, dann werde ich niemals mehr lügen oder mich von der Versammlung davonschleichen.

2.
Ich heiße Lars und gehe in die erste Klasse. In meiner Klasse haben alle außer mir Digemonkarten. Digemonkarten zu tauschen ist das populärste Spiel im Schulhof. Heute bekam ich auch einige Karten von Siri in meiner Klasse. Als meine kleine Schwester und ich daheim in der Stube saßen und mit den Karten spielten, kam Vater herein in die Stube und sagte mit wütender Stimme:

- Woher habt ihr das? Wenn ihr diese Karten nicht sofort wegwerft, dann wird Gott aus euren Herzen verschwinden und statt dessen werden die bösen Dämonen hineinkommen!

Da dachte ich in Panik: Mamma! Wo ist Mamma? Was wird Gott nun mit mir tun? Was geschieht mit meiner kleinen Schwester? Mit Siri?

Ich sehe nur schwarz und höre das Herz in meiner Brust klopfen!

3.
Als ich 12 war, schnitt ich mir das Haar. Ich machte das Meiste selbst. Aber eine Freundin half mir, hinten zu schneiden. Sie weinte die ganze Zeit und sagte, der Teufel habe mich in den Krallen. Ich hörte nicht auf sie und befahl ihr, nur weiter zu schneiden. Zum Schluß warf sie die Schere hin und sagte, sie wolle nun nicht mehr, denn dann könnte der Teufel auch sie holen.

4.
Ich heiße Kari. Als ich 14 war, vertraute ich mich meiner Lehrerin an. Ich sagte, ich habe es satt, ich habe viel Magenschmerzen und viele Probleme in der Schule. Manchmal ist es leichter, über solche Dinge mit anderen als den eigenen Eltern zu reden. Ich mochte meine Lehrerin und glaubte, daß sie mir helfen werde.

Einige Tage später nahm der Pastor, der sowohl die Schule als auch die Gemeinde leitet, Kontakt mit meinen Eltern auf, ohne daß ich davon wußte. Sie hatten ein Treffen, bei dem der Pastor meinte, ich sei krank und vom Teufel besessen. Der Pastor meinte, die Gemeinde müsse für mich beten, damit die bösen Geister mich verließen und ich geheilt würde.

Mutter war schon vorher um mich besorgt gewesen und hatte Tante Margot - einer Jugendfreundin - davon erzählt. Tante Margot sagte zu Mutter, sie glaube, ich sei krank und benötige eine Behandlung im Krankenhaus. Mutter nahm mich ins Krankenhaus mit. Sie sagten dort, ich sei ernstlich krank. Ich bekam medizinische Behandlung und es ging mir besser. Aber ich weigerte mich, weiterhin in diese Schule zu gehen. Mutter und Vater hörten auf mich. Heute ist niemand in unserer Familie mehr Mitglied dieser Gemeinde.

5.
Im Sozialbüro fragten sie über meine Familie und wie ich aufgewachsen war. Sie fragten und fragten - und ich erzählte. Ich wußte nicht genau, was sie wissen mußten, damit ich Geld für Essen und Hilfe erhielte, eine Wohnung zu bekommen. Als ich der Sozialarbeiterin erzählte, auf welche Weise Ungehorsam bestraft wurde, begann sie zu weinen. Sie sagte, sie habe niemals etwas so Grausames gehört. Da saß sie - die professionelle Helferin, weinend, und sollte mir irgendwie helfen. Ich gab auf und ging hinaus. Es sollte lange dauern, bis ich wieder ein öffentliches Büro aufsuchte.

6.
Als ich sah, daß die Ansuchensfrist für die Aufnahme in die Schule im Herbst im April ablief, glaubte ich, sie scherzten. Ich hatte niemals daran gedacht, etwas so lange im Voraus zu planen. Wir wuchsen mit der Idee auf, wir seien die Auserwählten. Wir sollten nach dem Tag des Weltgerichtes die neuen Leiter der Welt sein. Ich glaubte nicht, daß ich es hier auf Erden erleben würde, erwachsen zu werden. Wir Auserwählten sollten in den Himmel kommen und die anderen sollten in der Hölle vergehen. Ausbildung sei keine Bedingung, um in den Himmel zu kommen.

7.
Alle wollen über sexuellen Mißbrauch hören. Aber der psychische Mißbrauch ist viel schlimmer. Der beeinflußt dich viel stärker.

8.
Sie sagten, ich sei ein Kind des Teufels. Und daß sie mich vor den Peinigungen der Hölle retten sollten. Dann legten sie mich auf ein Brett und vertrieben mit Schreien, Klagen und winkenden Händen den Teufel aus mir. Zum Beginn hatte ich große Angst. Aber nach und nach verließ ich meinen Körper, während sie weitermachten. Dann konnte ich über ihnen schweben und zusehen. Es war sehr seltsam, unter der Decke zu hängen und mich selbst zu sehen. Ich mußte fast lachen.

9.
Papa sagte, was er mit mir mache, sei Gottes Wille. Und wenn etwas Gottes Wille sei, dann könne es nicht weh tun. Aber es tat sehr weh, und ich blutete auch hernach. Vielleicht hat Gott mich vergessen?

