Allers 16/93, Seite 60 - 61: Meine eigene Geschichte.

Mein Bruder ertrug es nicht mehr - er erhängte sich auf dem Dachboden !

Die Sekte hat mir das Leben geraubt !

In diesem Lande, so wird behauptet, herrscht Religionsfreiheit, aber das gilt nicht für alle. Meine Eltern waren in einer strengen kleinen Sekte aktiv und fragten mich nie, was ich wollte. Mein Leben ist kein lebendiges Leben. Ich existiere nur - in ständiger Angst, wohin mich meine Sünden am jüngsten Tage führen werden.

Maria, eine Frau in den 30-ern, berichtet hier über die Tragödie, die sie miterleben mußte. Ihr Bruder, der ein freies Leben in der Natur liebte und der dort gerne fotografierte, besaß heimlich eine Kamera.

- Ich möchte gerne ein Vogel oder ein Tier sein, Maria, sagte er zu mir. - Stell dir vor, frei unter dem großen Sternenhimmel zu leben und frei zu sein ... immer frei !

Es war ganz sicher Gotteslästerung, sich so etwas zu wünschen, aber ich widersprach ihm nicht. Ich verstand ihn, und ich liebte ihn. Ich drückte ihn an mich, wenn er vor Wut, Machtlosigkeit und Verzweiflung weinte, und ich versuchte, ihn vor den schlimmsten Konfrontationen mit meinem Vater zu bewahren. Und da ich von meiner Samstagsarbeit genügend Geld beiseite gelegt hatte, kaufte ich ihm einen wirklich guten Fotoapparat. Ich wußte, das es sein größter Wunsch war, denn er wollte so gerne die Vögel in ihrer Freiheit da draußen fotografieren. Wir erwähnten das nicht unseren Eltern gegenüber, denn wir ahnten vielleicht, daß das nicht auf so gute Erde fallen würde. Aber es wurde schließlich entdeckt und führte zu einer Hölle ! Denn das Freiluftleben und Fotografieren führten seine Gedanken weg von Gott ! Das Ganze wurde in der "Gemeinde" zur Sprache gebracht und alle beteten für den "sündhaften Sohn" meines Vaters. Der Fotoapparat wurde ihm weggenommen, und an diesem Abend leuchtete der Haß offen in den Augen meines Bruders, aber ich glaube, daß nur ich es sah. Er schlich sich leise in mein Zimmer, als es im Hause ruhig geworden war. Ich hatte mich niedergelegt, und er setze sich auf die Kante meines Bettes und nahm meine Hand.

- Du bist der einzige Mensch, den ich liebe, Maria, sagte er leise.

- Danke dafür, daß du mir nahe warst, das war niemand anderer, nicht einmal Gott. Laß sie dich nicht kaputtmachen, große Schwester. Schau die Vögel an. Sie schweben da oben in der großen Stille und sind dem Himmel und Gott näher als wir es jemals waren. Lerne fliegen, Maria !

Er war weg, bevor ich etwas sagen konnte, und am nächsten Morgen war er tot. Er hatte sich oben auf dem Dachboden erhängt ...

Maria schafft dennoch den Ausstieg nicht. Sie wird Lehrerin, verfällt in ihrer grenzenlosen unerfüllten Sehnsucht nach Liebe dem neuen Rektor der Schule, bis sie draufkommt, daß dieser mehrere Freundinnen hat. Ihr psychischer Zusammenbruch wird fehlinterpretiert:

Mein Vater meinte, es käme wahrscheinlich davon, daß ich zuviel an die Schule und zu wenig an Gott dachte. Ich sollte in der Schule aufhören und mein Leben Gott und der Gemeinde weihen !

In erschütternder Weise berichtet Maria weiter, wie sie von ihrem Vater in eine Ehe gezwungen wurde:

Ich habe nun wohl fünf Jahre in der Ehe gelebt. Ja, gelebt ... ich lebe nie ! Ich existiere nur. Ich bin die gute, prächtige Maria, die sich um ihren Mann kümmert, mit ihm Tisch und Bett teilt, ich fühle mich krank vor Machtlosigkeit, Abscheu und Angst. Ich bin niemand, denn die wirkliche, lebende Maria, die ich unter anderen Verhältnissen und Umständen hätte werden können, hat nie die Möglichkeit erhalten, zu leben und sich zu entfalten. Ich fühle auf eine gewisse Weise, daß mir das Leben geraubt wurde, und wofür lebe ich dann ? Öfter und öfter schlich sich der Gedanke im letzten Halbjahr in mich hinein ... wozu lebe ich ? Vielleicht weil ich es nicht wage zu sterben, denn wer weiß, ob der stumme Gott sich an seinen Teil der Vereinbarung hält und mich nicht in der Hölle brennen läßt ?

Bisweilen denke ich, daß ich wegkommen muß ... ausbrechen aus diesem Leben und aus der Gefangenschaft, in der ich lebe. Ich bin erwachsen und ich habe eine Ausbildung. Ich könnte es auf eigenen Beinen schaffen. Aber dann sehe ich ein, daß das nicht so einfach ist. Dreißig Jahre im "Gefängnis" haben mich zerstört. Jahre mit Gehirnwäsche, Angst und Verschweigen haben das aufgebraucht, was ich an Selbstvertrauen, Mut und Lebenswille nötig gehabt hätte.

Mein Blick fällt auf ein Bild auf der Wand. Es zeigt einen Hühnerhabicht in majestätischem Schweben über einem entzückend schönen Herbstwald. Mein Bruder hatte das Bild aufgenommen, aber das weiß nur ich. Sonst würde es wohl nicht hier hängen dürfen. Ich fand es, als ich sein Zimmer nach der "Tragödie" aufräumte, und ich versteckte es ... wie einen Schatz. "Lerne fliegen, Maria", hatte er gesagt.

Aber niemand kann fliegen, wenn seine Flügel beschnitten sind.

Übersetzung und Kommentare: Friedrich Griess