10.
Nun ist Jon abgereist. Sie sagen, er wurde an einen Ort gesandt, wo Gott helfe, die ungehorsamen Kinder gehorsam zu machen. Aber Jon hat solche Angst vor der Dunkelheit. Und er ist gewohnt, daß wir andere Kinder ihn in der Nacht trösten. Seine Mamma und sein Pappa dienen dem Herrn in einem anderen Land. Und Jon vermißt sie fast die ganze Zeit. Was ist, wenn er niemals zu uns zurückkommt?

11.
- Du bist ganz besonders, sagte Mamma. - Du bist nicht wie die anderen Kinder in der Schule. Du bist auserwählt. Deshalb sollst du dich auch anders kleiden als die anderen. Denk daran, daß alle die anderen Kinder verloren sind.

Aber ich wollte so gerne mit Mette beisammen sein. Sie war nett und ihr schien es nicht als etwas so Besonderes, daß ich einen langen Rock anhatte. - Die Leute können jetzt anziehen, was sie wollen, sagte sie.

Aber ich kann Mamma nicht sagen, daß ich Mette mag, denn sie hat kurzes Haar und trägt Hosen.

12.
Einmal fragte mich eine Lehrerin, was wir daheim machten, wenn es richtig gemütlich sein sollte. Und das war nicht ironisch gemeint. Sie interessierte sich - für mich! Das war sehr seltsam, denn Mamma und Pappa sagten immer, die Menschen außerhalb interessierten sich für niemanden als für sich selbst.

13.
Als ich ging und Birkenreisig pflückte, wurde mein Kopf wie mit Baumwolle gefüllt. Einigemal fiel ich in Ohnmacht. Aber niemand weiß davon. Und Mamma schalt mich, weil ich so lange weg war. Da sagte ich, Gott wollte, daß ich das beste Birkenreisig finden sollte. Und das wuchs auf der anderen Seite des Waldes. Mamma und Pappa lächelten über das, was ich sagte, und da dachte ich, sie wollten mich vielleicht doch nicht schlagen.

14.
Es war so peinlich, das Schild um den Hals zu haben. "Ich war ungehorsam. Sprich nicht mir mir", stand darauf. Einmal "verlor" ich es in der Abwasch. Ich ließ es dort lange liegen. Als ich es wieder in die Hand nahm, war die Schrift unleserlich. Aber das half nicht. Sie machten eben ein Neues, und außerdem bekam ich einen Klebstreifen über den Mund als zusätzliche Erinnerung, daß ich Gott gehorsam sein sollte. Aber für Jacob war es viel schlimmer. Er mußte während mehrerer Wochen den Klebstreifen über dem Mund tragen. Nicht in der Nacht und nicht wenn wir aßen.

15.
Einige Damen von der Fürsorge sollten kommen und sehen, wie es bei uns war. Da wurde uns erlaubt, im größten Raum zu sein und dort alle Bücher anzusehen. Diese durften wir sonst nie ansehen. Und wir wußten, daß wir sagen sollten, wir könnten lesen, was wir wollten, und daß nur wir in diesem Haus wohnten. Es war zugleich unheimlich und ein Vergnügen, diese Damen zu täuschen.

16.
Als ich 15 Jahre alt war, erschwindelte ich mir eine Bibliothekskarte. Die Karte versteckte ich in der Bibel. Mamma und Pappa würden nie draufkommen, sie gerade dort zu suchen. Der, mit dem ich gemeinsam Geld sammeln ging, wußte darum, aber er sagte nichts. Auch er hatte Lust, die Bücher in der Bibliothek zu lesen. Aber er wagte es nicht. Er war sehr nett, denn er half mir, daß ich in die Bibliothek gehen konnte, ohne entdeckt zu werden.

17.
Als ich die Sekte verließ, fühlte ich mich gegenüber meinen Eltern illoyal. Gleichzeitig wurde ich isoliert und litt unter einem Mangel an Netzwerk. Es hing gleichsam in der Luft, daß Gott uns Abtrünnige strafen würde, und einige der Ausbrecher lösten dies so, indem sie jede christliche Lehre ablehnten. Selbst bin ich eher unentschlossen.

18.
Ich habe eine Botschaft an alle, die allein an einem entlegenen Ort sitzen müssen, an alle, die sich allein fühlen - im Aufruhr gegen strenge Bestimmungen, Regeln und Routinen, unangemessene Strafen für begangene Kinderstreiche - eine Botschaft an alle, die Angst haben, eine Glaubensgemeinschaft zu verlassen, die keinen Kontakt mit ihnen haben will, nachdem sie ausgetreten sind:

Gebt die Hoffnung nicht auf! Es kann hart sein, aber es ist möglich, daß es einem auch außerhalb sehr gut geht! Mit geht es nun sehr gut in meinem neuen Leben. Ich faßte meinen Mut zusammen und nahm nach mehreren Jahren ohne Kontakt mit meiner Mutter und mit meinem Vater wieder Kontakt auf. Es ging gut. Nun glaube ich wahrhaftig, daß sie sogar stolz darauf sind, daß es mir gelang, eine schöne Wohnung, einen festen Job und eine süße Liebste zu bekommen.

Ich ging nicht verloren, wie es mir erzählt wurde!